Kommentar
10:10 Uhr, 16.09.2021

Chinas Lehman-Moment: Wiederholt Peking den Fehler der USA im Jahr 2008?

Im Nachhinein hat es sich als gravierender Fehler herausgestellt, dass Lehman Brothers nicht gerettet wurde. Die Lage war schon vor dem Bankrott angespannt. Danach ging es dann schnell und die Ereignisse überschlugen sich. Banken vertrauten sich nicht mehr. Banken waren damals jedoch darauf angewiesen, dass sie sich Geld von anderen Banken leihen können. Ohne einen funktionierenden Interbankenmarkt stand praktisch das ganze Finanzsystem vor dem Kollaps. Um diesen Kollaps abzuwenden, brauchte es weltweit Billionen an Garantien von Regierungen, um den Zusammenbruch von Banken zu verhindern. Die Kosten, um das System zu retten, waren am Ende wohl deutlich höher als die Kosten, die durch eine Rettung von Lehman Brothers angefallen wären. Dennoch war die Entscheidung im Vorfeld nicht so klar. Werden Banken in jedem Fall gerettet, gibt es nur einen geringen Anreiz für Risikokontrolle. Wird man im Ernstfall gerettet, maximiert man durch maximales Risiko die Rendite. Lehman wurde fallengelassen, um ein Exempel zu statuieren.

China steht nun vor einem ähnlichen Problem. Es kann den Immobilienentwickler China Evergrande Group retten oder ein Exempel statuieren. Seit Jahren versucht Peking den Auswüchsen aus ungebremsten Kreditwachstum entgegenzuwirken. Bisher wurden Unternehmen immer wieder gerettet.

Dadurch fühlen sich Investoren und Banken sicher. Im Wissen des Risikos wurden immer neue Kredite vergeben, denn im Ernstfall würde Peking schon einspringen… Um dieses Fehlverhalten endgültig zu unterbinden, braucht es eine schmerzhafte Erfahrung. Man lässt wie Lehman Brothers ein Unternehmen fallen.

Das ist nicht ohne Risiko. Im Nachhinein hätten alle die Finanzkrise gerne vermieden. Wie sich Peking entscheidet, weiß niemand. Das Problem ist jedoch gigantisch und komplex. Bereits seit 2018 verlangen chinesische Behörden von Evergrande eine Umstrukturierung und Reduktion der Verschuldung.

Durch die Vorgaben begann das Wachstum zu stocken. Der Umsatz stagniert seit 2018 bzw. ist rückläufig. Der Gewinn stagniert nicht, sondern bricht regelrecht ein (Grafik 1). Das ist ein durchaus typisches Phänomen. Solange die Bilanz durch immer mehr Kredit ausgeweitet werden kann, sprudelt der Gewinn. Hört der Prozess auf, kollabiert alles.

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Trotz allem hat Evergrande im ersten Halbjahr 2021 noch einen Gewinn ausgewiesen, der bei 1,5 Mrd. Dollar lag. Wie kann es da sein, dass von einer drohenden Insolvenz gesprochen wird?

Das Problem ist die Bilanz. Evergrande ist rasant gewachsen. Noch 2006 lag die Bilanzsumme bei weniger als 1 Mrd. Dollar. Heute sind es über 300 Mrd. (Grafik 2). Die Vermögenswerte sind dabei theoretisch höher als die Schulden. Die Vermögenswerte bestehen jedoch größtenteils aus Immobilien in Entwicklung.

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Diese Immobilien sind noch nicht fertiggestellt. Es handelt sich um Projekte. Über eine Million Wohneinheiten befinden sich in Entwicklung. Solange diese Einheiten jedoch nicht fertiggestellt sind, darf man den Wert hinterfragen.

Evergrande hat inzwischen ein so großes Liquiditätsproblem, dass es Immobilien und Projekte mit Preisnachlässen von 30 % verkauft. Das dürfte die Kosten nicht decken und das Problem fehlender Geldmittel langfristig nur verschärfen. Trotzdem wird mit großen Discounts versucht, Geld in die Kassen zu spülen. Können kurzfristige Löcher nicht gestopft werden, muss man sich über die langfristigen Folgen gar keine Gedanken mehr machen, weil das Unternehmen bis dahin bereits insolvent ist.

Nun kann man nicht einfach die Schulden des Konzerns reduzieren, indem man Schulden streicht. Von den Gesamtverbindlichkeiten in der Höhe von ca. 300 Mrd. Dollar entfallen lediglich ein Drittel auf Kredite und Anleihen von Banken und Investoren (Grafik 3). Der weitaus größere Teil entfällt auf Lieferanten und Kunden.

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Kunden leisten Anzahlungen für die noch zu entwickelnden Immobilien. Dafür nehmen sie Hypotheken bei Banken auf. Garantiert werden diese Hypotheken von Evergrande. Es muss die Hypotheken zurückzahlen, wenn eine Immobilie nicht fertiggestellt wird. Nun hat Evergrande jedoch kein Geld mehr. Die Garantien sind wertlos.

Für Kunden bedeutet das, dass sie auf der Hypothek sitzen bleiben, ohne dafür eine Immobilie zu erhalten. Daher ist verständlich, wenn es Demonstrationen am Hauptsitz von Evergrande gibt.

Ein noch größeres Problem sind die Lieferanten, also jene, die Bauteile liefern oder die tatsächliche Bautätigkeit vornehmen. Diese Verbindlichkeiten aus Lieferungen und Leistungen liegen bei 150 Mrd. Dollar. Da Evergrande so viel Geld schuldet, werden Immobilien nicht mehr fertiggestellt. Dadurch muss Evergrande theoretisch für immer mehr Hypotheken geradestehen, was die Situation verschlimmert.

Ein Bankrott von Evergrande führt bei Lieferanten zu horrenden Verlusten. Viele dürften bei einem Zahlungsausfall selbst vom Bankrott bedroht sein. Im schlimmsten Fall sind über 3 Mio. Jobs betroffen. Hinzu kommen viele Kunden von Evergrande, die auf ihre Immobilie warten. Ein Bankrott wäre ein großer Schock für die Realwirtschaft.

Auch Banken wären betroffen. Die Kreditausfälle wären aber zunächst verkraftbar. Die Lawine, die losgetreten wird, ist es nicht mehr. Fällt Evergrande in sich zusammen, drohen dem ganzen Immobilienmarkt Verwerfungen. Beginnen Immobilienpreise erst zu sinken, gepaart mit Massenarbeitslosigkeit im Bausektor, werden immer mehr Haushalte Hypotheken nicht mehr bedienen können. Am Ende ist also auch das Bankensystem bedroht.

China erlebt einen Lehman-Moment. Es muss sich entscheiden, ob es die hohen Kosten eines Bankrotts im Nachgang auffängt und dafür ein Exempel statuiert, oder die Katastrophe von vornherein verhindert.

Clemens Schmale


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    Es wird doch immer nach dem Moment gesucht, dies könnte der Moment für die nächste globale Korrektur sein. Und am Ende waren die Chinesen dran Schuld, würde doch in die aktuelle westliche Rethorik passen.

    10:34 Uhr, 16.09.2021

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Über den Experten

Clemens Schmale
Clemens Schmale
Finanzmarktanalyst

Clemens Schmale hat seinen persönlichen Handelsstil seit den 1990er Jahren an der Börse entwickelt.

Dieser gründet auf zwei Säulen: ein anderer Analyseansatz und andere Basiswerte. Mit anders ist vor allem die Kombination aus Global Makro, fundamentaler Analyse und Chartanalyse sowie Zukunftstrends gemeint. Während Fundamentaldaten und Makrotrends bestimmen, was konkret gehandelt wird, verlässt sich Schmale beim Timing auf die Chartanalyse. Er handelt alle Anlageklassen, wobei er sich größtenteils auf Werte konzentriert, die nicht „Mainstream“ sind. Diese Märkte sind weniger effizient als andere und ermöglichen so hohes Renditepotenzial. Sie sind damit allerdings auch spekulativer als hochliquide Märkte. Die Haltedauer einzelner Positionen variiert nach Anlageklasse, beträgt jedoch meist mehrere Tage, oft auch Wochen oder Monate.

Rohstoffe, Währungen und Volatilität handelt er aktiv, in Aktien und Anleihen investiert er eher langfristig. Die Basiswerte werden direkt – auch über Futures – oder über CFDs gehandelt, in Ausnahmefällen über Optionen und Zertifikate.

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