Kommentar
15:26 Uhr, 27.10.2004

Zurück in die Siebziger?

Volkswirte und Anleger gehen zunehmend davon aus, dass wir uns wieder auf die 70-er Jahre zu bewegen. Während sich viele an die dubiosen Moden diese Ära erinnern, bestand das konjunkturelle Umfeld einer Stagflation: Inflation und Arbeitslosigkeit stiegen erheblich an. Der Auslöser für derartige Erinnerungen ist der hohe Ölpreis, der im gesamten Jahresverlauf angestiegen ist und - wie wir in der Vorwoche erläuterten - die Weltwirtschaft erschüttert.

Natürlich bestehen Unterschiede: Der Ölschock ist schwächer als in den 70-ern, die Weltwirt-schaft hängt - gemessen am Anteil des Öls am BIP - nun weniger vom Öl ab, und der jüngste Preisanstieg beruht auf der starken Nachfrage und weniger auf einer Senkung des Ölangebots. Dies sind alles Gründe, um relativ entspannt zu sein, und stimmt mit der Sicht überein, die US-Notenbankchef Alan Greenspan am Wochenanfang äußerte.

Dennoch entspricht laut Greenspan der höhere Wert des importierten Öls für die US-Bürger einer Steuer von etwa einem dreiviertel Prozent des BIP. In den stärker energieintensiven Teilen der Welt, z.B. in China und Indien, ist die "Ölsteuer" fast doppelt so hoch. Den Anlegern stellt sich die Frage, wer den höheren Ölpreis letztendlich bezahlt.

Offensichtlich sind Länder ohne eigene Ölvorkommen am schlimmsten betroffen; ihre Terms of Trade verschlechtern sich: Die ölabhängigen Staaten Asiens und der Eurozone leiden am stärksten. Für Großbritannien ergeben sich geringere Folgen, Gewinner sind die ölproduzierenden Staaten. Allerdings bezahlt jeder den höheren Preis an der Zapfsäule, und wir sind besorgt darüber, ob die Möglichkeit besteht, dass die Wirtschaftssubjekte diese Kosten auf andere abwälzen. Mit anderen Worten: wir sind mehr besorgt über die Gewinner und Verlierer innerhalb der Volkswirtschaften, und weniger darüber, wie diese Gewinne über den Globus verteilt werden.

Hier stehen wir am Scheideweg

Es gibt zwei Richtungen, die die Volkswirtschaften einschlagen können; in beiden Fällen schultert erst einmal der Verbraucher die Last des Ölpreisanstiegs. Im ersten Szenario fordert der Verbraucher als Ausgleich höhere Löhne. Die Unternehmen gehen darauf ein und schlagen die höheren Kosten auf die Preise auf - sie verursachen so einen Inflationsanstieg auf breiter Front. Dies kann sich zu einer Lohn-Preis-Spirale entwickeln. Im zweiten Szenario verweigern die Unternehmen höhere Löhne bzw. die Arbeitnehmer fordern keine Erhöhungen. Folglich bewirkt der Anstieg des Ölpreises, dass der Verbraucher weniger Geld für andere Güter ausgeben kann und belastet die nicht in der Ölbranche tätigen Wirtschaftsbereiche. Im Ergebnis führt dies zu einem unveränderten allgemeinen Preisniveau; die Inflationsrate ist nicht betroffen. Es haben sich nur die Preise untereinander verändert.

Für uns hat es den Anschein als würde das aktuelle Umfeld mehr zum zweiten als zum ersten Szenario tendieren. Löhne und Gehälter stiegen nicht übermäßig an, und die nahe am Verbraucher aufgestellten Unternehmen klagen über fehlende Preismacht. Da diese Zweitrundeneffekte kaum auftreten, können wir von einer relativen Preisverschiebung, nicht von einem allgemeinen Preisanstieg ausgehen. Dies wird von zwei fundamentalen Faktoren unterlegt.

Erstens verfügt die Weltwirtschaft noch über freie Kapazitäten. Trotz der anziehenden Weltkonjunktur bleibt die Kapazitätsauslastung der Industrie unter dem Durchschnitt. Dagegen herrscht an den Arbeitsmärkten weitgehend Flaute. Diese Faktoren können im Zusammenhang mit der Produktionslücke gesehen werden, d.h. mit dem Volumen, mit dem die Volkswirtschaften unter dem Trend liegen. Die Schätzungen der OECD weisen für die meisten Volkswirtschaften dafür ein Volumen von etwa 1% des BIP aus. In einer derartigen Lage müssen die Unternehmen die Preise wettbewerbsfähig halten, oder andere werden ihren Marktanteil übernehmen, und die Arbeitnehmer haben eine schwache Verhandlungsposition. Dies steht im Gegensatz zur Lage in den 70-er Jahren, als der OPEC Ölpreisschock auftrat. Damals arbeitete die Weltwirtschaft über der Kapazitätsgrenze. Dies förderte die Lohn-Preis-Spirale, die die Inflation in Volkswirtschaften wie z.B. Großbritannien auf bis zu 25% trieb. Heute haben wir eine andere Situation. Fraglos setzt die von uns verwendete Messgröße der Produktionslücke die in der Weltwirtschaft vorhandene Kapazität zu gering an und berücksichtigt nicht China. In wirtschaftlicher Hinsicht war China in den 70-ern kaum existent. Heute ist China einer der Protagonisten und für die Weltwirtschaft eine Bezugsquelle für Handelsware - und vergrößert so die globale Produktionslücke.

Der zweite Faktor ist die Glaubwürdigkeit der wirtschaftspolitischen Entscheidungsträger. In den 70-ern verfügten die Zentralbanken wegen des Zusammenbruchs des Abkommens von Bretton Woods über keine glaubwürdige Wirtschaftspolitik, und bei der Inflationsbekämpfung kam es zu Fehlern. Der Vietnam-Krieg und die Politik der damaligen US-Regierung - sie wollte Kanonen und Butter - verschärfte noch die Lage. Heute sind die Zentralbanken bei der Inflationsbekämpfung weitaus glaubwürdiger. Die Menschen erwarten nicht, dass die Zentralbanken die Inflation gewähren lassen, und dies, sowie die wirtschaftliche Realität des globalen Wettbewerbs, führt dazu, dass die Arbeitnehmer keine übermäßigen Löhne fordern. Die Inflationserwartungen sind fest verankert.

Diese beiden Faktoren bedeuten, dass sich dieser Ölpreis-Schock bei allen Gemeinsamkeiten nicht so stark auf die Weltwirtschaft auswirken wird wie in der Vergangenheit. Heute dominiert das Desinflationsszenario, das von einer Verschiebung der relativen Preise und nicht von einem allgemeinen Inflationsanstieg gekennzeichnet ist. In diesem Stadium hat es den Anschein, als würde der Unternehmenssektor die Hauptlast des Ölpreisschocks schultern, da die Gewinnmargen zwischen den höheren Kosten und der geringen Preismacht zusammengedrückt werden. Auf der positiven Seite steht, dass die Zentralbanken die Geldpolitik nicht verschärfen müssen, um den Inflationserwartungen entgegen zu wirken. Wenn überhaupt, könnten sie sogar den Preisanstieg mit einer lockeren Geldpolitik dämpfen. Die 70-er Jahre mit ihren Tank Tops und Plateau-Schuhen können in der Vergangenheit verblassen.

Quelle: Schroders

Die Schroders-Gruppe ist eine führende internationale Vermögensverwaltungsgesellschaft, die 1804 gegründet wurde. Schroders verwaltet Anlagen für Pensionsfonds, Regierungsbehörden, Wohltätigkeitsorganisationen, Körperschaften, Familienunternehmen und vermögende Privatpersonen weltweit und ist ein führender Verwalter von Investmentfonds. Schroders bietet Anlagen in allen wichtigen Vermögenskategorien in entwickelten Ländern und Schwellenländern an: Aktien, Schuldtitel, Geldmarktinstrumente, Beteiligungen und Immobilien. Das weltweit verwaltete Vermögen betrug zum 31. März 2004 rund 147,9 Mrd. Euro.

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