Kommentar
10:01 Uhr, 03.03.2004

Folgen des US-Produktivitätsbooms

1. Die Produktivitätsentwicklung in den USA erlebte in den letzten Jahren einen Boom: Das Jahreswachstum der Produktivität lag im Zeitraum 1995 bis 2003 bei 2,8 %. Im Vergleich dazu stieg die Produktivität in den Jahren 1970 bis 1994 "nur" um 1,5 %. An Hand von folgendem Schaubild lässt sich erkennen, dass in den Jahren 2001 bis Ende 2003 das durchschnittliche Produktivitätswachstum mit 4,5 % sogar noch über dem Trend von 2,8 % lag. Zu erklären ist also erstens, wieso seit Mitte der Neunzigerjahre das Trendwachstum der Produktivität angestiegen ist, und wieso zweitens das Produktivitätswachstum seit der letzten Rezession eine geringere Abflachung der Dynamik als in vergangenen Rezessionen erlebte.

2. Permanente Produktivitätseffekte helfen den Anstieg der Trendproduktivitätswachstumsrate seit Mitte der Neunzigerjahre zu erklären. Heute ist klar, dass die Produktion und vor allem die Nutzung der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien (kurz: IKT) im Zusammenspiel mit anderen Faktoren in erster Linie hierfür verantwortlich sind:

Reorganisationseffekte: Es ist sehr wahrscheinlich, dass die mit den Ende der Neunzigerjahre vorgenommenen Investitionen in IKT einher gehenden produktivitätssteigernden Effekte sich erst jetzt auf breiter Front in der US-Wirtschaft - und hier v. a. in der Dienstleistungsbranche, die IKT nutzt - manifestieren. Das Mitte der Neunzigerjahre noch zu konstatierende Paradoxon, dass man das Computerzeitalter überall sehen könne außer in den Produktivitätsstatistiken, ist gelöst: Die berühmt-berüchtigte New Economy hat die Old Economy mit Verzögerung erfasst. Die Firmen reorganisieren mit Hilfe von IKT ihre Arbeitsprozesse und erhöhen damit die Arbeitsproduktivität ihrer Mitarbeiter. So führen z. B. zentralisierte Datenbanken dazu, dass die Arbeitnehmer mit den notwendigen Informationen über den gesamten Produktionsprozess, der in der Vergangenheit noch stark fragmentiert war, versorgt werden. Das immaterielle Kapital der Firmen in Form neuer Organisationsformen ist komplementär zu den IKT. Mit Hilfe der Reorganisationseffekte kann erklärt werden, wieso sich die Produktivitätswachstumsraten in den letzten drei Jahren erhöhten, obwohl die IKT-Investitionen gleichzeitig sanken. Die Kapitalproduktivität von Computern und Netzwerktechnologien konnte zudem dadurch erhöht werden, dass für diese Ausrüstungsgegenstände aktive Sekundärmärkte bestehen. Diese machen es möglich, ungenutztes Equipment in der Wirtschaft effektiver einzusetzen. So haben z. B. in den letzten Jahren gesunde Firmen über derartige Märkte das Computer-Equipment von gescheiterten "Dot.Com"-Firmen günstig erwerben können.

Kostensenkungsdruck: Vor dem Hintergrund einer relativ zum Potenzialwachstum schwachen Nachfrageentwicklung in den letzten Jahren und der fehlenden Preissetzungsmacht mussten die Firmen enorme Anstrengungen unternehmen, um ihre Gewinnspannen aufrecht zu erhalten. Da aufgrund der hohen Wettbewerbsintensität auf den Gütermärkten eine Stabilisierung der Gewinnspannen nicht über Preiserhöhungen möglich war, gerieten Kostensenkungsmaßnahmen in den Fokus der Unternehmen. Diese wurden zusätzlich angetrieben durch die Nachwirkungen der Bilanzskandale und der damit einher gehenden "Scheingewinne": Traumatisiert von dem Gewinndebakel in den Jahren 2001-2002 suchten die Unternehmen durch Kostensenkungen möglichst "reale" Gewinne auszuweisen. Zu den Kostensenkungsmaßnahmen gehört auch der Abbau von Überkapazitäten, die die Unternehmen in den guten Zeiten Ende der Neunzigerjahre akkumuliert hatten.

Outsourcing-Effekte: Das Outsourcing von Arbeitsplätzen durch US-Firmen in das Ausland - man denke nur an das Phänomen der Einrichtung von Call-Centern und Programmierungsabteilungen in Indien - hat ebenfalls, allerdings nur zu einem geringen Teil, zu dem Produktivitätsboom beigetragen. Dieses Outsourcing ist als ein Nebenprodukt der IKT-Revolution zu betrachten.

Preisniveaustabilität: Zu einem geringen Teil hat auch das günstige Inflationsklima zu dem Produktivitätsboom beigetragen, indem es den Wettbewerbsdruck auf die Unternehmen erhöhte: Lässt die Zentralbank nämlich keine höhere Inflationsrate als 2-3 % zu, so ist es für die Unternehmen nicht möglich, dauerhaft Preiserhöhungen durchzusetzen. Der hierdurch implizit höhere Wettbewerbsdruck generiert einen anhaltenden Kostensenkungsdruck auf die Unternehmen.

3. Zyklisch-temporäre Effekte können erklären, wieso das Produktivitätswachstum seit 2001 einen weiteren Schub erfahren hat:

Entlassungs- und Einstellungseffekte: Aufgrund der Verzögerungseffekte der Arbeitsmarktentwicklung hinsichtlich Neueinstellungen und Kündigungen im Konjunkturverlauf geht das Produktivitätswachstum dem Beschäftigungswachstum zeitlich voraus: Das Produktivitätswachstum steigt unmittelbar, wenn der Output zu steigen beginnt, und verlangsamt sich anschließend, wenn die Firmen im Aufschwung wieder vermehrt Personal einstellen. Umgekehrt horten die Firmen im Abschwung Arbeitnehmer zunächst, bevor sie sie entlassen. Dies hat den Effekt, dass die Produktivitätswachstumsrate im Abschwung in der Regel sofort abnimmt. Die Nutzung von IKT durch die Firmen kann wiederum erklären, wieso die Produktivität im letzten Abschwung dagegen nur vergleichsweise geringfügig zurückging: Im Boom Ende der Neunzigerjahre hätten die Firmen durchaus Arbeitnehmer entlassen können, um denselben Output mit weniger Arbeitnehmern zu produzieren. Da die Firmen zu Entlassungen aber nicht gewillt waren, wurden dem unproduktiveren Teil der Arbeitnehmer im Gegenzug Aufgaben, für die nur eine relativ niedrigere Produktivität erforderlich ist, zugeteilt. Im Abschwung im Jahr 2000 waren die Firmen zwar nun zu Entlassungen gezwungen, die Produktion litt darunter aber deswegen nicht, weil die entlassenen Arbeitnehmer für das Tagesgeschäft nicht von entscheidender Bedeutung waren. Das Produktivitätswachstum wurde damit durch schnellere und vermehrte Entlassungen im Abschwung gestützt. Die zunehmende Verbreitung von Intranets in den Unternehmen hat diesen bei den Entlassungen geholfen.

• Arbeitsmarkteffekte: Bei einem unterausgelasteten Arbeitsmarkt, definiert als Situation mit einer Arbeitslosenquote höher als 5 %, werden die Unternehmen in die Lage versetzt, die Effizienz und Arbeitsintensität ihrer Mitarbeiter zu steigern, da die Arbeitnehmer bei einer hohen Arbeitslosigkeit um ihren Arbeitsplatz fürchten müssen. Dies hat aber nur temporäre Effekte auf die Arbeitsproduktivität, da letztendlich eine dauerhaft höhere Arbeitsbelastung die Effizienz der Arbeitnehmer verringern sollte.

Die Gründe für den gegenwärtigen Produktivitätsboom sind somit vielfältig und teilweise nicht trennscharf - zyklisch oder nicht-zyklisch? - abzugrenzen. Entscheidend für die Zukunft des langfristigen Produktivitätswachstums ist, dass das Potenzial für eine weitere Steigerung der Effizienz aus einer Reorganisation der Unternehmen im Zusammenspiel mit IKT ausgeschöpft wird. Voraussetzung hierfür sind wiederum anpassungsfähige Güter-, Kapital- und Arbeitsmärkte, die dem Innovationsklima förderlich sind.

4. Der Produktivitätsboom: Eine realistische Einschätzung. Man wird erst in einigen Jahren ganz sicher sein können, ob der Produktivitätsboom, der seit 1995 die US-Wirtschaft ergriffen hat, permanenter oder lediglich temporärer Natur ist. Sicher ist aber erstens, dass der Produktivitätsboom in erster Linie mit technologischen Innovationen in Informations- und Kommunikationstechnologien zusammenhängt. Die US-Wirtschaft ist fähig, informationstechnologisches Kapital immer billiger zu produzieren und effizienzsteigernd einzusetzen. Sicher ist aber auch zweitens, dass annualisierte Veränderungsraten gegenüber dem Vorquartal der Produktivität von 9,5 % wie im dritten Quartal 2003 langfristig einfach deswegen nicht aufrecht zu erhalten sind, weil die Unternehmen beim Ausschöpfen von Produktivitätspotenzialen im Zeitablauf immer geringere Effizienzsteigerungen erwarten können und die zyklischen Effekte auslaufen. Bei aller aufgrund von Messproblemen gebotenen Vorsicht, ist dennoch davon auszugehen, dass ein signifikanter Teil - wenn nicht sogar der ganze (so spekuliert jedenfalls US-Notenbankchef Greenspan) - der in den letzten Jahren zu konstatierenden Produktivitätsfortschritte langfristiger Natur ist. Denn angesichts der hohen Aufwendungen für Forschung und Entwicklung und der hohen Anzahl an Patentanmeldungen in den letzten Jahren ist erstens anzunehmen, dass auch in den kommenden Jahren der technologische Fortschritt nicht abnehmen wird. Zweitens wird der Produktivitätsboom ganz wesentlich von der Produktion und Nutzung von IKT getrieben. Solange das Moore' sche Gesetz gilt, wonach Verbesserungen in der Halbleiterfertigung es erlauben, die Transistorendichte auf einem Computerchip alle 18 Monate zu verdoppeln, und solange die US-Regierung nicht die institutionellen Rahmenbedingungen für die Märkte im Informationszeitalter verschlechtert, solange sollte das Produktivitätswachstum eigentlich auch nicht niedriger sein als im Durchschnitt seit Mitte der Neunzigerjahre. Wir gehen von einer Produktivitätswachstumsrate für die nächsten Jahre von rund 2,5 % pro Jahr aus.

5. Welche Auswirkungen hat der Produktivitätsboom auf die Aktienmärkte? In den späten Neunzigerjahren trieb ein irrationaler Überschwang der Investoren, der sich aus der Euphorie über die erwarteten Produktivitätseffekte der IKT speiste, die Kurs-Gewinn-Verhältnisse an den Börsen zu historischen Höchstständen. Ein schnelleres Produktivitätswachstum bedeutet für eine Zeitlang überproportional steigende Gewinne.

Diese können aber nicht dauerhaft stärker ansteigen als das Bruttoinlandsprodukt. Die Informationstechnologie hat zudem nicht nur die Produktivität, sondern auch die Wettbewerbsintensität in fast jeder Branche erhöht. Indem sie Marktzutrittsschranken einreißt und dem Kunden einen besseren Preisvergleich ermöglicht, belastet sie die Gewinnspannen der Unternehmen. In allen vorherigen technologischen Revolutionen kamen die Produktivitätssteigerungen letztendlich in erster Linie den Konsumenten in Form niedrigerer Preisen zu Gute und nicht den Investoren in Form nachhaltig höherer Gewinne. Diese Gewinnbremse kann nur dann wieder gelockert werden, wenn bald noch andere Innovationswellen über die US-Wirtschaft schwappen: man denke nur an die Bio- , Nano- und Brennstoffzellentechnologie: Ob diese Technologien jedoch bereits auf ganzer Breite marktreif sind, ist gegenwärtig unsicher. Dazu kommt, dass die Kostensenkungseffekte auf die Gewinne auslaufen sollten, weil ein anziehender Arbeitsmarkt mit höheren Lohnkosten einhergeht. Auch wenn die Gewinnentwicklung und damit die Aktienkurse durch die gute Produktivitätsentwicklung gestützt werden sollten, so ist doch die Vermutung falsch, dass ein anhaltend hoher Produktivitätstrend in den USA der Garant für anhaltend überdurchschnittliche oder sogar noch weiter steigende Kurs-Gewinn-Verhältnisse ist.

6. Auswirkungen des Produktivitätswachstums auf die Geldpolitik. Ein schnelleres Produktivitätswachstum impliziert, dass die US-Notenbank mit Zinserhöhungen im Konjunkturaufschwung länger als in der Vergangenheit warten kann. Denn ein höheres Produktivitätswachstum verbessert die Angebotsseite einer Volkswirtschaft und erhöht damit bei relativ schwächerer Nachfrageentwicklung die gesamtwirtschaftlichen Überschusskapazitäten. Da momentan der Arbeitsmarkt noch unter Problemen leidet (siehe VS "USA: Wie steht es um den Arbeitsmarkt?", vom 03. 03. 2003) und das Produktivitätswachstum den Inflationsdruck eindämmt und den Arbeitsmarkt belastet, wird sich die Fed Zeit mit Zinserhöhungen lassen. Wir erwarten die Zinswende daher frühestens für September 2004. Das höhere Produktivitätswachstum treibt die Investitionen und damit die Kapitalnachfrage in die Höhe. Auch wenn die Geldpolitik in der kurzen Frist mit Zinserhöhungen warten kann, so zwingt sie das höhere Produktivitätswachstum langfristig zu stärkeren Zinssteigerungen.

7. Nicht nur die USA haben in den letzten Jahren eine Erhöhung der Produktivitätswachstumsrate erlebt, sondern auch Australien, Irland und die skandinavischen Länder. Im Gegensatz dazu ist die Produktivitätsentwicklung in Japan und dem Rest Westeuropas alles in allem mehr als enttäuschend gewesen. Dabei ist anzumerken, dass die Produktivitätsunterschiede innerhalb Europas größer sind als zwischen Europa insgesamt und den USA. Es stellt sich daher die Frage, wieso in den europäischen Ländern nicht ebenfalls ein Produktivitätsboom wie in den USA zu beobachten ist, wenn doch IKT auch hier eine große Rolle spielen.

8. Eine mögliche Antwort liegt in der unterschiedlichen Ausgestaltung der Institutionen: Denn die Hauptproduktivitätsunterschiede zwischen USA und Europa liegen in Branchen wie dem Groß- und Einzelhandel sowie dem Finanzsektor, die alle IKT nutzen. Erstens fördern die US-Institutionen das Phänomen der "kreativen Zerstörung" auf den Gütermärkten und Finanzmärkten, die für Innovationen offen sind, wohingegen in Europa und Japan der Korporatismus den Wettbewerb auf den Güter- und Kapitalmärkten behindert. Zweitens fehlt Europa und Japan eine Jugendkultur, die die wirtschaftliche Unabhängigkeit und den Unternehmergeist der Jugend fördert: US-Teenager und College-Studenten müssen in ihrer Mehrzahl nach dem Unterricht arbeiten und für ihre College-Ausbildung bezahlen. Drittens, der amerikanische Lebensstil begünstigt z. B. die Anwendung von "Produktivitätszentren" in Gestalt riesiger Einkaufszentren auf der "grünen Wiese", die den Einsatz von IKT im Einzelhandel begünstigen. Viertens, unterschiedliche Vergütungssysteme geben USManagern größere Anreize als ihren europäischen und japanischen Kollegen, neue Technologien einzuführen. Möglich ist allerdings auch, dass durch eine verstärkte Deregulierung des Arbeitsmarktes in Europa vermehrt Arbeitnehmer mit niedriger Produktivität beschäftigt werden, was sich tendenziell in einem zurückgehenden Arbeitsproduktivitätswachstum widerspiegelt.

9. Die möglichen kulturellen Ursachen für die unterschiedliche Produktivitätsentwicklung diesseits und jenseits des Atlantiks bedeuten nicht, dass die Europäer erst ihre Kultur der US-amerikanischen anpassen müssen, bis sie ebenfalls ein stärkeres Produktivitätswachstum erleben können. Bei der Anwendung neuer Technologien muss immer erst eine kritische Masse von Nutzern überstiegen werden, bevor sich die Technologie auf breiter Front durchsetzt. Es ist sehr gut möglich, dass ein Großteil Westeuropas sich in derselben Situation wie die USA Anfang der Neunzigerjahre befindet und auf eine weitere Diffusion der bereits vorhandenen IKT und damit das Erreichen der kritischen Masse wartet. Die IKT-Revolution transformiert momentan schon die Ökonomien von Finnland, Schweden und Irland. Da der produktivitätssteigernde Reformprozess auf den Güter-, Arbeits- und Kapitalmärkten und ein generelles Umdenken im restlichen Westeuropa - wenn auch manchmal unerträglich langsam - statt finden, sind höhere Produktivitätswachstumsraten in der Zukunft durchaus möglich.

10. Fazit: Die USA haben eine erstaunliche Phase der Produktivitätsentwicklung hinter sich. Mehrere Faktoren kamen hier zusammen. Die zyklischen Effekte werden im weiteren Verlauf des Aufschwungs auslaufen. Bleiben werden die Effekte, die aus der Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien im Zusammenspiel mit der Reorganisation der Arbeitsprozesse in den Unternehmen resultieren. Damit ist von einem Anhalten des seit Mitte der Neunzigerjahre höheren Produktivitätswachstumstrends auszugehen. Für die Geldpolitik bedeutet das Auslaufen der zyklischen Effekte auf die Produktivitätswachstumsrate mittelfristig eine "Normalisierung" in Form höherer Zinsen.

Quelle: DekaBank

Die DekaBank ist im Jahr 1999 aus der Fusion von Deutsche Girozentrale - Deutsche Kommunalbank- und DekaBank GmbH hervorgegangen. Die Gesellschaft ist als Zentralinstitut der deutschen Sparkassenorganisation im Investmentfondsgeschäft aktiv. Mit einem Fondsvolumen von rund 131 Mrd. Euro gehört die DekaBank zu den größten Finanzdienstleistern Deutschlands.

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