Indien: Anders als die anderen BRIC-Staaten
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In den letzten Monaten ist der Blick auf die Emerging Markets (EM) strenger geworden. Dabei sollte man aber keinesfalls alle über einen Kamm scheren. Selbst innerhalb der Gruppe der sogenannten BRICS-Staaten – Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika – sind durchaus Unterschiede festzustellen. Sukumar Rajah, Managing Director und Chief Investment Officer bei Franklin Local Asset Management, Asian Equity, denkt, dass das „wachstumsfreundliche“ Umfeld in Indien, das die Regierung durch verschiedene Reformen geschaffen hat, das Land auf Wachstumskurs halten und vor potenziellen Weltmarktschocks schützen dürfte.
Nachdem allgemein eingehend über die besorgniserregende Entwicklung des Wirtschaftswachstums in China berichtet wurde, überrascht es nicht, dass auch die Aussichten für andere Schwellenmärkte, unter anderem Indien, skeptischer gesehen werden. In Indiens Fall scheinen jedoch viele Kommentatoren einen entscheidenden Punkt zu übersehen: Anders als viele andere Schwellenmärkte ist Indien kein Land, das in hohem Maße exportiert. Indiens Volkswirtschaft wird vielmehr durch die Binnennachfrage getrieben.
Da der Anteil der Exporte an Indiens Bruttoinlandsprodukt (BIP) nur 23,6% ausmacht, denken wir, dass eine Abkühlung der Weltkonjunktur wahrscheinlich nur geringe Auswirkungen auf die Volkswirtschaft hätte. Anders als Russland und Brasilien, die in hohem Maße von den Rohstoffpreisen abhängig sind und deshalb unter einer globalen Abkühlung leiden würden, ist Indien als Nettoimporteur einer der Hauptnutznießer niedriger Rohstoffpreise.
Wenn die Rohstoffpreise und damit auch die Importkosten fallen, dürfte Indien – anders als andere BRICS-Staaten – unserer Einschätzung nach gut aufgestellt sein, von der aktuellen Wirtschaftslage zu profitieren. Indien ist der einzige BRICS-Staat, dessen BIP von 2013 bis 2014 gestiegen ist.
Anzeichen für einen Konjunkturaufschwung in Indien sind bereits zu erkennen: Die beiden Defizite (das Haushalts- bzw. das Außenhandelsdefizit) scheinen unter Kontrolle, die Inflation ist seit 2014 deutlich zurückgegangen und die Währungsreserven sind gestiegen. Dies lässt vermuten, dass das Land weniger gefährdet wäre, falls ausländische Investoren ihr Kapital abziehen sollten. Während andere BRICS-Staaten mit ihren eigenen internen Problemen zu kämpfen haben, scheint Indien sich auf einem anderen Weg zu befinden.
Eine starke Wachstumsstory
Wir denken, dass sich Indien in einem wichtigen Punkt von vielen anderen Volkswirtschaften im Rest der Welt, insbesondere von anderen Schwellenmärkten, unterscheidet: Indien hat das Potenzial, noch weitere zwei bis drei Jahrzehnte kräftig weiterzuwachsen.
Diese Einschätzung stützt sich auf vier Faktoren, nämlich: den Anteil der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter, die Arbeitsproduktivität, den steigenden Anteil der Investitionsausgaben am BIP sowie die Kapitalproduktivität. Wir denken, dass Indien die Chance hat, sich langfristig in allen diesen vier Bereichen weiter zu steigern und langfristig nachhaltiges Wachstum zu erzielen. Eine jüngst von den Vereinten Nationen vorgelegte Studie kommt zu dem Schluss, dass Indien schon 2022 eine größere Bevölkerung haben wird als China – sechs Jahre früher als zuvor prognostiziert. Im Jahr 2022 werden beide Länder schätzungsweise 1,4 Milliarden Einwohner haben, wobei Indiens Bevölkerung bis 2030 auf 1,5 Milliarden und bis 2050 auf 1,7 Milliarden steigen dürfte, während Chinas Bevölkerungszahl voraussichtlich ab 2030 konstant bleiben wird.
Indiens BIP pro Kopf entspricht etwa dem Stand Brasiliens von 1983 bzw. Chinas im Jahr 2004: Indiens Wohlstand liegt also Jahrzehnte hinter demjenigen anderer Schwellenmärkte zurück, so dass Indien noch sehr viel nachzuholen hat. Gleichzeitig bietet Indien sehr viel hoch qualifiziertes Humankapital, so dass das Land im Bereich der handelbaren Dienstleistungen wie auch in Sektoren mit höherer Wertschöpfung, etwa bei IT und Pharmazeutika, sehr konkurrenzfähig ist.
Auch Indiens Altersabhängigkeitsquotient – der Anteil der sehr Jungen bzw. sehr Alten, der als von der erwerbsfähigen Bevölkerung (in der Regel Personen zwischen 15 und 64 Jahren) abhängig angesehen wird – wird voraussichtlich bis 2040 zurückgehen, während in vielen anderen Ländern ein Anstieg dieser Kennzahl zu erwarten ist. Dieser Trend dürfte für ein Arbeitskräfteangebot sorgen, welches das vieler anderer Länder übertrifft. Die daraus resultierenden Chancen für starkes Binnenwachstum und Einzelhandel kämen Indiens wachsender Mittelklasse zugute, die voraussichtlich 2030 die 1,1-Milliarden-Marke erreichen wird.
Ein weiterer wichtiger Faktor sind die für ausländische Direktinvestitionen geltenden Vorschriften hinsichtlich des Anteils, den ausländische Investoren an indischen Gesellschaften halten dürfen. Dieser Faktor stärkt Indiens Resilienz, insbesondere in Bereichen wie Eisenbahnbau, Verteidigung und Versicherung, die einen starken Aufschwung erleben. Nicht zuletzt dank des Engagements des indischen Premierministers Narendra Modi hat die indische Regierung die für Versicherungsgesellschaften geltende zulässige Höhe ausländischer Direktinvestitionen im Juli dieses Jahres fast verdoppelt, von zuvor 26% auf 49%.
Bei den Zuflüssen aus ausländischen Direktinvestitionen, die 2015 22,25% höher waren als im vorhergehenden Haushaltsjahr, wurde eine neue Rekordhöhe erreicht. Nie zuvor wurden so viele indische Aktien von ausländischen Portfolioinvestoren gehalten. Wir sehen dies als Zeichen dafür, dass Modis Reformen in die richtige Richtung gehen.
Im Zuge der jüngsten globalen Volatilität haben einige ausländische Investoren Gelder abgezogen, doch dank Indiens makroökonomischer Anpassungen der letzten 18 bis 24 Monate konnte dies durch heimische Ersparnisse ausgeglichen werden. Der Anteil der Finanzanlagen am Gesamtsparvermögen der Privathaushalte ist gestiegen, insbesondere die Anlagen in die Aktienmärkte. Die jüngst durch ausländische Anleger abgerufenen Gelder wurden durch inländische Anleger ausgeglichen, sodass sich die inländischen Aktienfonds rasch erholen konnten.
Die Aktienanlagen sind zwar gestiegen, doch zurzeit sind nur etwa 2,3% des Sparvermögens der indischen Privathaushalte in Aktien investiert. Anlegerfreundlichere Vorschriften, gute demografische Voraussetzungen, ein wachstumsfreundliches Umfeld und bessere Anlegeraufklärung könnten indischen Aktien unserer Einschätzung nach mittel- bis langfristig starke Zuflüsse durch inländische Anleger bescheren. Das würde dann möglicherweise nicht nur die Anlagenklasse der inländischen Aktien stützen, sondern auch dazu beitragen, dass die indischen Aktienmärkte weniger stark mit den anderen Märkten der Welt korrelieren, wodurch wiederum die Volatilität eingedämmt würde.
Regierung an der Arbeit
Seit sie 2014 gewählt wurde, hat die indische Regierung viele Maßnahmen ergriffen, um einige von Indiens Hauptproblemen nachhaltig und dauerhaft in den Griff zu bekommen, z. B. durch Vereinfachung der Geschäftstätigkeit, Produktivitätssteigerung, Korruptionsbekämpfung und Bürokratieabbau. Die Reformpakete erstrecken sich auf eine Vielzahl von Bereichen, von der Stromerzeugung über die Versteigerung von Ressourcen wie Kohlekonzessionen bzw. Frequenzbandlizenzen für die Telekombranche bis zur Reduzierung der Subventionen für Flüssiggas und dem Angebot von Finanzdienstleistungen für einkommensschwache Bevölkerungsteile. Eine weitere Priorität der Regierung war es, die Staatsausgaben zu erhöhen, um so das Wirtschaftswachstum zu steigern, insbesondere durch den Infrastrukturausbau, der erheblich zur Produktivitäts- und Wachstumssteigerung beiträgt. Bei den Projekten ging es um Straßen- und Eisenbahnbau sowie die Verbesserung der ländlichen Infrastruktur, wo noch viel zu tun ist. Indien rangiert inzwischen 16 Stufen höher auf dem 55. Platz des vom World Economic Forum (WEF) herausgegebenen „Global Competitiveness Report“ 2015–2016. Wir denken aber, dass das Land durch geschäfts- und wachstumsfreundliche Politik und Korruptionsbekämpfung noch weiter aufsteigen kann. China belegt zum Beispiel den 28. Platz auf der WEF-Liste.
Modi hat Indiens Haushaltsdefizit, das 2010 eine Spitze von 6,5% erreicht hatte, 2015 auf 4% des BIP konsolidiert und auch Arbeitsmarktreformen begonnen, die den Produktionssektor fördern und letztendlich zu mehr Arbeitsplätzen führen dürften. Zurzeit arbeitet er daran, den Körperschaftsteuersatz zu senken.
Kaum eine Volkswirtschaft verzeichnet so starkes Wachstum wie die indische. Schon 2015 dürfte Indien eine höhere BIP-Zuwachsrate haben als China.
Wir denken, dass sich Indien – anders als viele andere Länder – in einer beneidenswerten Position befindet: Das Land profitiert nicht nur von den bereits erwähnten strukturellen Katalysatoren, sondern auch von positiven zyklischen Faktoren, die nachhaltiges Wachstum antreiben. Indien hat einen Abschwung erlebt, der sich lange hinzog, aber die schlimmsten Zeiten scheint das Land jetzt hinter sich zu haben: Wir denken, dass das Wachstum kurz- bis mittelfristig wieder im langfristigen Trend liegen wird, nicht nur wegen der Infrastrukturausgaben und des Konsums der urbanen Bevölkerung, sondern auch wegen des dank der rückläufigen Inflation freundlichen Zinsumfelds.
Dies sind nur einige der Gründe, die unseres Erachtens dafür sprechen, dass Indiens Story gerade erst los geht.
Autor: Sukumar Rajah, Managing Director und Chief Investment Officer Franklin Local Asset Management, Asian Equity
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