Kommentar
10:02 Uhr, 28.02.2024

Neue Zeitrechnung, unabhängig von künstlicher Intelligenz

Wenn man eine neue Zeitrechnung ausruft, denkt man automatisch an eine technologische Revolution. Es hat aber eine ganz andere neue Ära begonnen.

Auch wenn sich am Aktienmarkt derzeit alles um KI dreht, die Investitionen und Anwendungen sind noch zu begrenzt, um Wirtschaftswachstum und Produktivität signifikant zu verändern. Das mag in einigen Jahren anders sein. Geht es nach Aussagen von AMD und Supermicro Computers, werden derzeit global 500 Mrd. USD in Hardware, Software und Dienstleistungen investiert. Das ist viel, bewegt die Weltwirtschaft aber nicht maßgeblich. Das Wachstum soll allerdings in den kommenden Jahren bei mehr als 20 % liegen. In wenigen Jahren könnten die Investitionen fast 1,5 % der weltweiten Wirtschaftsleistung erreichen. Das ist signifikant.

Bis es so weit ist, lässt sich eine andere Zeitrechnung beginnen. Diese hat mir der Art des Wachstums zu tun. Seit vielen Jahren wird davon geredet, dass sich die Struktur der Wirtschaft stark gewandelt hat. Alles, was mit der Produktion von Waren zu tun hat, spiegelt die Wirtschaft immer weniger wider.

Grundsätzlich macht diese Idee Sinn. Länder wie die USA sind keine Produktionsländer mehr. Sie konsumieren vor allem Dienstleistungen. Es wurde daher immer mehr infrage gestellt, wie gut Indikatoren wie Einkaufsmanagerindizes des verarbeitenden Gewerbes oder die Frühindikatoren, die den Zustand der Industrie widerspiegeln, die Gesamtwirtschaft abbilden.


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In den vergangenen Jahrzehnten wurde mehrfach und zu früh eine neue Zeitrechnung begonnen. Jedes Mal, wenn die Industrie schwächelte, wurde verlautbart: Alles kein Problem, die Wirtschaft ist heute eine andere. Letztendlich stellte sich jedes Mal heraus, dass die Prognosen falsch waren. Schwäche in der Industrie griff auf den Rest der Wirtschaft über. Es kam zu einer Rezession und einem Bärenmarkt.

In den USA gehen die Frühindikatoren, die das verarbeitende Gewerbe hoch gewichten, seit fast zwei Jahren zurück. Eine so lange Serie an Rückgängen gab es selten zuvor und schon gar nicht ohne folgende Rezession (Grafik 1). Die Frühindikatoren tragen ihren Namen nicht ohne Grund. Die Indikatoren gingen dem Wirtschaftswachstum um ein bis zwei Quartale voraus. Vorlaufindikatorfunktion ist vor allem bei unteren Wendepunkten gut zu erkennen (Grafik 2).

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Die Wirtschaft konnte wachsen, obwohl Frühindikatoren, Zinskurve und andere Datensätze etwas ganz anderes vorhersagten. Der Aktienmarkt hat es geahnt und stieg. Die Divergenz zu den Frühindikatoren scheint gerechtfertigt (Grafik 3). Bisher konnte man sich darauf verlassen, dass Frühindikatoren und Aktienmarkt nicht systematisch divergieren.

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Die USA erleben den ersten Konjunkturzyklus, in dem Aufschwung auch ohne die Industrie geht. Ob damit wirklich eine neue Zeitrechnung begonnen hat und der Aktienmarkt nun immer in Industrierezessionen steigen kann, müssen wir abwarten. Gerade in den USA wirkten Geldgeschenke an die Bevölkerung 2020 und 2021 große Wunder, die nachwirken. In Europa und nicht zuletzt in Deutschland, ist von einer neuen wirtschaftlichen Zeitrechnung jedenfalls nichts zu sehen.

1 Kommentar

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  • masi123
    masi123

    Nach meiner Meinung hat tatsächlich eine neue Ära begonnen, und zwar schon vor längerer Zeit. Die früher normalen Wirtschaftszyklen, wozu auch Rezessionen gehören, wurden/werden durch immer größere staatliche Ausgabenprogramme (zuletzt inflation reduction act) verhindert. Dies hat zu einer beispiellosen Kreditexpansion geführt, so ist die Verschuldung der USA inzwischen auf ~34 Billionen USD gestiegen. Die Konsumlaune/Konsumfähigkeit wird also auch mittels einer immer größeren Verschuldung des Staates ermöglicht. In Deutschland wird z. T. dieselbe Politik betrieben, z.B. das "Sondervermögen" für die Aufrüstung. Auch hier ersetzt/erhöht der Staat im Ergebnis letztlich die Nachfrage bzw. den privaten Konsumenten.

    Was die Börse anbelangt, haben Sie ja kürzlich in einem Artikel auf die Bedeutung des zur Verfügung stehenden Cash hingewiesen. Solange dieser zur Verfügung steht (ggf. auch durch ausländische Käufer) ist der Markt in gewisser Weise tatsächlich von der Realwirtschaft und ihren Indikatoren entkoppelt. Ich hatte zu dem Artikel auch auf die Bedeutung der Geldmengenausweitung durch die Notenbanken und die in diesem Zuge stattfindende Vermögenspreisinflation (Aktien, Immobilien) hingewiesen.

    Generell wird in der Diskussion, ob Produktion oder Dienstleistung "wichtiger" sind, leider nicht klar differenziert, ob man sich auf die Erzeugungsseite oder die Konsumseite bezieht; daneben fehlt oft die Betrachtung des Auslands. Für ein Exportland wie Deutschland ist die Produktion von hoher Bedeutung, auch wenn die Industriegüter zum Großteil nicht im Land konsumiert werden. Für die USA mit ihrem hohen Handelsbilanzdefizit sieht die Betrachtung anders aus; hier spielt der Konsum (von nicht im Land produzierten Gütern) eine viel größere Rolle. Letzteres (Handels- und Haushaltsdefizite) ist längerfristig aber nur aufgrund der herausragenden Stellung des USD möglich, da ansonsten eine Währungsabwertung die Folge wäre. Somit sind die USA in einer besonderen Lage, die nicht auf Europa/Deutschland übertragen werden kann.

    15:15 Uhr, 28.02.

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Über den Experten

Clemens Schmale
Clemens Schmale
Finanzmarktanalyst

Clemens Schmale hat seinen persönlichen Handelsstil seit den 1990er Jahren an der Börse entwickelt.

Dieser gründet auf zwei Säulen: ein anderer Analyseansatz und andere Basiswerte. Mit anders ist vor allem die Kombination aus Global Makro, fundamentaler Analyse und Chartanalyse sowie Zukunftstrends gemeint. Während Fundamentaldaten und Makrotrends bestimmen, was konkret gehandelt wird, verlässt sich Schmale beim Timing auf die Chartanalyse. Er handelt alle Anlageklassen, wobei er sich größtenteils auf Werte konzentriert, die nicht „Mainstream“ sind. Diese Märkte sind weniger effizient als andere und ermöglichen so hohes Renditepotenzial. Sie sind damit allerdings auch spekulativer als hochliquide Märkte. Die Haltedauer einzelner Positionen variiert nach Anlageklasse, beträgt jedoch meist mehrere Tage, oft auch Wochen oder Monate.

Rohstoffe, Währungen und Volatilität handelt er aktiv, in Aktien und Anleihen investiert er eher langfristig. Die Basiswerte werden direkt – auch über Futures – oder über CFDs gehandelt, in Ausnahmefällen über Optionen und Zertifikate.

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