Kommentar
15:30 Uhr, 04.07.2016

Nach dem Brexit: Zerfällt jetzt die Europäische Union?

Brexit hin oder her – die kurze Antwort lautet „Nein.“ Eine kleine Abrechnung muss es an dieser Stelle trotzdem geben.

Derzeit hört man vor allem zwei Dinge. Zum einen sei das Brexit-Votum ein Warnschuss für Europa. Zum anderen hört man, „das Europa der Eliten“ sei gescheitert. Beides impliziert das Gleiche. Es muss sich etwas tun. „Weiter so“ darf es nicht geben, denn dann droht die EU tatsächlich zu zerfallen.

Die Warnungen klingen plausibel und es gibt wohl kaum jemanden, der bei diesen Warnungen nicht verständnisvoll nickt. Es gibt nur ein Problem an der Sache. Diejenigen, die warnen, bleiben eine Antwort schuldig, was sich denn genau ändern soll.

Nach dem Referendum in Großbritannien überbieten sich Politiker in allen Ländern mit bedeutungsvollen Aussagen. Besonders faszinierend ist die häufig zu hörende Aussage, dass „das Europa der Eliten“ gescheitert sei. Das klingt gut und wichtig, doch was konkret bedeutet das denn?

Als Bürger muss man sich das schon selbst erklären. Gemeint ist auf eine bestimmte Art und Weise „Brüssel“, der Apparat von Technokraten, denen Realitätsferne vorgeworfen wird. An dieser Stelle wird es nun äußerst interessant, denn wer bestimmt, wer in Brüssel das Sagen hat?

Politiker aller Länder, die Brüssel kritisieren, haben die entsprechenden Personen selbst eingesetzt. Wenn unsere Regierungen unzufrieden sind, dann sind sie es, die etwas ändern können. Es ist ja nicht so, dass die EU ein in Stein gemeißeltes Konstrukt ist, welches sich jeglichem Einfluss entzieht.

Wenn Politiker gegen die EU wettern, dann wettern sie eigentlich gegen sich selbst, denn sie waren es, die die EU in ihrer aktuellen Form gestaltet haben. Regierungen verhandeln viele Monate, um sich auf Personalien zu einigen. Ebenso sind es unsere Regierungen, die letztlich die weitreichenden Entscheidungen treffen und nicht allein „dieses Brüssel.“

Die Kritik an der EU ist letztlich ein Bekenntnis unserer Politiker, dass sie selbst versagt haben. Sie nutzen die EU als Sündenbock. Das ist kein neues Phänomen, doch je härter die Zeiten im eigenen Land sind, desto eher werden die Probleme auf die EU geschoben.

Durch die innenpolitische Taktik der Politiker, sich selbst der Verantwortung zu entziehen und alles auf Brüssel zu schieben, haben sie sich nun etwas schwer Kontrollierbares eingebrockt. Besonders deutlich wird dies in Großbritannien. Brexit-Befürworter haben einen absolut inhaltsleeren Wahlkampf betrieben. Die einzige Kernaussage, die sie anzubieten hatten (Brüssel ist an allem schuld), ist falsch.

Die EU bringt auch Probleme mit sich, keine Frage. Unterm Strich profitieren Länder jedoch von der Europäischen Union. Es gibt einen guten Grund dafür, dass entgegen aller Probleme und Kritik, viele Länder nach wie vor beitreten wollen. Das tun sie kaum, um sich selbst zu schaden.

In Großbritannien wurde das Referendum zur Spielwiese für Politiker, die sich einmal richtig populistisch austoben wollten. Insgeheim hat niemand damit gerechnet, dass es tatsächlich eine Mehrheit für den Brexit geben würde. Am Wahlabend war das Brexit-Lager nach den ersten Umfragen fast schon erleichtert, dass es nach einer Mehrheit für den Verbleib aussah. Gepoltert wurde trotzdem, allerdings in extrem heiterem Zustand. Dann drehte sich das Blatt. Seitdem sind diese Politiker überraschend still.

Nun müssen Politiker die Sache ausbaden, die sie sich selbst eingebrockt haben. Gerechnet hat damit niemand, sodass die Ratlosigkeit gut nachvollziehbar ist. Viele Brexit-Befürworter haben offenkundig nie damit gerechnet, dass sie dieses Schlamassel ausbaden müssen. Das zeigt wie verantwortungslos gehandelt wurde.

Anstatt sich an der Sache zu orientieren, wurden schlichtweg populistische Parolen ausgegeben, ein Großteil derer keinen Realitätsbezug hatte. Das Brexit-Lager hat die Wählerschaft bis zu einem gewissen Grad mit Falschinformation versorgt. Da niemand annahm, dass es genug Wähler gibt, die tatsächlich daran glauben, dachte man wohl, der Wahrheitsgehalt der Parolen sei irrelevant.

Es ist unerträglich zu sehen, wie verantwortungslos Politiker mit ihrer Macht umgehen. Jeder Politiker sollte sich darüber im Klaren sein, dass es viele Menschen gibt, die ihnen zuhören und auch viele, die selbst den größten Unsinn glauben. Wer das ausnutzt ist verantwortungslos und handelt fahrlässig.

In der EU gibt es zweifelsohne Reformbedarf. Persönlich denke ich jedoch nicht, dass die EU gescheitert ist. Die derzeitige Situation zeigt vielmehr, dass unsere Politiker gescheitert sind und nicht so nur Brüssel. Es wird Zeit, dass Politiker wieder anständig mit ihrer Verantwortung umgehen. Geschieht das nicht, dann wird das verantwortungslose Handeln in den einzelnen Ländern doch zum Zerfall der EU führen, obwohl das niemand wirklich zu wollen scheint.

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21 Kommentare

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  • Peter Zumdeick
    Peter Zumdeick

    Wo ist Harald ???

    Hat er Urlaub ... ???

    23:50 Uhr, 04.07. 2016
    1 Antwort anzeigen
  • Kasnapoff
    Kasnapoff

    Das fatale am Brexit ist imo vor allem, das sich die Wortführer nun möglichst geräuschlos aus dem Staub machen und sich die ganze Aktion in der Tat als billiger Populismus herausstellt. Man darf sich nicht wundern, wenn Briten, die ihr Vertrauen in Johnson, Farage und Cameron gesetzt haben, nun maßlos enttäuscht sind.

    Trotzdem denke ich, das der Brexit letztlich die Demokratie stärker macht und die Zentralplaner zum Nachdenken und Innehalten veranlasst. Denn nur eine alternativlose Politik, die sich selbstherrlich über die Köpfe der Wähler hinwegsetzt, hat einen Brexit erst möglich gemacht. Hätte Frau Merkel ihre Flüchtlingspolitik intelligent gestaltet, wäre es niemals zu einem Brexit gekommen und Deutschland müsste sich auch nicht über eine Partei ärgern, die in braunen Gewässern im Trüben fischt und sich darin gefällt, farbige Nationalkicker zu diffamieren.

    Die Kaste der Berufspolitiker präsentiert sich heute überwiegend als eine machtversessene Clique, die nur die eigenen Karriereziele verfolgt, Ausnahmen bestätigen die Regel. Wenn sich das nicht schnellstens ändert, werden die alten Industrienationen nach und nach Macht, Einfluss und Wohlstand verlieren.

    22:54 Uhr, 04.07. 2016
  • FJHaydn
    FJHaydn

    "Unterm Strich profitieren Länder jedoch von der Europäischen Union. Es gibt einen guten Grund dafür, dass entgegen aller Probleme und Kritik, viele Länder nach wie vor beitreten wollen. Das tun sie kaum, um sich selbst zu schaden."

    Das Problem dieser Argumentation liegt darin, dass hier von "Ländern" als Einheit die Rede ist. Tatsächlich gibt es in vielen Ländern eine Reihe von Leuten, inbesondere Unternehmer und Politiker, die vom Anschluss profitieren - die sind natürlich dafür - während die einfachen Leute, die nachher die Zeche zahlen müssen, einfach gar nicht gefragt werden.

    Ich behaupte: Die EU ist für den Großteil der Bevölkerung sogar wirtschaftlich schädlich. Von immatriellen Dingen wie mangelndem demokratischen Einfluss, Verlust von Souveränität und Einbußen bei der kulturellen Eigenständigkeit ganz abgesehen. Das lässt sich sogar objektiv messen. Dazu braucht man nur die Entwicklung der Reallohneinkommen, der Arbeitslosigkeit, den Verlust von Staatseigentum durch Privatisierung, die sich immer weiter öffnende Schere zwischen Arm und Reich, die Zunahme der Staatsverschuldung, usw. ansehen. Kurzfristig gibt es zwar oft einen kurzen Boom, der aber schnell abflaut und dann in eine lange Agonie übergeht. So geschehen bei Portugal, Spanien, Lettland, Griechenland. Auch in D ging es für den Großteil der Bevölkerung seit der Euroeinführung ständig bergab.

    18:37 Uhr, 04.07. 2016
    1 Antwort anzeigen
  • 1 Antwort anzeigen
  • fan99
    fan99

    Willkommen zurück Hr. Schmale... Das waren doch keine 3 Wochen :-)

    16:33 Uhr, 04.07. 2016

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Über den Experten

Clemens Schmale
Clemens Schmale
Finanzmarktanalyst

Clemens Schmale hat seinen persönlichen Handelsstil seit den 1990er Jahren an der Börse entwickelt.

Dieser gründet auf zwei Säulen: ein anderer Analyseansatz und andere Basiswerte. Mit anders ist vor allem die Kombination aus Global Makro, fundamentaler Analyse und Chartanalyse sowie Zukunftstrends gemeint. Während Fundamentaldaten und Makrotrends bestimmen, was konkret gehandelt wird, verlässt sich Schmale beim Timing auf die Chartanalyse. Er handelt alle Anlageklassen, wobei er sich größtenteils auf Werte konzentriert, die nicht „Mainstream“ sind. Diese Märkte sind weniger effizient als andere und ermöglichen so hohes Renditepotenzial. Sie sind damit allerdings auch spekulativer als hochliquide Märkte. Die Haltedauer einzelner Positionen variiert nach Anlageklasse, beträgt jedoch meist mehrere Tage, oft auch Wochen oder Monate.

Rohstoffe, Währungen und Volatilität handelt er aktiv, in Aktien und Anleihen investiert er eher langfristig. Die Basiswerte werden direkt – auch über Futures – oder über CFDs gehandelt, in Ausnahmefällen über Optionen und Zertifikate.

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