Kommentar
20:11 Uhr, 15.12.2008

Euroraum – ein "Horrorjahr"

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Die Rezession im Euroraum hat sich als derart gravierend entpuppt, dass wir deren Ausmaß kaum noch mit Worten und Bildern beschreiben können. In den letzten Wochen kam es im Euroraum zu einer bislang einmaligen Abfolge von Hiobsbotschaften. Dabei blieben alle wichtigen Wirtschaftszahlen teilweise meilenweit hinter den Erwartungen zurück. Das Tempo der Abkühlung war so dramatisch, dass wir seit letztem September Monat für Monat gezwungen waren, unsere BIP-Prognose für die nächsten beiden Jahre nach unten zu korrigieren. Unsere neuen Projektionen: Das reale BIP wird 2009 um 1,3% schrumpfen und im Jahr darauf mit +0,8% nur mäßig zulegen. Die Inflationsprognose ist nur auf den ersten Blick einfacher. Denn die Aussichten werden maßgeblich durch die starken Preisausschläge beim Rohöl bestimmt. Und wie die Rohstoffpreise sich künftig entwickeln, ist unsicherer denn je. Geht man für das zweite Halbjahr 2009 von einer leichten Erholung der Ölpreise vom gegenwärtigen Niveau aus (die mit der schrittweisen Erholung der Weltwirtschaft im zweiten Halbjahr 2009 einherginge), dann dürfte die Inflation 2009 und 2010 durchschnittlich bei 1,0% bzw. 1,8% liegen. Dass die Risiken für das BIP und die Inflation nach unten gerichtet bleiben, versteht sich im gegenwärtigen Umfeld fast von selbst.

Der November 2008 wird voraussichtlich als einer der schlechtesten Monate für Unternehmensumfragen in die Geschichte eingehen. Dass sowohl die Gesamtwerte als auch die Umfragen für einzelne Länder historische Tiefstände markierten, untermauert, dass das BIP im vierten Quartal 2008 wohl massiv schrumpfen wird. Entspannung ist dabei zumindest kurzfristig keine in Sicht. Die endgültigen Einkaufsmanagerindizes wurden gegenüber der bereits miserablen Werte der Schnellschätzung noch einmal nach unten korrigiert. Der Dienstleistungsindex fiel auf 42,5 Zähler und sein Pendant im Verarbeitenden Gewerbe sogar auf 35,6 Punkte. Die zukunftsorientierten Komponenten (Neuaufträge, Exportaufträge und Geschäftserwartungen) zeichnen ein ebenso düsteres Bild. Unsere bevorzugte Messgröße für die Abschätzung der künftigen Industrieproduktion (Verhältnis von Neuaufträgen zu Lagerbeständen) ist im freien Fall und legt den Schluss nahe, dass die Rezession im Industriesektor tiefer und nachhaltiger ausfallen wird als bislang projektiert. Den Länderumfragen zufolge erstreckt sich die konjunkturelle Talfahrt über den gesamten Euroraum. Deutschland, das für sein Wachstum stark auf Exporte angewiesen ist, muss inzwischen den Nachfrageeinbruch aller wichtigen Handelspartner verkraften. In Frankreich werden die Verbraucher durch den negativen Vermögenseffekt (aufgrund fallender Immobilienpreise) und die steigende Arbeitslosigkeit in die Zange genommen. Italien wiederum leidet unter rückläufigen Exporten und einer sinkenden Binnennachfrage. Und dem spanischen Wachstumsmodell, das stark auf die Baukonjunktur angewiesen war, ist erstmal die Luft ausgegangen. Zusammen mit Irland ist diese einst florierende Volkswirtschaft inzwischen Schlusslicht im Euroraum. Die Arbeitslosigkeit steigt überall an, außer in Deutschland. Doch selbst dort legen unsere Prognosen den Schluss nahe, dass der Wendepunkt unmittelbar bevorsteht.

Aufgrund der starken und anhaltenden Verwerfungen an den Finanzmärkten lässt sich der Kreditzyklus derzeit nur äußerst schwer abschätzen. Geht man von den "harten“ Daten aus, scheint es, dass bislang nur die Verbraucherkredite – wie in früheren Zyklen auch – signifikant zurückgehen. Dagegen bleiben die Ausleihungen an Nicht-Finanzunternehmen vergleichsweise robust, obschon auch sie sich gegenüber den zuvor exzessiven Wachstumsraten deutlich abgekühlt haben. Das scheint jedoch so gar nicht zu den wachsenden Sorgen der Unternehmen zu passen. Auch widerspricht es der Tatsache, dass die Regierungen des gesamten Kontinents derzeit die Banken mit aller Macht dazu bewegen wollen, den Kreditfluss aufrecht zu erhalten. Die Verschärfung der Kreditstandards machen ihnen Sorgen.

Zum Teil machen die Regierungen ihre Unterstützung sogar von Zusagen abhängig, ein bestimmtes Maß an Kreditwachstum zu „garantieren“. Dabei ergeben sich erstaunliche Widersprüche: Obschon sich laut EZB-Kreditumfrage eine deutliche Kreditrationierung gekoppelt mit einem regelrechten Einbruch der Kreditnachfrage ergibt (insbesondere für Anlageninvestitionen), wachsen die tatsächlichen Kredite an Nicht-Finanzunternehmen noch immer zweistellig. Ursprünglich hatte die EZB die Hypothese einer Konjunktur hemmenden Kreditklemme gerade wegen des erheblichen Kreditwachstums verworfen. Laut EZB war die Abschwächung der Kreditnachfrage damals nachfragebedingt und ging Hand in Hand mit der konjunkturellen Abkühlung. Bis vor kurzem dürfte dies auch so gewesen sein. Doch Selbstgefälligkeit ist fehl am Platze. Denn die Kreditvergabe an den Privatsektor ist bereits rückläufig, und die Überziehungen von Nicht- Finanzunternehmen auf dem Vormarsch (ein erster Hinweis auf Engpässe). Vor allem gehen die Verbraucherkredite erheblich zurück, und die qualitativen Frühindikatoren der Kreditumfrage sinken – ganz zu schweigen von den anhaltenden Turbulenzen im Finanzsektor. Tatsächlich räumte Trichet bei der Dezember-Pressekonferenz ein, dass das robuste Kreditwachstum mit Vorsicht zu genießen sei, obschon es sich natürlich um eine Tatsache handle. Zweifelsohne dürfte der konsequente Senkungskurs, den die EZB nun eingeschlagen hat, sowie die dadurch bedingte Abwärtsbewegung der gesamten Renditekurve die Kreditkosten letztendlich drosseln. Doch war die Gefahr einer massiven Kreditklemme im Euroraum noch nie so hoch wie derzeit. Schließlich ist die Finanzkrise noch nicht ausgestanden, und die Kreditrisikoprämien sind inzwischen auf Rekordstände gestiegen. Zudem geht der Schuldenabbau (deleveraging) unvermindert weiter.

Dass die Kreditaussichten extrem unsicher sind und Konjunktur und Stimmungsindikatoren weiter sinken, verheißt nichts Gutes. In unserem Basisszenario stehen drei weitere Quartale mit deutlich schrumpfendem BIP an, das laufende Vierteljahr eingeschlossen. Am schlimmsten wird es wohl zum Jahreswechsel 2008/09 sein. Einen Boden dürfte das BIP im zweiten oder dritten Quartal 2009 finden, gefolgt von einer nur mäßig verlaufenden Erholung. Das Wachstum wird dabei bis Ende 2010 unter Potenzial bleiben.

Größte Wachstumsbremse werden die Bruttoanlageinvestitionen sein, die gegenüber dem Vorjahr um 3,6% einbrechen sollten (bei weitem der größte Rückgang in der Geschichte des Euroraums) und das Gesamtwachstum um 0,8 Prozentpunkte schmälern werden. Der private Konsum wird auf Jahresbasis flau bleiben. Eine leichte, aber wichtige Unterstützung wird der rasche Inflationsrückgang bieten. Zusammen mit einigen fiskalischen Anreizen werden die verfügbaren Realeinkommen deshalb auch steigen. Neutralisiert wird dies jedoch durch die steigende Arbeitslosigkeit und die traditionell hohe Sparbereitschaft in einigen großen Volkswirtschaften. Letztere könnte angesichts der derzeit hohen Unsicherheit sogar noch weiter steigen. Mit -3% werden die Exporte stärker schrumpfen als die Importe (-1%). Damit sollten die Nettoexporte vom Wachstum fast einen vollen Prozentpunkt abziehen. Wie bereits erwähnt, wird die Erholung 2010 recht schwach ausfallen und im Wesentlichen von einem leichten Aufschwung des privaten Konsums profitieren (insbesondere bei einer expansiveren Haushaltspolitik). Unterstützend wirkten dann auch die Nettoexporte.

Inflationsdruck lässt rasant nach

Die Inflation befindet sich derzeit im freien Fall. So sank der Harmonisierte Verbraucherpreisindex im November überraschend stark (auf 2,1% ggü. Vorjahr; zuvor: 3,2%). Auch wenn es aus der Schnellschätzung nicht hervorgeht, dürfte dies größtenteils auf das Konto des Energiesektors gehen. Da der Rückgang aber massiv war, könnte unter Umständen auch die Kerninflation nachgelassen haben. Die wichtigsten Kennzahlen für die Inflationserwartungen implizieren nunmehr ein Deflationsszenario für die nächsten zwei Jahre. Außerdem gehen die Anleger von so niedrigen Inflationszahlen aus, wie sie im Euroraum auf längere Sicht noch nie gab. Gewiss könnten diese Markterwartungen durch technische Faktoren verzerrt sein. Aber auch die umfragebasierten Zahlen sinken derzeit rasch. Die EZB geht nunmehr davon aus, dass die Inflation im geldpolitisch relevanten Zeitrahmen innerhalb ihrer Definition der Preisstabilität bleibt. Die Inflationsprognose ist also von der Richtung her unbestritten und aufgrund des Einbruchs der Rohstoffpreise bereits größtenteils prädeterminiert. Wir erwarten, dass sie weiter stark fallen und erst im Sommer 2009 bei 0,2% einen Boden finden wird.

Die Risiken bleiben dabei nach unten gerichtet. Haupt- aber nicht ausschließliche Ursache werden die Rohstoffe sein. Denn auch die starke konjunkturelle Talfahrt wird sich auf die Kernrate auswirken. Unsere umfragebasierte Kennzahl für die Produktionslücke impliziert eine zunächst noch unveränderte, dann aber rückläufige Kerninflationsrate. In der ersten Jahreshälfte 2009 wird dieser Rückgang noch langsam verlaufen, doch ab dem nächsten Sommer bis in das Jahr 2010 hinein an Tempo zulegen. Die Gesamtinflation wird 2009/10 bei durchschnittlich 1,0% bzw. 1,8% liegen. Dagegen wird sich die Kerninflation 2009 und 2010 auf 1,5% und 0,8% belaufen. Sollte aber die Rezession stärker und länger ausfallen als erwartet, könnte die nachhaltige Ausweitung der Produktionslücke die langfristige Preisrigidität letztlich aufweichen und zu einer nachhaltigen Deflation führen.

Unkoordinierte Fiskalpolitik

Wie die Politik agieren wird, lässt sich kaum vorhersagen. Im Mittelpunkt steht momentan die Europäische Kommission mit ihrer Ankündigung eines großen Konjunkturpakets. Doch die Fiskalpolitik obliegt den Einzelstaaten, und die Reaktionen der Regierungen sind bis dato fast überall halbherzig und unkoordiniert. Entsprechend wird die Empfehlung der Kommission für eine koordinierte Maßnahme in Höhe von 1,5% des EU-BIP wohl ein Papiertiger bleiben. Eine Vorreiterrolle scheint Frankreich einnehmen zu wollen, auch wenn Sarkozys Plan in erster Linie auf öffentliche Infrastruktur abzielt und sich daher erst nach einiger Zeit in der Realwirtschaft niederschlagen wird. Gleichzeitig scheint die deutsche Regierung nicht willens, über das bereits verabschiedete kleine Paket hinauszugehen. So erteilten Regierungsvertreter den öffentlichen Forderungen nach fiskalischen Anreizen eine Absage und äußerten sogar die Hoffnung, dass die Auslandsnachfrage bald wieder an-, und die deutschen Exporte mitziehen könnte. Angesichts der hohen Staatsverschuldung und der Ausweitung des Spreads zwischen italienische Staats- und Bundesanleihen hat Italien nur begrenzten Handlungsspielraum. Obschon Mehrwertsteuersenkungen in derartigen Phasen eines der wirksamsten Politikinstrumente sind (wie vom IWF in 2003 und jüngst auch von der Europäischen Kommission empfohlen), scheint derzeit kein Euroland eine solche Senkung zu erwägen.

Refisatz dürfte bis Sommer auf 1% sinken

Dass in Sachen Haushaltspolitik so wenig geschieht, erhöht den Druck auf die EZB. Diese scheint den Ernst der Lage inzwischen verstanden zu haben. Dabei lassen die wesentlich verbesserten Inflationsaussichten genug Spielraum für weitere Zinssenkungen. Die aktualisierten internen Prognosen entsprachen den Erwartungen, obschon sie unseres Erachtens in punkto Wachstum zu optimistisch sind. Zudem gehen die Inflationsprojektionen von einem Ölpreis aus, der pro Barrel um etwa 15 USD höher ist als gegenwärtig am Futures- Markt eingepreist. Bei der Dezember-Sitzung senkte die Zentralbank den Refisatz dann auch um 75 Bp auf 2,50%. Die Entscheidung war nicht einstimmig; die "Falken" dürften für einen weiteren 50 Bp-Zinsschritt plädiert haben.

Trichet erklärte, es sei wichtig, die Zinsen nicht zu weit zu senken. Zudem habe der EZB-Rat ein Mindestmaß für den Refisatz vor Augen, das nicht unterschritten werden dürfe. Dieses dürfte wohl bei 2% liegen, dem historischen Minimum. Dennoch sieht die Sachlage dieses Mal ganz anders aus. Nach der Senkung um 75 Bp besagt unsere Taylor Regel (auf Grundlage der Produktionslücke und des Geldmengenwachstums), dass die EZB nicht länger hinter der Kurve zurückliegt. Fließen die internen EZB-Prognosen in unsere vorausschauende Taylor-Regel ein, liegt der Tiefstwert aber deutlich unter 2% – vor allem wenn die konkrete Möglichkeit berücksichtigt wird, dass die Gesamtinflation in den nächsten Monaten in negatives Terrain rutscht. Der Refisatz dürfte nächsten Sommer also eher bei 1% liegen. Doch der Weg bis dahin ist mit Unsicherheiten behaftet. Die (unglücklichen) Äußerungen Merschs wenige Stunden nach der Dezember-Pressekonferenz weisen darauf hin, dass bestimmte Ratsmitglieder die EZB zu einer anderen Gangart bewegen und pro Sitzung Zinsschritte um 25 Bp – wenn nicht sogar eine Pause – durchsetzen wollen. Damit wäre unser Zielwert von 1,00% nur sehr schwer zu erreichen. Wir gehen aber davon aus, dass die EZB angesichts der flauen Zahlen zwischen Januar und Februar mindestens um 50 Bp nachlegen wird. Da die Sitzung in der Regel am ersten Donnerstag des Monats stattfindet und die Weihnachtspause vorbereitende Diskussionen verhindert, hat die EZB bis dato noch nie die Zinsen im Januar gesenkt. Doch dieses Mal sind die Umstände anders, sodass die Ratssitzung für den 15. Januar anberaumt wurde. Dies lässt genug Zeit, um die Märkte auf einen weiteren Schritt vorzubereiten. Die EZB wird u.E. erst bei 2% ernsthaft eine neue Gangart in Erwägung und das Senkungstempo verlangsamen. Das setzt natürlich voraus, dass sich die konjunkturelle Lage nicht dramatisch verschlimmert. Die restlichen 100 Bp wären dann zwischen März und Juni fällig.

Die derzeitige Ungewissheit gebietet eine umsichtige und vorsichtige Steuerung der Markterwartungen, die mit einer ausreichend flexiblen und pragmatischen Haltung einhergeht, um sich auf schnell wechselnde Umstände einzustellen. Bei der Dezember-Pressekonferenz sprach Trichet eine klare und pragmatische Sprache, als er eindeutig zwischen Disinflation und Deflation unterschied und signalisierte, die EZB könne an den Kreditmärkten eine aktivere Rolle spielen, sofern quantitative Lockerungsmaßnahmen erforderlich seien. Die Reaktion der EZB auf die Liquiditätskrise war schnell, pragmatisch und kreativ. Doch um die neuen Risiken zu identifizieren und zu bekämpfen, wird sie die gleiche Offenheit, Kreativität und Flexibilität benötigen. Dabei muss sie sich auf die Bekämpfung eines potentiellen Deflationsszenarios einstellen, gleichzeitig aber in der Lage sein, jederzeit in den Inflationsbekämpfungsmodus zurückzuschalten, sollte sich die Konjunktur schneller erholen als derzeit vernünftigerweise zu erwarten ist.

Bei diesem Fachartikel handelt es sich um Research der Unicredit-Hypovereinsbank

Andreas Rees, Chefvolkswirt Deutschland bei Unicredit-Hypovereinsbank

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