Kommentar
14:42 Uhr, 09.09.2009

Russische Rochaden: Wer ist Dmitri Anatoljewitsch Medwedew?

Im Schach, einem insbesonders in Russland zur Perfektion getriebenem Denksport, bezeichnet die Rochade einen Zug, durch den der bedrängte König in Sicherheit gebracht wird. An seine Stelle tritt einer der beiden eher unbedeutenden Türme. Der König ist Putin, Medwedew der Turm...
Anbei ein Artikel von BörseGo-Redakteur Florian Guckelsberger zur Person des russischen Präsidenten Medwedew.

Russische Rochaden

von: Florian Guckelsberger

Es ist ein seltsames Experiment, das da im Moskau der 20er-Jahre stattfindet. Noch seltsamer ist aber sein Ausgang. Ein verschrobener Chirurg und sein Assistent arbeiten mit Organtransplantationen: Der Straßenköter Scharik wird dabei zu einem tierischen Frankenstein, bekommt Hoden und Hirn eines Menschen implantiert. Die Wissenschaftler wollen den perfekten Proletarier züchten. Doch das Experiment gerät außer Kontrolle. Scharik wird Mensch, entwickelt aber lediglich böse Züge, trinkt, raucht, pöbelt und beleidigt die bürgerlichen Professoren.

Michail Bulgakovs Parabel auf die Erschaffung des proletarischen Übermenschen, geschildert in seiner Erzählung "Hundeherz", durfte in der kommunistischen Sowjetunion nicht erscheinen. 1925 beendete Bulgaov seine Arbeiten an dem Buch, 1964 veröffentlichte es eine russische Exilzeitung und erst kurz vor dem Fall des Eisernen Vorhangs, mehr als ein halbes Jahrhundert später, wird das "Hundeherz" in der Sowjetunion verlegt.

"Hundeherz", diese bitterböse Satire, gilt als Lieblingserzählung des dritten post-kommunistischen Präsidenten Russlands: Dmitri Anatoljewitsch Medwedew. Eine zumindest unorthodoxe Wahl, spottet Bulgakov doch unverhohlen über vieles, was auch heute noch seinen Wert hat, im Land an der Wolga. Und: Es mag so gar nicht zu einem passen, den viele als Konformisten beschreiben. Als bessere Marionette gestaltungswilliger Mentoren und Proteges.

Medwedew wird am 14. September 1965 in Leningrad geboren. Er wächst im Bezirk Kuptschino auf, seine Eltern gehören der russischen Intelligenz an. Vater Anatoli doziert als Physiker am Technologischen Institut, seine Mutter Julia lehrt Philologie am Herzen-Institut. Die Liebe zum Wort entbrennt auch im kleinen Dmitri. Die gut gefüllten Bücherregale seiner Eltern verschlingt er, noch vor seiner Einschulung kann er lesen und schreiben. Bücher sind in dieser Zeit wie Schmuck für Russlands geistige Elite, viele gaben mehr Geld für Les- also für Essbares aus. Bulgakovs "Hundeherz" war noch streng verboten, Dmitri muss es als unter der Hand herumgereichte Kopie zu lesen bekommen haben.

Trotz der kritischen Lektüre entwickelte er aber keinen Widerstand gegen das System, im Gegenteil. Dem akademischen Vorbild seiner Eltern folgend, bewirbt er sich 1982 an der juristischen Fakultät der Leningrader Universität. Spätere Geheimdienstler, Politiker und Militärs werden hier herangezüchtet. Medwedew befindet sich in guter Gesellschaft, auch Lenin und Putin durchliefen das harte Auswahlprogramm dieser Kaderschmiede. Auf sieben Bewerber entfällt ein Studienplatz. Trotz des geringen Einflusses seiner Eltern, kann sich Medwedew gegen seine gut vernetzten Konkurrenten durchsetzen. Später wird er mit brillanten Noten glänzen, der Dekan spricht auch heute nur in höchsten Tönen von ihm.

1987 schließt er sein Studium mit dem Diplom ab, doch er bleibt dem Institut erhalten. Drei Jahre später, 1990, reicht er seine Doktorarbeit ein. Das Thema: Staatliche Unternehmen als Subjekte bürgerlichen Rechts. Medwedew denkt darin vorsichtig über die Einführung der Marktwirtschaft nach. Was in Regierungskreisen selbst so kurz vor dem Kollaps nur verhohlen diskutiert wurde, passte dagegen in die liberalere Atmosphäre der Universität. Bis 1999 bleibt Medwedew schließlich im Lehrbetrieb, hält Vorlesungen über römisches und ziviles Recht.

Doch es ist nicht die väterliche Karriere als Professor, die Medwedew anstrebt. Er ist längst dem Ruf in die Politik gefolgt. Noch bevor er seinen Doktor erlangt, lernt er Anatoli Sobtschak kennen. Der ehemalige Jura-Dozent bereitet sich gerade auf seine Kandidatur für das Bürgermeisteramt in Leningrad vor, als Medwedew ihn bei der Kartoffelernte in einer Kolchose trifft. Der Funke springt sofort über, Medwedew macht Wahlkampf für Sobtschak. Und er knüpft sein Netzwerk: Der junge Wladimir Putin, ehemals Student Sobtschaks, ist ebenfalls im Teams. Beide, Medwedew und Putin, erfahren ihre politische Sozialisation in den Jahren unter Sobtschak.

Der gilt als durchaus ambivalente Figur. Einerseits lehnt er als Reformer die Karriere im Dienste des gefürchteten KGB ab, andererseits wird er Putins Ziehvater und Mentor. Die Massen kann er aber überzeugen. Sobtschak gewinnt die Wahlen und wird Bürgermeister der zweitgrößten Stadt Russlands. Während Putin sein direkter Vertreter im Amt wird, berät Medwedew das Gespann in Fragen des Außenhandels. Sobtschak gilt dabei als ein Wegbereiter für russische Marktwirtschaft. Eine direkte Übersetzung Medwedes theoretischer Überlegungen, mit denen er seine akademische Karriere ja auch im selben Jahr krönt.

Nach dem Ende der Sowjet-Ära gewinnt die Karriere von Medwedew an Fahrt. Leningrad heißt jetzt St. Petersburg und verspricht nach dem Zusammenbruch der Planwirtschaft sagenhaften Reichtum, viele Oligarchen machen in diesen Jahren unter Boris Jelzin ihre Milliarden. Medwedew gründet 1993 die Firma Ilim Pulp Enterprises, wird ihr Rechtsberater und größter Aktionär. Das Geschäft floriert und Ilim Pulp wächst zum stärksten Papier- und Papphersteller Russlands. 1999 verlässt Medwedew den Konzern, auf ihn warten größere Aufgaben. Unmittelbar nach seinem Weggang, ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen Unregelmäßigkeiten. Weder Medwedew noch Ilim Pulp hat die Affäre geschadet. Der Konzern beschäftigt heute mehr als 20.000 Menschen und deckt rund 65% des russischen Zellstoffbedarfs. Größter Aktionär ist die amerikanische International Paper, die auch im Standards & Poor 500 Index gelistet wird.

Medwedew ist derweil dem Ruf eines alten Bekannten gefolgt. Am 9. August 1999 wird der ehemalige Geheimdienstler Wladimir Putin zum Ministerpräsidenten Russlands gewählt. Auch dieses Mal hat Medwedew beim Wahlkampf geholfen. Und auch dieses Mal revanchiert sich der Begünstigte: Medwedew wird stellvertretender Leiter des Regierungsapparats. Als Putin nur wenige Monate später zum Präsidenten der Russischen Föderation gewählt wird, steigt auch sein Schützling Medwedew auf: Er wird Stellvertreter des Spitzenbürokraten Alexander Woloschin.

Und dann gibt es noch eine andere Stelle zu besetzen: Der privatisiere Energie-Multi Gazprom braucht nach dem Machtwechsel im Kreml einen neuen Chef. Noch immer hält die russische Regierung die Mehrheit an dem umtriebigen Konzern und so wird 2000 Medwedew Chef des Aufsichtsrats. Ein verantwortungsvoller Posten, spielen Gazprom und seine Marktmacht doch eine zentrale Rolle in der Strategie Putins. Fast acht Jahre wird Medwedew dem Unternehmen dienen. Es sind aufregende Jahre.

Medwedes Förderer Putin etabliert sich nach seiner Wahl zum Präsidenten schnell als Hardliner. Insbesondere die unter seinem Vorgänger Jelzin zu großem Reichtum gelangten Oligarchen sind ihm ein Dorn im Auge. Kritiker werfen ihm vor, er wolle die Ressourcen des Landes zu einem Instrument der Außenpolitik ummodeln. Auch Gazprom spielt eine Rolle in diesem Stück. Dem Medien-Mogul Wladimir Gussinski wird neben einer Reihe anderer Repressalien der kreml-kritische Sender NTW abgekauft. Der Käufer ist Gazprom, Gussinski flieht später ins spanische Exil.

Auch Yukos, damals einer der größten Energiekonzerne Russlands, wird unter Druck gesetzt. Chef Michail Chodorkowski opponiert gegen den Kreml, unterstützt kritische Parteien in der Duma und wird schließlich zur Persona non grata. Die geplante Fusion mit Sibneft wird sabotiert, Moskau friert 44% der im Staatsbesitz befindlichen Aktien ein und verhindert so den Einstieg einer Investorengruppe. Kurze Zeit später wird Yukos vorgeworfen, Milliarden an Steuern nicht bezahlt zu haben. Ende 2004 wird die Mehrheit an Juganskneftegas zur Tilgung der Steuerschuld versteigert, Chodorkowski landet im Gefängnis. Gazprom hat Interesse an den Yukos-Aktien bekundet.

Unter dem Aufsichtsratsvorsitzenden Medwedew und dem Vorstandsvorsitzenden Alexei Miller wuchs Gazprom in den folgenden Jahren zum größten Erdgasproduzenten der Welt und einem der größten europäischen Unternehmen überhaupt. 2008 erzielte der Konzern mehr als 80 Milliarden Euro Umsatz und einen Gewinn von 17,4 Milliarden Euro. Zwei Drittel seiner Einnahmen macht Gazprom dabei auf dem europäischen Markt. Und trotz steigender Interdependenz scheut das Unternehmen keine Machtproben. Als die Ukraine 2005 eine durchaus legitimierte Erhöhung des Gas-Lieferpreises nicht zahlen wollte, wurde kurzerhand der Hahn zugedreht. Millionen Ukrainer konnten nicht mehr heizen, am Ende wurde der geforderte Preis entrichtet.

Die Berliner Stiftung für Wissenschaft und Politik kommt zu einem nüchternen Ergebnis: Wettbewerb wird es mit Gazprom im postsowjetischen Gasmarkt nur begrenzt geben. Der Kreml nutze den Konzern als Instrument seiner Wirtschafts- und Sozialpolitik. Dr. Oprach bezeichnet Gazprom in einer Studie der Konrad Adenauer Stiftung gar als "Sturmbock der russischen Außenpolitik". Medwedew ist derweil wieder einmal weiter gezogen. Der Karrierist hat 2008 das vorläufige Ende der Leiter erreicht. Am 2. März vergangenen Jahres beerbte er Putins im Amt des russischen Präsidenten.

Im Schach, einem insbesonders in Russland zur Perfektion getriebenem Denksport, bezeichnet die Rochade einen Zug, durch den der bedrängte König in Sicherheit gebracht wird. An seine Stelle tritt einer der beiden eher unbedeutenden Türme. Der König ist Putin, Medwedew der Turm. Medwedew wird Präsident, Putin zum zweiten Mal Ministerpräsident. Zuvor hat er seinen neuen Posten aber mit mehr Rechten ausgestattet. Sicher ist sicher.

Vita

14. September 1965: Dmitri wird in Leningrad (seit 1991 St. Petersburg) geboren. Sein Vater Anatoli dozierte Physik am Technologischen Institut, Mutter Julia Philologie am Herzen-Institut für Pädagogik. Die Familie wuchs als Einzelkind in eher armen Verhältnissen auf, Dmitri mangelte es aber an nichts. (Breschnew-Ära)

1982 – 1987: Rechtsstudium an der Juristischen Fakultät Leningrad. Gilt als Kaderschmiede für KGB, Regierung und Militär. Von sieben Bewerbern wurde nur einer genommen, man braucht Kontakte. Auch Lenin und Putin (Gerücht: Sie haben sich kennen gelernt, als Putin ihn für den KGB werben wollte) haben dort studiert. Medwedew schrieb reihenweise Bestnoten und wurde für sein gesellschaftliches Engagement gelobt. Der Dekan lobt ihn als immer gut vorbereiteten, glänzenden Studenten. Nach seinem Diplom bleibt er zunächst an der Universität.

1989: Medwedwew unterstützte den demokratischen Kandidaten für das Bürgermeisteramt von Leningrad: Anatoli Sobtschak, der an der Univeristät lehrt und den Medwedew angeblich bei der Kartoffelernte auf der Kolchose kennen lernt. Bei dieser lernt er auch Wladimir Putin kennen. Sobtschak gewinnt die Wahlen, Putin wird sein Stellvertreter und Medwedew wird sein Rechtsberater (Außenhandel). Sobtschak gilt ebenfalls als Anhänger der Marktwirtschaft. Seine Kandidatur wird später von Korruptionsvorwürfen überschattet, die aber nicht belegt werden konnten. Er gilt als Protege von Putin und soll ihn politische sozialisiert haben (http://www.wsws.org/de/2000/feb2000/sobt-f26.shtml).

1990 - 1999: Medwedew schreibt seine Dissertation im Zivilrecht. Thema der Arbeit: Staatliche Unternehmen als Subjekte des bürgerlichen Rechts, eine vorsichtige Überlegung zum Übergang in die Marktwirtschaft. Er macht seinen Doktor und wird später Außerordentlicher Professor.

1990 – 1999: Nebenbei Lehre an der Universität zu St. Petersburg (ziviles und römisches Recht)

1993 - 1999: Heirat mit Svetlana Linnik. Medwedew wird Rechtsberater der Firma Ilim Pulp Enterprises und mit 50% der Aktien gleichzeitig ihr größter Aktionär. Ilim Pulp Enterprises wird zu Russlands führendem Holz und Papierverarbeiter. Zu 50% gehört der Konzern zu International Paper (USA), dem nach eigenen Angaben größten Papier und Papphersteller der Welt (im S&P 500). Mehr als 20.000 Menschen arbeiten bei Ilim Pulp Enterprises. Medwedew verlässt das Unternehmen 1999, kurz bevor die Staatsanwaltschaft Ermittlungen wegen einer Reihe von Rechtsverstößen bei der Privatisierung aufnimmt.

1995: Geburt des gemeinsamen Sohnes Ilyas

1998: Medwedwew vertriritt Ilim Pulp Enterprises als Mitglied des Aufsichtsrats des Bratsker Holzindustriekomplexes, an dem Ilim Pulp Enterprises Anteile hält.

9. August 1999: Der KGB’ler Putin wird Ministerpräsident Russlands und nimmt seinen alten Freund mit nach oben: Medwedew wird stellvertretender Leiter des Regierungsapparats. Zuvor hatte Medwedew ihn beim Wahlkampf unterstützt.

26. März 2000 Putin wird russischer Präsident, seinen Vertrauten Medwedew macht er zum ersten Stellvertreter von Alexander Woloschin (http://www.aktuell.ru/rupol0023/morenews.php?iditem=6 ) als Chef der Präsidialadministration. Im Oktober 2003 ersetzt Putin Woloschin durch Medwedew, der nun Chef der Präsidialadministration wird.

2000 – 2008: Er wird Vorsitzender des Gazprom-Aufsichtrats (CEO) von 2000 bis 2001, von 2001 bis 2002 ist er Stellvertretender Vorsitzender und schließlich wieder Chef, bis er 2008 Präsident wird. Russland ist am Vorzeigekonzern nach seiner Privatisierung weiter mit einer 50%-Mehrheit beteiligt.

2. März 2008: Medwedew wird als Nachfolger von Putin Präsident der russischen Föderation, Putin wird von der Duma zum Regierungschef gewählt (Machtrochade).

Interessante Fakten

- Sein Lieblingsgedicht ist „Hundeherz“ von Michail Bulgakow von 1925 (Zum Werk: http://www.sww-muenchen.de/archiv2005/hundeherz.php). Die Geschichte war in der UddSSR verboten, wurde 1965 in einer Exilzeitschrift veröffentlicht und erst 1987 auch in Russland zugänglich gemacht.

- Konnte schon vor seiner Einschulung lesen und schreiben

- Spitzname „Wesir“ (unauffällig, aber hochintelligent und effektiv)

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Über den Experten

Jochen Stanzl
Jochen Stanzl
Chefmarktanalyst CMC Markets

Jochen Stanzl begann seine Karriere in der Finanzdienstleistungsbranche als Mitbegründer der BörseGo AG (jetzt stock3 AG), wo er 18 Jahre lang mit den Marken GodmodeTrader sowie Guidants arbeitete und Marktkommentare und Finanzanalysen erstellte.

Er kam im Jahr 2015 nach Frankfurt zu CMC Markets Deutschland, um seine langjährige Erfahrung einzubringen, mit deren Hilfe er die Finanzmärkte analysiert und aufschlussreiche Stellungnahmen für Medien wie auch für Kunden verfasst. Er ist zu Gast bei TV-Sendern wie Welt, Tagesschau oder n-tv, wird zitiert von Reuters, Handelsblatt oder DPA und sendet seine Einschätzungen über Livestreams auf CMC TV.

Jochen Stanzl verfolgt einen kombinierten Ansatz, der technische und fundamentale Analysen einbezieht. Dabei steht das 123-Muster, Kerzencharts und das Preisverhalten an wichtigen, neuralgischen Punkten im Vordergrund. Jochen Stanzl ist Certified Financial Technician” (CFTe) beim Internationalen Verband der technischen Analysten IFTA.

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