Wissensartikel
12:16 Uhr, 28.11.2014

Werkzeuge für die Sektorenanalyse

Die relative Stärke ist ein wesentliches Werkzeug bei der Sektorenanalyse. Sie kann in verschiedener Form visualisiert und sinnvoll genutzt werden, um Fragen zu beantworten wie: „Welcher Sektor schlägt den Markt?“, „Welcher Einzelwert in einem Sektor ist besonders aussichtsreich?“

Sektoren - Begriffsbestimmung in der Theorie…

Auf der Suche nach der Überrendite fragen sich viele Investoren ob es nicht bestimmte Industrien, Sektoren oder Branchen gibt, die bessere Ergebnisse liefern als der Marktdurchschnitt. Zunächst muss festgehalten werden, dass eine Unterhaltung über „Sektoren“ eine Definition des Begriffes selbst erfordert. Und hier wird es bereits schwierig. Es gibt zwei internationale Klassifikationsschemata, die man kennen sollte. Der ICB (Industry Classification Benchmark) – von Dow Jones und FTSE International - und der GICS (Global Industry Classification Standard) von MSCI und S&P. Der ICB nutzt eine Taxonomie, welche weltweit über 75.000 Aktienunternehmen in 10 industries, 19 supersectors, 41 sectors und 114 subsectors einteilt (Quellenangabe). CIGS verwendet eine Unterteilung in 10 sectors als oberste Hierarchieschicht, gefolgt von 24 industry groups, 68 industries und 154 sub-industries (Quellenangabe). Hier zeigt sich schon die Problematik der unterschiedlichen semantischen Deutungen: Während der ICB als oberste Hierarchie „industry“ kennt, wird dieser Begriff beim CIGS für die zweite Hierarchieschicht benutzt. Die Problematik der Übersetzung bringt weitere Schwierigkeiten mit sich. Schon die Zuordnung des üblichen, deutschen Begriffs der „Branche“ ist problematisch. Ist damit „industry“ oder „sector“ oder etwas anderes gemeint?

… und in der Praxis

Erfreulicherweise stellt sich der Sachverhalt in der Praxis etwas einfacher dar, denn wir können das Pferd sozusagen von hinten aufzäumen. Schließlich soll investiert und gehandelt werden. Daher ist die Frage zu stellen: Auf welche Sektorenstrukturen werden Finanzprodukte und Derivate angeboten?

Für den europäischen Raum ist hier insbesondere die Einteilung der STOXX Europe 600 nach ICB in 19 supersectors relevant. Im Folgenden soll daher statt „supersector“ schlicht der Begriff Sektor verwendet werden.

Beispielsweise gibt es für den Sektor „STOXX® Europe 600 Banks“(ISIN EU0009658806) über 100 Derivate. Von 1:1 abbildenden Partizipationszertifikaten über CALL-Optionsscheine bis zu PUT-Hebelzertifikaten. Hiermit lässt sich also eine Vielzahl von Strategien implementieren.

Es soll abschließend noch auf eine weitere Komplexität hingewiesen werden: Indexberechnungen für einen Sektor erfolgen zumeist in mehreren Varianten. Im Falles der STOXX-Sektoren ist insbesondere die Unterscheidung zwischen Kursindex (englisch: price index) und Performanceindex (englisch: return index) von Bedeutung. Weiterhin wird die europäische Sektoren-Indexfamilie nicht nur für die EU (also mit Aktien aus CH, UK, et al) sondern auch in einer Variante „Eurozone“ (nur Euro-Währungsländer) angeboten. Daher achten Sie immer genau darauf, welche Indexproduktvariante sie in der technischen Analyse betrachten und welche die Basis für ein Derivat bildet.

Die relative Stärke im Vergleichschart

STOXX Europe 600 Banks – Bankensektor relativ zum Markt – langfristig

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Im Vergleichschart über acht Jahre zeigen sich deutlich die Schwäche- aber auch die Erholungsphasen des Bankensektors. Steht ein Ausbruch bevor?

Zunächst ist es notwendig mehrere Kursverläufe in einem Chart anzuzeigen. Die hier genutzte Software guidants normiert automatisch auf den Startpunkt der betrachteten Zeitperiode und erlaubt somit an der rechten Skala das direkte Ablesen der Kursentwicklung in Prozentpunkten.

Betrachten wir das Hauptchart in Abbildung 1, so zeigt sich mit bloßem Auge, dass der Bankensektor deutlich schwächer abschneidet, als der Benchmark EURO STOXX 50. Jedoch ist es eher schwierig genau zu erkennen, in welchen Zeiträumen zwischenzeitlich Erholungen stattfanden.

Das zentrale Werkzeug für die Analyse von Sektoren ist die relative Stärke. Die einfache relative Stärke ist der Quotient A:B aus zwei zu vergleichenden Werten. Ein Indikator der den Quotient berechnet steht in den meisten Chart-Software Systemen zur Verfügung (häufig auch unter dem Begriff „Ratio“-Indikator).

Das Subchart zeigt die einfache relative Stärke Bankensektor:EURO STOXX 50. Dieses Liniendiagramm lässt sich nun genauer analysieren:

  • Die Schwäche- und die Erholungsphasen des Bankensektors sind 2009 und 2011/2012 gut zu erkennen
  • Der große relative Schwächetrend seit Ende 2007 wurde Ende 2013 beendet
  • Seither entwickelt sich der Sektor in Bezug auf die relative Stärke gleichauf mit dem Gesamtmarkt. Ein Ausbruch mit neuer relativer Stärke wäre möglich.

Was bei der Betrachtung von zwei Liniengrafiken noch recht übersichtlich erscheint wird schwierig, wenn wir viele Liniencharts vergleichen wollen.

Wie vergleichen wir beispielsweise alle 19 europäischen Sektoren? Wie gehen wir vor, wenn wir innerhalb eines Sektors erfolgversprechende Einzelwerte finden wollen?

Für derartige „Big Data“ Fragestellungen eignen sich Matrixdarstellungen.

Vergleich der relativen Stärke in der Matrixdarstellung

STOXX Europe 600 – Sektorenentwicklung im Vergleich

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In einer Matrixdarstellung wird die relative Stärke in zwei Zeiträumen abgetragen. Welche Sektoren schlagen den Benchmark dauerhaft? Welche zeigen relative Schwäche?

Die Matrixdarstellung zeigt die Entwicklung der relativen Stärke über zwei Zeiträume jeweils relativ zum Benchmark, der als mittiger Ankerpunkt dient. In Abbildung 2 sind die Zeiträume: 3 Monate und 1 Jahr als Parameter eingestellt. Als Benchmark dient der EURO STOXX 50.

Während der EURO STOXX 50 auf Jahressicht etwa 4 % zulegen konnte und auf Sicht von drei Monaten rund 5 % verlor, kann der Gesundheitssektor den Benchmark in beiden Zeiträumen deutlich schlagen und zeigt somit anhaltende relative Stärke.

Sektoren die den Benchmark über beide Zeiträume schlagen konnten finden sich im „Gewinnerquadrant“ rechts-oben (grün). Im „Verliererquadrant“ unten-links (rot) schneiden die Sektoren hingegen über beide Zeiträume schlechter ab.

Je nach Einstellung des Zeitraumes ergibt sich natürlich ein unterschiedliches Streubild. Die Suche nach Sektoren, die über viele Jahre dauerhaft den Markt-Benchmark schlagen, kann zum Erfolg führen – dies gelang beispielsweise dem europäischen Gesundheitssektor. Andere Sektoren zeigen chronische Schwäche: Hier wäre beispielsweise der Handel ein typischer Kandidat.

Den Wechsel der relativen Stärke nutzen

Doch insbesondere in kürzeren Zeiträumen findet eine Sektorrotation statt: Phasen der relativen Stärke und Schwäche wechseln sich ab. Aktien – und Sektoren – zeigten sich in manchen Zeiträumen besonders stark, in anderen Zeiträumen verlieren sie jedoch ihre relative Stärke. Dieses Verhalten ist insbesondere für den Positionshandel von Interesse.

In einer Matrixdarstellung bei welcher der lange Zeitraum auf der x-Achse und der kürzere Zeitraum auf der y-Achse abgetragen ist gilt: Tendenziell findet eine Rotation im Uhrzeigersinn statt, die den Wechsel von relativer Stärke und Schwäche beschreibt.

In Abbildung 2 hat daher der Bankensektor eine interessante Ausgangsposition: Er liegt zwar auf Jahressicht fast gleichauf wie der Benchmark, doch konnte er in den letzten drei Monaten neue relative Stärke entwickeln. Kann er diese weiter ausbauen so würde er in den „Gewinnerquadranten“ wandern. Der Wechsel von einem Quadranten in einen anderen verdient besondere Beachtung aufgrund der Tendenz die relative Stärke- bzw. Schwächephase fortzuführen.

STOXX Europe 600 Utilities - Einzelwerte

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Positionierung der Einzelaktien im Sektor Utilities. Wie sind E.ON und Verbund positioniert?

Betrachten wir abschließend die Einzelaktien eines Sektors.

Durch die typische Rechtsrotation sind vor allen Titel interessant, die ihre starke Schwächephase (unten, links) überwunden haben und neue Stärke aufgebaut haben.

Bei der Interpretation der Daten schlägt sich die persönliche Anlagestrategie nieder. Trendfolger fokussieren auf die Fortsetzung bereits langfristig vorhandener Stärke (oben, rechts) oder von Werten die zumindest im kürzeren Zeitraum neue Stärke aufbauen konnten (oben, links). Antizyklische Ansätze betrachten hingegen mit großen Interesse das Aufkeimen neuer relativer Stärke bei Titeln die zuvor stark gefallen sind (auch: unterer, linker Quadrant).

Bei Betrachtung von Abbildung 3 zeigt sich: Über die Zeiträume 1 Jahr und 3 Monate wäre für Trendfolger eine National Grid interessant. Die jüngste relative Stärke könnte sich fortsetzen. Aggressivere Ansätze verfolgen eine E.ON, wenn sie sich aus dem Verliererquadrant lösen und nach oben rotieren kann. Auch die österreichische Verbund AG hat zwar auf Jahressicht bisher schlechter abgeschnitten als der EURO STOXX 50, konnte in den letzten Monaten jedoch den Markt deutlich schlagen.

Bei regelmäßiger Betrachtung der Matrix-Diagramme wird die Rechtsrotation nachvollziehbar. In der Praxis ist zur Verfolgung interessanter Kandidaten eine Routine sinnvoll – beispielsweise die wöchentliche Durchsicht der Sektoren.

Fazit

Die relative Stärke – gleich in welcher grafischen Darstellung – ist ein wesentliches Werkzeug bei der Sektorenanalyse. Sie dient als Informationsquelle zusätzlich zur Einzel-Analyse des betrachteten Sektors oder der betrachteten Einzelwerte. Das einfache Chartdiagramm, welches zwei oder mehr Preiskurven vergleichend darstellt, gibt einen ersten Eindruck, jedoch empfiehlt sich für die Analyse eine genaue Betrachtung der relativen Stärke in Form des Quotienten A:B als eigenständiges Subchart.

Für die vergleichende Betrachtung vieler Werte – sei es eine Vielzahl von Sektoren oder eine Vielzahl von Einzelaktien innerhalb eines ausgewählten Sektors – empfiehlt sich eine Matrixdarstellung basierend auf der relativen Stärke. Die relative Stärke oszilliert nicht zufällig, sondern wechselt zwischen steigenden und fallenden Phasen. Dies führt – über die Zeit betrachtet – zu einer Rotation der Datenpunkte in einer Matrixdarstellung.

Weiterführende Fragestellungen der Analyse ergeben sind insbesondere im Hinblick auf die Einstellung der Zeitparameter an den Achsen. Gibt es besondere Zeitzyklen in welchen die relative Stärke und Schwäche schwankt? Unterscheiden sich diese Zyklen innerhalb verschiedener großer Marktphasen, wie Aufwärts-, Abwärts- und Seitwärtstrend?

Reinhard Scholl lädt Sie ganz herzlich ein, seinen Experten-Desktop (=ein interaktiver Blog) unter http://go.guidants.com/#c/reinhard_scholl zu lesen. Hier können Sie dem Autor auch Fragen stellen.

(geschrieben von Reinhard Scholl)

1 Kommentar

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  • student
    student

    ​Lieber Herr Scholl,

    ihren Artikel finde ich ganz große Klasse. Weiter so. :-)))

    Viele Grüße

    23:10 Uhr, 28.11.2014

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