Kommentar
18:50 Uhr, 10.08.2017

Liegt die Arbeitslosenrate in Wirklichkeit bei 22%?

Jeder weiß: die Arbeitslosenstatistiken malen ein zu freundliches Bild. Dafür sorgen die ständigen Revisionen der Erhebungsmethoden. Wie sieht es ohne die Schönfärberei aus?

Alles ist Ansichtssache. Das ist bei der Arbeitslosenrate nicht anders. Die einen feiern die niedrigsten Arbeitslosenquoten seit Jahrzehnten (Deutschland) oder bejubeln sich selbst, dass nach wie vor Jobs geschaffen werden (Trump, USA). Die anderen halten das für eine Verschwörung und sprechen gar von Rekordarbeitslosigkeit.

Beides ist Unsinn. Weder haben wir ein nie dagewesenes Beschäftigungswunder, noch haben wir Rekordarbeitslosigkeit. Trotzdem halten viele daran fest. Sie weigern sich anzuerkennen, dass heute mehr Menschen Jobs haben als 2009 – zumindest in Deutschland und den USA.

Gerne und oft zitiert werden für die USA die Shadow Statistics (bei uns zuletzt bei meinem Kollegen Andreas Hoose referenziert ). Es handelt sich um eine alternative Arbeitslosenrate, die die „wahren“ Zustände aufzeigen soll. Die Quote wird berechnet, indem die breit gefasste U6 Arbeitslosenrate (offizielle Rate plus Teilzeitbeschäftigte, die Vollzeit arbeiten wollen und lose mit dem Arbeitsmarkt verbundenen Personen) als Ausgangspunkt genommen wird.

Zu der Zahl der U6 Arbeitslosen kommen nun noch einige hinzu. Dabei handelt es sich um Menschen, die einen Job wollen, aber länger als 12 Monate nicht mehr nach einem Job gesucht haben. Das klingt harmlos, ist es aber nicht. Es sind nämlich viele Menschen, die so entmutigt sind, dass sie schon lange nicht mehr nach einem Job suchen.

Zählt man diese Personen den U6 Zahlen hinzu, so erhält man angeblich eine Arbeitslosenrate von 22,1 % für die USA. Das muss man erst einmal verdauen. Wenn man das getan hat, kommt große Erleichterung auf – zumindest, wenn man in die Details geht.

Die Shadow Stats berechnen sich nicht aus den tatsächlichen Zahlen, sondern aus einer Schätzung dieser Zahlen. Schätzen kann man viel, ohne dass es auch nur ansatzweise mit der Realität zu tun haben muss. Das scheint hier der Fall zu sein.

Vor 1994 waren die jetzt nicht mehr erfassten Langzeitentmutigten Teil der Statistik und wurden in der Arbeitslosenquote berücksichtigt. Das ist nun nicht mehr der Fall, aber die Daten gibt es immer noch. Die Arbeitsstatistiken erfassen sehr genau, wer zu Erwerbsbevölkerung gehört und wer nicht. Noch wesentlicher: die Nicht-Erwerbsbevölkerung wird genau untersucht.

Derzeit befinden sich 93,2 Mio. Amerikaner nicht in der Erwerbsbevölkerung. Die Erwerbsbevölkerung selbst besteht aus 162 Mio. Menschen. Die offizielle Arbeitslosenrate wird berechnet, indem die Arbeitslosenzahl durch die Erwerbsbevölkerung dividiert wird. Als arbeitslos gelten allerdings nur jene, die keinen Job haben, aber nach einem suchen. Diejenigen, die nicht aktiv nach einem Job suchen, aber einen wollen, sind Teil der 93,2 Mio. Amerikaner.

Die 93,2 Mio., die nicht zur Erwerbsbevölkerung gehören, unterteilen sich in diejenigen, die einen Job wollen und jene, die nicht arbeiten wollen. Von den 93,2 Mio. wollen 87,5 Mio. derzeit keine Arbeit. Wieso?

Dazu muss man ein wenig ausholen. Zunächst muss man festhalten, dass die Erwerbs- und Nicht-Erwerbsbevölkerung alle Personen einschließt, die über 16 Jahre alt sind. Es gehören also auch Rentner dazu. Das erklärt schon einmal, weshalb ein Großteil der Nicht-Erwerbsbevölkerung keinen Job will. Sie sind in Rente.

Insgesamt beträgt die potentielle Erwerbsbevölkerung (>16 Jahre) 255 Mio. Menschen. Wirklich im arbeitsfähigen Alter (16-64) sind 205 Mio. Davon zählen 162 Mio. zur Erwerbsbevölkerung. Die Differenz beträgt 43 Mio. Davon wiederum befindet sich fast die Hälfte noch in der Ausbildung (Schule, Collage, Universität usw.). Weitere 45 % geben explizit an, dass sie nicht arbeiten wollen oder können. Gründe gibt es dafür viele, sei es, weil sich ein Elternteil um die Kinder kümmert oder aufgrund einer Behinderung schlichtweg nicht arbeiten kann.

Unterm Strich bleiben 5,7 Mio. Personen, die nicht in der Statistik aufscheinen, aber arbeiten wollen. Sie suchen zwar nicht aktiv nach einem Job, aber wenn ihnen aus heiterem Himmel jemand Arbeit anbieten würde, könnten sie in den Arbeitsmarkt zurückkehren.

Addiert man nun diese Zahl zu der U6 Quote, dann erhält man ein Bild wie in der Grafik dargestellt. Demnach sind gut 12 % der Erwerbsbevölkerung als Arbeitslose zu qualifizieren. Breiter kann man die Arbeitslosenrate nicht fassen. Es geht einfach nicht – es sei denn man „schätzt“ die Zahl, die in Wirklichkeit 5,7 Mio. beträgt, sehr viel höher. Den Shadow Stats nach dürfte es sich nicht um 5,7 Mio. handeln, sondern um 22 Mio. Selbst wenn man alle Augen zudrückt, grenzt das immer noch an übelste Fälschung.

Wie dem auch sei, 12 % Arbeitslosenquote ist zu viel, viel zu viel. Da muss sich etwas tun. Feiern darf man das nicht. Man darf auch nicht vergessen, dass die Quote wenig über die Qualität der Jobs aussagt. Eigentlich sollte das der wahre Gradmesser der Arbeitslosigkeit sein: wie viele Menschen, die arbeiten wollen, können von den vorhandenen Jobs auch wirklich leben?

Clemens Schmale

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4 Kommentare

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  • Chronos
    Chronos

    Ist ja alles ganz nett, aber wieder eine reine Übersetzung von Yankee-pages,

    Ist ja mehr eine Aufzählung von Trump-Wählern...

    Dabei fehlt die Gegenüberstellung. Das mit den pensioners (retired persons) verstehe ich nicht ganz und es ist die Frage ob sich das mit dem europäischem Kontinent vergleichen lässt?

    Vermutlich eher mit Asien.

    Dabei wird diese Rechnung auch gerne in Deutschland unterschlagen.

    82,5 Mio Einwohner und irgendwas, minus refugees, minus pensioners, minus privateers (private means), minus (early)-retired persons, minus Clerks AD. Wobei letztere drei sicher mathematisch kaum ins Gewicht fallen, bis auf die Beamten als Diskussions oder Streitgrundlage.

    Daher einfache Frage: Wer arbeitet noch in D und zahlt die entsprechenden Steuern?

    19:03 Uhr, 14.08. 2017
  • Matt35
    Matt35

    Was auch gerne "vergessen" wird, sind die vielen Person, die als arbeitslos gelten, aber sehr gut von Schwarzarbeit leben. Wenn man diesen Anteil noch abzieht, liegt die Quote wahrscheinlich noch erheblich geringer.

    Ich danke Ihnen für diesen Bericht, der mal wieder aufzeigt, wie Populisten wie Herr Hoose die Tatsachen mit "alternativen Fakten" verdrehen.

    07:15 Uhr, 14.08. 2017
    1 Antwort anzeigen
  • Bigdogg
    Bigdogg

    Interessant...aber wie sie schon sagen: Auch 12% sind mies, dazu noch die Qualität der "neuen" Jobs von 2010-2017 und man weiss, warum nichts zusammenläuft in den USA (und noch viel mehr in Europa)

    09:00 Uhr, 11.08. 2017

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Über den Experten

Clemens Schmale
Clemens Schmale
Finanzmarktanalyst

Clemens Schmale hat seinen persönlichen Handelsstil seit den 1990er Jahren an der Börse entwickelt.

Dieser gründet auf zwei Säulen: ein anderer Analyseansatz und andere Basiswerte. Mit anders ist vor allem die Kombination aus Global Makro, fundamentaler Analyse und Chartanalyse sowie Zukunftstrends gemeint. Während Fundamentaldaten und Makrotrends bestimmen, was konkret gehandelt wird, verlässt sich Schmale beim Timing auf die Chartanalyse. Er handelt alle Anlageklassen, wobei er sich größtenteils auf Werte konzentriert, die nicht „Mainstream“ sind. Diese Märkte sind weniger effizient als andere und ermöglichen so hohes Renditepotenzial. Sie sind damit allerdings auch spekulativer als hochliquide Märkte. Die Haltedauer einzelner Positionen variiert nach Anlageklasse, beträgt jedoch meist mehrere Tage, oft auch Wochen oder Monate.

Rohstoffe, Währungen und Volatilität handelt er aktiv, in Aktien und Anleihen investiert er eher langfristig. Die Basiswerte werden direkt – auch über Futures – oder über CFDs gehandelt, in Ausnahmefällen über Optionen und Zertifikate.

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