Kommentar
10:11 Uhr, 05.12.2018

Kopernikanische Wende in Europa

Die europäischen Finanzminister haben sich gestern gerade mal auf einen Minimalkompromiss bei der Reform des Euros geeinigt. Warum tun sie sich so schwer?

  • In der EU bilden sich zunehmend regionale Interessengruppen.
  • Europa fällt dadurch nicht auseinander. Es verändert sich aber. Die Zusammen­arbeit wird schwerer.
  • Die EU wird entgegen manchen Befürchtungen keine südeuropäische "Festung".

In Amerika ist es üblich, sich gegenüber Fremden immer mit Namen und Herkunftsland vorzustellen. Also zum Beispiel "Henry Miller, Arizona". Der erste Präsident der Europäi­schen Zentralbank, Wim Duisenberg, wollte das nachma­chen. Wenn er seine Kollegen vorstellte, nannte er bei je­dem auch das Herkunftsland. Das waren bei ihm aber nicht die Nationalstaaten, sondern schlicht "Europe". Der Chef­volkswirt etwa hieß Otmar Issing, Europe.

Das hat manch einen Besucher aus Übersee irritiert. Euro­pa war doch keine Heimat. Es war aber die Zeit, in der der Kontinent noch eine viel stärkere Bindungskraft hatte. Diese Euphorie ist verloren gegangen. Heute klingt das anders. Der deutsche Finanzminister Scholz sagt ohne Umschweife: "Der deutsche Finanzminister ist der deutsche Finanzminis­ter", auch wenn er in Brüssel ist. Sein Kollege aus Den Haag, Wopke Hoekstra, verweist ganz unverblümt allein auf den Nutzen für die Niederlande, nach dem er europapoliti­sche Vorschläge beurteilt.

Das ist eine kopernikanische Wende. Europa ist nicht mehr die Gemeinschaft, die primär um des Friedens, der gemein­samen Werte und der gemeinsamen Geschichte und Kultur gewollt wird. Sie ist auf dem Weg zu einer Zweckgemein­schaft, die die Interessen seiner Mitglieder in der Welt bes­ser durchsetzt. Wenn es dem eigenen Volk nutzt, ist man für Europa, wenn nicht, dann eben nicht. Großbritannien tritt aus, weil es glaubt, seine Interessen allein besser zu vertre­ten. Der Nationalismus treibt auch in Europa seine Blüten.


Keine Angst, Europa fällt dadurch nicht auseinander.


Das zeigt sich auch auf anderen Gebieten. In letzter Zeit ha­ben sich – von der Öffentlichkeit wenig beachtet – einige Mitglieder der Gemeinschaft zu regionalen Gruppen zusam­mengeschlossen. Sie wollen damit ihren Interessen größere Durchsetzungskraft verleihen. Zuletzt wurde hier die "Han­seatische Liga" gebildet. Ihr gehören – unter Führung der Niederlande – die Länder Irland, Finnland, das Baltikum so­wie Schweden und Dänemark an. Sie machen sich gerade einen Namen durch ihre Opposition gegen die deutsch-fran­zösischen Pläne zur Reform des Euroraums. Da reden auch die Nicht-Euro-Länder Schweden und Dänemark kräftig mit.

Bereits seit längerem gibt es die Gruppe "Visegrád V4". Ihr gehören Polen, Ungarn, die tschechische Republik und die Slowakei an. Ihnen geht es vor allem um die Verteidigungs- und Flüchtlingspolitik. Sie haben bereits eine gemeinsame Kampftruppe aufgestellt und unterhalten eine gemeinsame Botschaft in Südafrika. Manche empfinden auch Deutsch­land und Frankreich als eine solche Gruppe. Dem wider­sprechen Berlin und Paris allerdings vehement. Sie verste­hen sich – nicht unbescheiden – nicht als Interessenvertre­ter, sondern als "Herz Europas". Gemeinsame Interessen gibt es auch unter den südeuropäischen Ländern. Eine for­melle Gruppe ist daraus aber nicht entstanden, jedenfalls bisher nicht.

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Eigentlich ist es keine Überraschung, dass sich in einer Ge­meinschaft von 27 Ländern mit unterschiedlichen Interessen Gruppen bilden. Koalitionen gab es immer schon. Dass sich diese aber zu Blöcken verfestigen, ist neu. Er hat verschie­dene Gründe. Einer ist, dass die "Großen", vor allem Deutschland und Frankreich, im Vertrauen auf ihr Gewicht offenbar zu wenig Rücksicht auf die Kleineren nehmen. Die­se fühlen sich überfahren. Sie sehen ihre Interessen nicht ausreichend berücksichtigt. Das ist eine Gefahr, die in der Gemeinschaft von Anfang an bestand. Der deutsche Bun­deskanzler Kohl hatte, in der damals noch kleineren Ge­meinschaft, stets großen Wert auf die Zustimmung der klei­neren Mitglieder gelegt.

Eine Rolle spielte auch der Euro. Seine Mitglieder empfan­den sich von Anfang an als etwas Besseres, gewisserma­ßen als "Speerspitze" der Integration. Sie treffen sich bei vielen Ministerratssitzungen schon am Abend vorher und verständigen sich auf strittige Punkte. Am nächsten Morgen stellen sie die anderen dann vor vollendete Tatsachen. Das schürt natürlich Unmut. Der Brexit führt dazu, dass eine wichtige liberale Stimme in der EU wegfällt. Einige Länder fürchten, dann von den Staaten in Süd- und Mitteleuropa dominiert zu werden. Daher die Gründung der Hanseati­schen Liga. Der Zustrom der Flüchtlinge in den letzten Jah­ren – und natürlich auch der Populismus in Polen und Un­garn – führte zur Bildung der Visegrád Gruppe.

Was bedeutet diese Blockbildung nun für die EU? Keine Angst, Europa fällt dadurch nicht auseinander. Es wird auch nicht schwächer. Die emotionale Bindung zwischen den Mit­gliedern der EU wird aber geringer. Zudem wird die Ge­meinschaft anders. Die Willensbildung wird schwieriger. Entscheidungen dauern länger. Es ändert sich auch die Richtung der EU. Sie wird liberaler, pragmatischer und of­fener gegenüber der Welt. Die Vertiefung der Integration, die lange Zeit immer hohe Priorität hatte, ist kein Oberziel mehr. Wenn sie stockt, wird das von vielen nicht als Bein­bruch gesehen. Die Gemeinschaft wird dezentraler. Es ist nicht auszuschließen, dass auch Mitglieder austreten. Das ist in meinen Augen aber kein Unglück. Man soll niemanden in der Gemeinschaft halten, der glaubt, alleine besser aus­kommen zu können.

Die stärkere Südorientierung der EU, die viele durch den Brexit befürchteten, wird durch die Hanseatische Liga ver­hindert. Deutschland und Frankreich, als die größten Mit­glieder der Gemeinschaft, sitzen nicht mehr allein im "Driv­er's Seat". Sie müssen mehr Rücksicht auf die anderen nehmen. Schließlich verliert auch der Euro seine Sonder­stellung. Er ist nicht mehr die höchste Form der Integration und das Zentrum der Gemeinschaft. Schweden, Dänemark sowie die mittel- und osteuropäischen Länder, die dem Euro nicht angehören, fordern eine stärkere Berücksichtigung. Das ist für das internationale Renommee der EZB kein Nachteil. Sie verliert aber innerhalb des europäischen In­stitutionengefüges an Bedeutung. Es wird nicht mehr jeder dem Euro beitreten wollen. Aber auch das ist kein Fehler.

Für den Anleger

Für die Kapitalmärkte wird Europa dadurch kurzfristig nicht attraktiver. Die anstehenden Reformen wie Banken- und Kapitalmarktunion werden länger dauern. Andererseits wird Europa nicht zu einer südeuropäischen "Festung", die eini­ge globale Investoren befürchteten. Die Hanseatische Liga wird dafür sorgen, dass Europa offen und handels- und kapitalmarktorientiert bleibt. Sie können Ihr Geld weiter in Europa anlegen.


Anmerkungen oder Anregungen? Ich freue mich auf den Dialog mit Ihnen: martin.huefner@assenagon.com.

Dr. Martin W. Hüfner, Chefvolkswirt von Assenagon Asset Management S.A.

2 Kommentare

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  • AndyBörse
    AndyBörse

    Tja, dass ist eine Sicht auf Europa. Wer will Europa, wer will dass alles so schnell umgesetzt wird, die Regierungschefs oder die Menschen die in Europa leben? Wie wäre es mit einer Volksabstimmung, ... nein die wird es nicht geben, weil wir nicht in einer Demokratie leben, das Ergebnis will keine Regierung sehen, am allerwenigsten die deutsche und französische Regierung.

    18:10 Uhr, 05.12.2018
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