Kommentar
14:14 Uhr, 21.03.2022

Wer traut dem Ölpreis?

Erst schnellt der Ölpreis auf mehr als 130 Dollar nach oben, bricht dann auf 97 Dollar ein und gewinnt gleich wieder über 10%. Welcher Preis ist korrekt bzw. wo sollte der Ölpreis stehen?

Die extreme Volatilität des Ölpreises hat eine klare Aussage für Anleger: Der Markt weiß selbst nicht, wo der Preis stehen sollte. Die Unentschlossenheit ist nachvollziehbar. Jeden Tag gibt es neue Wendungen. Zu Beginn des Krieges hielten die meisten (ich gehörte dazu) Ölsanktionen für unwahrscheinlich.

Selbst im Kalten Krieg und allen Krisen wurden weiterhin Öl und Gas aus Russland geliefert und der Westen kaufte es. Ein Preis in der Nähe des bisherigen Allzeithochs erschien da unrealistisch. Dann kamen Sanktionen, die in ihrer Reichweite unerwartet waren. Das Einfrieren der Devisenreserven Russlands war ein radikaler Schritt, der plötzlich die Augen dafür öffnete, dass auch Ölsanktionen denkbar sind. Der Preis explodierte.

Kurz darauf wurde klar: Europa wird auf russische Energierohstoffe nicht verzichten (können). Der Preis sackte in sich zusammen. Nun aber wird der Krieg immer länger und blutiger. Der Westen kann sich am Ende doch dazu gedrängt sehen, Öl und Gas zu sanktionieren, egal wie schmerzhaft es wirtschaftlich wird.

Russland ist der zweitgrößte Ölexporteur der Welt (Grafik 1). Mit mehr als 4,5 Mio. Barrel an Exporten pro Tag kann der globale Markt nicht auf das Öl verzichten. Russland stellt fast 10 % der globalen Ölversorgung und der Markt befindet sich in einem fragilen Gleichgewicht.

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Bereits kleinere Ungleichgewichte zwischen Angebot und Nachfrage können zu großen Preissprüngen führen. Das war 2008 und 2011 der Fall. Die Nachfrage überstieg das Angebot um weniger als 2 Mio. Barrel/Tag. Der Preis stieg in einem Fall von 60 auf 140 Dollar und im zweiten Fall von 70 auf 120 Dollar (Grafik 2).

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Der umgekehrte Fall gilt auch. Die Produktion überstieg das Angebot in den Jahren 2014 und 2015. Der Preis fiel um 70 %. Ähnlich war es zu Beginn der Pandemie. Würden dem Weltmarkt nun 4,5 Mio. Barrel Öl fehlen, entstünde das größte Ungleichgewicht seit Jahrzehnten. Ein Preis von 110 oder selbst 140 Dollar wird dem nicht gerecht. Man muss schon über 200 Dollar nachdenken.

Der jüngste Ausblick (veröffentlicht am 8. März) der US-Energiebehörde sieht weiterhin ein Gleichgewicht. Der Ausblick ist in Grafik 2 enthalten. Ob die jüngsten Entwicklungen voll berücksichtigt sind, lässt sich hinterfragen. Dennoch: Behält die Behörde Recht, gibt es keinen Grund für dreistellige Preise.

Einen Haken hat die Sache. Obwohl offiziell nur die USA und Großbritannien kein russisches Öl mehr importieren, will niemand mehr russisches Öl haben. Russisches Öl ist zu Schnäppchenpreisen zu haben. Es handelte zuletzt 30 tiefer als Brent (Grafik 3). Ob offizielle Sanktionen oder nicht, dem Markt wird ein Teil der 4,5 Mio. Barrel fehlen, weil sie einfach nicht mehr gekauft werden. Die Folge ist nicht anders als bei offizieller Sanktionierung. Das wird sich auch bei einem Ende des Krieges nicht so schnell ändern.

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Der Preis wird volatil bleiben und auf das Tagesgeschehen reagieren. Dahinter deutet sich ein strukturelles Defizit an, da freiwillig auf russisches Öl verzichtet wird. Zumindest kurz- bis mittelfristig dürfte der Preis überdurchschnittlich hoch bleiben.


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1 Kommentar

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  • chitaye
    chitaye

    Hallo, ich frage mich, ob der Ölpreis nicht fallen müsste. Überall werden die Kapazitäten hochgefahren, es gibt dann also mehr Öl. Dass vom Westen nicht gekaufte Öl Russlands würde von China gekauft und so die Nachfrage Chinas bei anderen Ländern sinken. Dieses Öl steht dann wiederum den russisches Öl boykottierenden Ländern zur Verfügung. Oder wo ist der Gedankenfehler? Langlaufende Lieferverträge vielleicht?

    15:17 Uhr, 21.03.2022

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Über den Experten

Clemens Schmale
Clemens Schmale
Finanzmarktanalyst

Clemens Schmale hat seinen persönlichen Handelsstil seit den 1990er Jahren an der Börse entwickelt.

Dieser gründet auf zwei Säulen: ein anderer Analyseansatz und andere Basiswerte. Mit anders ist vor allem die Kombination aus Global Makro, fundamentaler Analyse und Chartanalyse sowie Zukunftstrends gemeint. Während Fundamentaldaten und Makrotrends bestimmen, was konkret gehandelt wird, verlässt sich Schmale beim Timing auf die Chartanalyse. Er handelt alle Anlageklassen, wobei er sich größtenteils auf Werte konzentriert, die nicht „Mainstream“ sind. Diese Märkte sind weniger effizient als andere und ermöglichen so hohes Renditepotenzial. Sie sind damit allerdings auch spekulativer als hochliquide Märkte. Die Haltedauer einzelner Positionen variiert nach Anlageklasse, beträgt jedoch meist mehrere Tage, oft auch Wochen oder Monate.

Rohstoffe, Währungen und Volatilität handelt er aktiv, in Aktien und Anleihen investiert er eher langfristig. Die Basiswerte werden direkt – auch über Futures – oder über CFDs gehandelt, in Ausnahmefällen über Optionen und Zertifikate.

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