Wahlen in Frankreich: Halb so wild
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In Kürze:
- Dass es keinen klaren Wahlsieger gab, hat positive wie negative Aspekte. Die Märkte werden es positiv bewerten, dass kein Bündnis mit extremeren Positionen die Mehrheit erlangt hat. Negativ: in Ermangelung eines klaren Siegers wird das Parlament erst noch lernen müssen, von formellen oder informellen Koalitionen regiert zu werden.
- Am Sonntag hat Macron‘s Essemble stärker und Rassemblement National schwächer als erwartet abgeschnitten und innerhalb des linken Bündnisses Nouveau Front Populaire gab es eine Verschiebung hin zu zentristischeren Abgeordneten. Das sollte insgesamt bedeuten, dass es keine klare Opposition zu Macrons proeuropäischem Kurs gibt.
- Die Märkte werden zunächst wenig mit diesen Ergebnissen anfangen können, da zunächst keine radikale Abkehr von der aktuellen Politik zu erwarten ist. Es bleibt abzuwarten, ob Macron anerkennt, dass die Wähler nicht für ihn, sondern gegen den RN gestimmt haben.
Mehr Evolution als Revolution
Die Beurteilung des Ergebnisses der zweiten Runde der französischen Parlamentswahlen aus Marktperspektive hängt wahrscheinlich von zwei Dingen ab: 1: Dem gewählten Bezugspunkt: Frankreich vor zwei Jahren, Frankreich vor zwei Monaten, Frankreich nach der Europawahl, Frankreich nach Emmanuel Macrons überraschendem Aufruf zu Neuwahlen, Frankreich nach der ersten Wahlrunde am 30. Juni oder Frankreich laut Meinungsumfragen vom vergangenen Samstag. 2: Dem Anlagehorizont. Zum ersten Punkt: Der Höhepunkt der Unsicherheit war zweifellos der Tag, an dem Macron Neuwahlen ausrief. Die Geschwindigkeit, mit der ein linkes Bündnis gebildet wurde, und die Ergebnisse des Rassemblement National (RN) haben die Unsicherheiten nicht gemindert. Gemessen an dem, was einige Marktteilnehmer für möglich gehalten haben, könnte man das Ergebnis der gestrigen Wahl also wie folgt beschreiben: Das Schlimmste wurde vermieden. Man könnte sogar argumentieren, dass die Wähler eine erneute Präferenz für die politische Mitte gezeigt haben. Mittelfristig ist die französische Politik jedoch etwas weniger vorhersehbar geworden, da das Parlament (Assemblée Nationale, AN) ohne eine klare Mehrheit einer einzelnen Partei oder eines Bündnisses versuchen wird müssen, neue Wege zu finden, sich selbst – und das Land – zu regieren. Außerdem dürfte der RN sich wahrscheinlich nicht weniger ermutigt fühlen, weiter nach nationaler politischer Macht zu streben.
Bei genauerer Betrachtung der Ergebnisse ist festzustellen, dass Marine Le Pens RN weit davon entfernt ist, eine absolute Mehrheit von 289 oder mehr Sitzen in der AN zu gewinnen, sondern nur auf dem dritten Platz (143 Sitze) landet, ungefähr halb so viel, wie einige der enthusiastischeren Anhänger von Frau Le Pen erhofft und Marktteilnehmer befürchtet hatten (auch wenn der RN damit gegenüber früheren Wahlen deutlich zulegen konnte). Stattdessen hat sich die Allianz Nouveau Front Populaire (NFP) wohl 182 Sitze gesichert, was sie zum Wahlsieger macht. Dennoch ist auch sie damit mehr als 100 Sitze von einer Mehrheit entfernt. Emmanuel Macrons Ensemble wird mit 168 Sitzen voraussichtlich zwischen den beiden landen. Andere, meist Mitte-rechts-Kandidaten, die sich weigerten, sich mit dem RN zu verbünden, könnten auf rund 65 Sitze kommen. Dazu kommen noch weitere unabhängige, schwer einzuordnende Kandidaten kleinerer Parteien.
Oberflächlich betrachtet könnte eine derart fragmentierte politische Landschaft Frankreich unregierbar erscheinen lassen, insbesondere aufgrund des NFP-Programms, welches unter anderem die Wiedereinführung einer automatischen Inflationsanpassung der Löhne, die Wiedereinführung von Vermögenssteuern und die Senkung des Renteneintrittsalters auf 60 Jahre, nachdem es gerade erst auf 64 Jahre angehoben worden war, fordert. Man sollte jedoch nicht vergessen, dass Ensemble nur deshalb so gut abschnitt, weil viele linke Wähler es taktisch unterstützten, um Siege des RN in der zweiten Runde zu vermeiden. Umgekehrt scheinen einige, wenn auch nicht ganz so viele zentristische Wähler taktisch für NFP-Kandidaten gestimmt zu haben, insbesondere dort, wo gemäßigtere Kandidaten antraten. Das ist auch einer der Gründe, weshalb der NFP-Parlamentsblock von gemäßigten Kräften der Sozialistischen Partei und der Grünen dominiert werden wird und nicht vom linksradikalen Scharfmacher Jean-Luc Mélenchon.
Um in der AN Kompromisse zu finden, muss man wahrscheinlich über Paris hinausblicken und La France profonde (das französische Kernland der Provinzstädte und -dörfer) genauer ins Auge fassen. Dabei sollte es möglich sein, die Macron-Reformen der letzten Jahre weitgehend beizubehalten und selektiv zu verbessern, auch wenn es etwas dauern sollte, bis sie Gestalt annehmen. In jedem Fall ist Präsident Macron nach dem Rücktritt von Gabriel Attal frei, einen Premierminister seiner Wahl zu ernennen. Dieser wird bis 2027 im Amt bleiben (und gemäß der Verfassung die vollen Befugnisse eines Premierministers haben), solange es in der AN keine Mehrheit gegen ihn oder sie gibt. Für Marktteilnehmer und europäische Verbündete, die sich vor den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2027 (die ebenfalls in zwei Runden stattfinden) noch immer Sorgen um den RN machen, mag es auch beruhigend sein, dass die französischen Wähler zumindest im Moment bereit waren, in ungewöhnlich großer Zahl an den Wahlen teilzunehmen, um genau solch eine Machtübernahme durch die extreme Rechte im Jahr 2024 zu verhindern.
Keine eindeutigen Impulse für die Märkte
Obwohl die Märkte Unsicherheit nicht mögen, haben sie normalerweise kein großes Problem mit einer Machtteilung in einem Industrieland, da dies zumindest übermäßige Ausgabenprogramme weniger wahrscheinlich macht. Gleichzeitig wird Frankreich in diesem Jahr ein Haushaltsdefizit von über fünf Prozent aufweisen und die Europäische Kommission hat am 19. Juni ein Defizit- Verfahren (EDP) gegen Frankreich eingeleitet. S&P hatte seine Bewertung für Frankreichs Staatsanleihen bereits im Mai herabgestuft. Da die Schuldenquote trotz optimistischer Wachstumsprognosen voraussichtlich weiter steigen wird, werden die Märkte sicherlich genauer darauf achten, wie eine neue Regierung in der EDP-Frage mit der Europäischen Kommission kooperieren wird.
Am Montagmorgen war eine gewisse Entspannung an den Märkten zu beobachten, da sich der CAC40 fast im Einklang mit anderen europäischen Aktienmärkten bewegte (leicht nach oben) und die Spreads französischer Staatsanleihen gegenüber deutschen Bundesanleihen leicht zurückgingen, obwohl sie immer noch über dem Niveau gehandelt wurden, das vor der Ankündigung der Neuwahlen verzeichnet wurde.
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