Kommentar
15:06 Uhr, 27.08.2015

Kein Beginn einer Rezession in den Industrieländern erwartet

Nachdem der Montag vermutlich als „verrückter Börsentag“ in die Geschichte eingehen wird, kommentiert Jakob Tanzmeister, Produktexperte für Multi Asset Portfolios bei J.P. Morgan Asset Management, die Entwicklungen im Kontext der Makroeinschätzungen: „Die Marktbewegungen waren sicherlich bedeutend – allerdings hat sich der Kursrutsch in einer Woche ereignet, in der das US-Wachstum für das 2. Quartal vermutlich um mindestens einen Prozentpunkt auf 3,2 Prozent nach oben revidiert wird. Die Schlussfolgerung, dass wir den Beginn einer Rezession in den Industrieländern erleben, dürfte also zu weit hergeholt sein“, so der Experte. Inzwischen seien sehr beliebte Positionen, so genannte „crowded trades“, wie beispielsweise US-Dollar-Long-Positionen gegenüber dem Euro sowie Engagements bei europäischen Aktien oder Hochzinsanleihen, abgebaut, so dass sich die Märkte insgesamt wieder beruhigt haben. Insgesamt zeigten sich die Schwellenmärkte und Rohstoffe mittlerweile technisch stark überverkauft, während US-Anleihen in hohem Maße überkauft seien.

Erholung in den USA und Europa sollte sich weiter fortsetzen

Die dramatischen Marktbewegungen zum Wochenbeginn resultieren laut dem Experten aus Sorgen um die Schwellenländer und insbesondere das chinesische Wachstum, was durch die geringe Liquidität der Märkte während des Sommers und die Unsicherheit über den nächsten Schritt der Federal Reserve (Fed) zusätzlich verstärkt wurde. „Wir teilen allerdings nicht die Vermutung, dass die Entwicklungen in den Schwellenländern die US-Wirtschaft in eine Rezession abdriften lassen wird“, betont Tanzmeister. Die jüngste Schwäche bei Rohstoffen, insbesondere bei Öl, sei vielmehr die Folge eines Überangebots, das bereits seit Längerem bestehe. Im Zusammenwirken mit dem Rückgang der Nachfrage in den Schwellenländern ergebe sich dadurch ein deutlich trüberes Bild für den Welthandel, als dies den Tatsachen entspräche. Die Folge sei eine Abwärtskorrektur der globalen Wachstumserwartungen und eine übertriebene Sorge, dass die Abkühlung in den Schwellenländern auf die Industrieländer übergreifen könnte. „Wir erwarten dies nicht, halten aber in einigen zyklischen Unternehmenssektoren Gewinneinbußen für möglich. Die wirtschaftliche Erholung in den USA und Europa sollte sich aber fortsetzen. Außerdem dürften die niedrigen Ölpreise und eine leichte Abwertung des US-Dollars die Wirtschaft in den kommenden Monaten beflügeln“, betont Tanzmeister.

Divergenz zwischen Industrie- und Schwellenländern

Das globale Wachstum entwickelt sich derzeit gegenläufig – so zeigen die aktuellen Einkaufsmanagerindizes (PMI) deutliche Unterschiede zwischen den Schwellen- und Industrieländern. Während der chinesische Einkaufsmanagerindex auf 47,1 Punkte und damit auf den tiefsten Stand seit der Finanzkrise gesunken ist, bewegen sich die PMIs für das verarbeitende Gewerbe in den USA mit 52,9 immer noch im Expansionsbereich, das heißt oberhalb der Grenze von 50. Auch die europäischen PMIs liegen nach wie vor auf einem robusten Niveau von 54,1. „Diese Frühindikatoren belegen, dass die Angst vor einem drastischen Einbruch der Wirtschaftserholung in Europa übertrieben ist“, so der Experte. Die Schwellenländer leisten zwar inzwischen einen größeren Beitrag zum globalen Wachstum als in der Vergangenheit, allerdings sind die Folgen einer Abkühlung der Schwellenländer für Europa und die USA aktuell begrenzt: Gemessen am BIP machen Exporte rund 13 Prozent des US-BIP und 42 Prozent des BIP in der Eurozone aus, rechnet man allerdings die Einfuhren hinzu, liegen diese Werte im unteren Einstelligen Bereich. „Eine Baisse in den Schwellenländern wird das Wachstum zwar schwächer ausfallen lassen, jedoch nicht notwendigerweise eine Rezession hervorrufen, wobei die negativen Effekte in Europa stärker zu spüren sein werden“, erläutert Tanzmeister.

US-Zinserhöhung im September inzwischen sehr unwahrscheinlich

Vor dem Hintergrund der weltweit turbulenten Aktienmärkte befindet sich die Fed in einer Zwickmühle: Eine Zinserhöhung im September würde nun wahrscheinlich als verfrüht gewertet, während ein Aufschub als Bestätigung dafür betrachtet würde, dass das globale Wachstum zu langsam ist. Für eine Zinserhöhung im September wird derzeit eine Wahrscheinlichkeit von weniger als 20 Prozent vom Markt eingepreist, und die aktuelle Bewegung des US-Dollar spricht ebenfalls für einen Aufschub des ersten Zinsanstiegs. Ein weiterer Grund für die Fed eine Zinserhöhung aufzuschieben, ist neben schwachen Finanzmärkten und dem Ölpreisverfall die niedrige Inflation.

Kaufgelegenheiten bei Aktien nutzen

Die rasante Korrektur am Aktienmarkt hat die Märkte überrascht. Ungeachtet technischer Faktoren, ist sie in ihrem Ausmaß – zumindest in den Industrieländern – fundamental auch nur eingeschränkt begründbar. Es stimmt, dass US-Aktien etwas überteuert erschienen. Die jüngsten Bewegungen haben die Kurs-Gewinn-Verhältnisse jedoch wieder in die Nähe des Durchschnittswerts von 15,5-fach geführt. „Der Gewinneinbruch im Energiesektor dürfte sich 2016 wohl nicht im gleichen Ausmaß wiederholen, und wir halten Gewinnsteigerungen von 7 bis 8 Prozent nicht für unrealistisch, zumal das nominale US-BIP-Wachstum im 2. und 3. Quartal 2015 bei rund 4,5 Prozent liegen sollte. Die Widerstandskraft der US-Binnenwirtschaft und der Boom durch den Ölpreisrückgang dürften das Wachstumsbild für das nächste Jahr günstig beeinflussen“, unterstreicht Tanzmeister. In Europa, wo die Exportabhängigkeit größer ist, dürften gegebenenfalls die Gewinne zyklischer Unternehmen belastet sein, aber nicht die Binnenerholung in der Eurozone zum Erliegen kommen. „Alles in allem scheinen Aktien aus den Industrieländern eher unter einer plötzlichen Risikoaversion als unter einer Neueinschätzung der fundamentalen Situation zu leiden“, so der Experte.

Die Anleihenmärkte haben in den letzten Tagen dagegen überraschend zurückhaltend reagiert. „Vermutlich hatten sie die Ereignisse bereits vorweggenommen, denn die Renditen zehnjährige US-Treasuries hatten schon deutlich nachgegeben, noch bevor die Aktienmärkte überhaupt bemerkt hatten, dass der Wind sich dreht“, sagt Tanzmeister. Mit 195 Basispunkten bei zehnjährigen US-Papieren erscheinen die Laufzeiten-Risikoprämien nun übertrieben niedrig, und die realen Renditen preisen einen regelrechten Wachstumseinbruch ein. „Da wir ein solches Szenario für unwahrscheinlich halten, verändert sich die Chance-Risiko-Konstellation an den Anleihenmärkten. Tatsächlich hat die Duration nicht mit dem Ausmaß der Schwäche an den Aktienmärkten Schritt gehalten, was bedeuten könnte, dass das Abwärtspotenzial bei den Renditen von nun an möglicherweise begrenzt ist“, erläutert der Experte. Die Aussicht auf weitere Stimuli seitens anderer Zentralbanken könnte dafür sorgen, dass die Risikoprämien niedrig bleiben. „Sobald jedoch die Wogen geglättet sind, werden Aktien aus den Industrieländern wieder zu ihren durchschnittlichen Bewertungen zurückkehren, Staatsanleihen hingegen teuer bleiben“, meint Tanzmeister.

So ist das Fazit des Experten: „Unsere Makro-Kernthemen einer niedrigen Inflation, divergierender Geldpolitik, einer Neuausrichtung der chinesischen Wirtschaft, sowie unsere Präferenz von Industrie- gegenüber Schwellenländern behalten nach wie vor ihre Gültigkeit. Wir schauen für unsere Multi Asset-Portfolios nach Chancen bei Aktien aus den Industrieländern und bei Unternehmensanleihen. Dagegen erscheinen die Anleihenmärkte anfällig, und falls die Fed tatsächlich im September ihr Pulver trocken hält, könnten die Zinskurven weiter relativ steil bleiben.“

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