Verbesserte Aussichten aber berechtigte Zweifel bleiben
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Die Ertragserwartungen von Aktien haben viel mit den Bewertungen zu tun. Wenn sich die Vergangenheit wiederholt, kann man bei den heutigen Bewertungen mittelfristig mit Wertzuwachs rechnen. Die Bären sagen zurzeit nur, dass es vielleicht bessere Einstiegszeitpunkte geben könnte, aber keineswegs, dass man um Aktien einen Bogen machen sollte. Die höchsten Erträge verzeichnen meist die Sektoren und Märkte mit der besten langfristigen Gewinnentwicklung. Die Stimmung ist angesichts der Konjunkturaussichten nicht unbedingt gut, aber bei einem fünfjährigen Anlagehorizont muss man deshalb nicht Trübsal blasen.
Was ist ein Bär? Ich habe meinen Text von letzter Woche noch einmal gelesen und bin selbst überrascht, wie optimistisch ich für Aktien war. Langfristig hat man mit Aktien fast immer verdient. Nicht alle Unternehmen überleben, aber wer auf den breiten Markt gesetzt hat, lag letztlich fast immer im Plus. Wichtig waren ein ausreichender Anlagehorizont und manchmal vielleicht auch der richtige Einstiegszeitpunkt. Aber natürlich gibt es keine Gewissheit. Aus gutem Grund kann man für manche Unternehmen pessimistisch sein, weil sie schlecht geführt werden oder in einem Sektor mit strukturellen Problemen tätig sind. Aber ein tiefer Marktpessimismus ist selten angebracht. Baissiers hoffen also meist nur auf bessere Einstiegszeitpunkte. Eine kurzfristige taktische Untergewichtung ist etwas anderes als eine dauerhaft niedrige Aktienquote.
Führungswechsel: Seit den Oktobertiefs haben Aktien stark zugelegt. Außerdem hat es eine starke Branchenrotation gegeben. Von Ende 2021 bis Ende Oktober 2022 hat der S&P 500 Energy um 67 Prozent zugelegt, danach aber wieder 1,4 Prozent verloren. Ganz anders sieht es im IT-Sektor aus, wo auf 26 Prozent Verlust 10,8 Prozent Gewinn folgten. In den letzten drei Monaten hat man mit den Sektoren Technologie, Konsumgebrauchsgüter und Telekommunikationsdienstleistungen am meisten verdient. Seit Jahresbeginn liegen Substanzwerte vor Wachstumswerten, aber ihr Vorsprung ist knapp und kein Vergleich zu den mindestens 20 Prozentpunkten Mehrertrag von Januar bis Oktober letzten Jahres.
Buy and Hold: Wenn das erwartete KGV des S&P 500 nicht höher war als jetzt, hat man in den folgenden fünf Jahren in über 90 Prozent aller Fälle verdient. Im Schnitt erzielte man zehn Prozent bis 20 Prozent Ertrag p.a. War das KGV aber höher als heute, verdiente man nur in 60 Prozent aller Fünfjahreszeiträume, mit einem Durchschnittsertrag von nur fünf Prozent p.a. Wer auf weitere 20 Prozent Kursrückgang wartet, dürfte danach also mehr verdienen. Das derzeitige Risiko-Ertrags-Profil von Aktien muss deshalb aber nicht über alle Maßen schlecht sein. Die Märkte sind volatil, und der Konjunkturausblick ist unsicher, aber entscheidend ist der Zeithorizont. Je niedriger das KGV, desto besser ist der mittelfristige Ertragsausblick – so wie man bei höheren Renditen auch mit Anleihen langfristig mehr verdient.
Zugegeben, kurzfristig fällt es schwer, sich von der Sektorperspektive zu lösen. Wer aber den Langfristertrag im Blick hat, hat eine andere Sicht. Wachstumsaktien mögen aus der Mode sein. Langfristig hat man aber mit den Sektoren (und Unternehmen) am meisten verdient, deren Gewinne auf Dauer am stärksten gestiegen sind. In den USA zählen dazu Technologie-, Gesundheits- und Konsumgebrauchsgüterwerte. Meine Kollegen aus dem quantitativen Management sagen, dass bei der aktuellen Kursrallye Aktien mit niedriger Qualität und hohem Beta vorn liegen. Solche Rallyes sind meist nicht von Dauer, denn Aktien werden schnell zu teuer. Irgendwann setzen sich dann Qualitäts- und Wachstumstitel wieder an die Spitze.
Nicht amerikanische Aktien sind attraktiv: Außerhalb der USA sind die Bewertungen im Langfristvergleich sogar noch überzeugender. In den 1990ern waren japanische Aktien irrsinnig teuer. Die Folge waren 15 Jahre mit Fünfjahresverlusten oder bestenfalls kurzfristigen Gewinnen. Seit der internationalen Finanzkrise beträgt das KGV japanischer Aktien im Schnitt 14,7, gegenüber 33,6 vor 20 Jahren. Seitdem hat man auf Fünfjahressicht mit japanischen Aktien meistens verdient. Das erwartete 12-Monats-KGV beträgt etwa 13. In Europa sieht es ähnlich aus. Kurz gesagt: Wenn der Anlagehorizont nur lang genug ist, wird man bei den jetzigen Einstiegskursen in den nächsten fünf Jahren wohl ordentliche Gesamterträge erzielen.
Kurzfristige Positivfaktoren: Niemand hat eine Kristallkugel. Wenn wir unterstellen, dass man – abgesehen von Japan in den 1990ern – mit Industrieländeraktien mittel- bis langfristig etwas verdient, denken die Bären kurzfristig. Sie halten Market Timing für eine sinnvolle Anlagestrategie mit einer hohen Information Ratio, auch wenn Hoch- und Tiefpunkte nicht leicht zu erkennen sind. Doch eigentlich ist der Kurzfristausblick gar nicht so schlecht. Die Inflation dürfte in der ersten Jahreshälfte 2023 schnell fallen, die Notenbanken werden ihre Zinssenkungen bald beenden, und die Wirtschaft ist nicht so schwach wie auf dem Höhepunkt der Energiekrise letztes Jahr befürchtet. Außerdem gibt es kaum Marktturbulenzen, und die Zins- und Spreadvolatilität ging immer weiter zurück – ein weiterer Pluspunkt für risikoreichere Titel.
Aber Konjunkturzweifel bleiben: Damit man mit Aktien langfristig etwas verdienen kann, müssen die Unternehmensgewinne steigen. Das setzt wiederum eine wachsende Wirtschaft voraus. Die Märkte können ihr derzeitiges Momentum nur dann halten, wenn eine Rezession ausbleibt. Wir wissen nicht, ob das Wachstum anhält, wenn die US-Zinsen langfristig knapp fünf Prozent und die europäischen Zinsen langfristig 3,5 Prozent betragen, was die Notenbanken für angemessen halten. Bei einer niedrigeren Inflation droht ein schwächerer nominaler BIP-Zuwachs. Die Unternehmen haben dann vielleicht weniger Preismacht, und der Schuldendienst könnte zu einem größeren Problem werden, was letztlich auch die Gewinne schwächt. Weil die Unternehmen in letzter Zeit viel neues Fremdkapital aufgenommen haben, scheint mir das jetzt aber noch kein Thema zu sein. Allerdings wächst die Kreditvergabe nicht mehr so schnell, und die Kreditbedingungen der Banken sind straffer geworden. Zwei Beobachtungen sprechen für höhere Risiken: In den USA ist die Geldmenge M2 im letzten Jahr real stark geschrumpft, und die US-Zinsstrukturkurve (Zehnjahresrenditen minus Zweijahresrenditen) ist heute so invers wie zuletzt 1980.
Optimistisch? Ja, aber … Fassen wir zusammen. Bei Bewertungen wie heute ist langfristig mit Aktienerträgen zu rechnen. US-Aktien sind keineswegs billig, aber sie sind auch längst nicht mehr so teuer wie zuvor. Außerhalb der USA sind die Bewertungen wesentlich attraktiver. Weil die Wirtschaft dieses Jahr mit höheren Zinsen zurechtkommen muss, spricht fundamental einiges für schwächere Unternehmensgewinne. Im Risikoszenario bleibt die Kerninflation hartnäckig hoch, und die Zinsen werden wesentlich stärker angehoben als zurzeit erwartet. Am Anleihenmarkt rechnet man mit einer Rezession; man erwartet Zinssenkungen für 2024 und eine inverse Zinsstrukturkurve. Die Aktienanalysten erwarten hingegen eine Erholung der Gewinne im kommenden Jahr. Aber wer weiß das schon? Die krisenfesten Arbeitsmärkte und die Aussicht auf hohe strukturelle Investitionen in den nächsten Jahren sprechen allerdings dafür, dass nicht alles schlecht ist. Die Dekarbonisierung, die Neuausrichtung der Lieferketten, Künstliche Intelligenz und das Metaversum sind nur einige Entwicklungen, die in den nächsten zehn Jahren für höhere Unternehmensausgaben sorgen können – und für steigende Gewinne.
Weitere Yen-Aufwertung: Bei Redaktionsschluss sorgte die bevorstehende Ernennung eines neuen japanischen Notenbankgouverneurs für Spannung. Wer auf eine Änderung der Geldpolitik hofft, sieht in der Neubesetzung die Chance auf ein Ende der Null-Zins-Politik und der Zinsstrukturkurvensteuerung. Der Yen hat aufgewertet, obwohl die japanischen Staatsanleiherenditen weiterhin bei 0,5Prozent fixiert sind. Nach den Konsensprognosen wird sich das japanische Wirtschaftswachstum dieses Jahr nicht ändern, und nach durchschnittlich fünf Prozent Preisauftrieb im letzten Jahr rechnet man jetzt mit einem Rückgang der Kerninflation auf drei Prozent bis vier Prozent. Die Geldpolitik muss sich daher eigentlich kaum ändern, aber nach den Zinserhöhungen in anderen großen Industrieländern wird sich wohl auch in Japan einiges tun. Viel spricht für eine weitere Yen-Aufwertung, doch hat er seit Oktober gegenüber dem US-Dollar schon von 150 auf 130 aufgewertet. Im mittelfristigen Vergleich scheint der Yen aber noch immer schwach, so viel wie er seit Beginn der Zinserhöhungen in den USA gegenüber dem Dollar verloren hat. Wenn die Fed ihre Zinserhöhungen bald beendet und die Bank of Japan ihre althergebrachte Geldpolitik aufgibt, scheint ein Wechselkurs von 120 noch in diesem Jahr plausibel.
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