EU/USA: Warum sich der atlantische Graben vergrößert
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Frankfurt (BoerseGo.de) - Der „atlantische Graben“ scheint sich aus Sicht der Investoren auszuweiten. Während die USA und Europa gleichermaßen von der Finanzkrise betroffen waren, bestehen bezüglich der Überwindung der Nachwirkungen erhebliche Unterschiede. Daher sollten Anleger bei der Positionierung ihrer Portfolios die „atlantische Kluft“ im Auge behalten, rätChristophe Bernard, Chefstratege bei Vontobel in seinem aktuellen Marktkommentar.
Zwar bestünden zwischen den USA und Europa große Gemeinsamkeiten hinsichtlich der politischen und wirtschaftlichen Systeme und auf beiden Seiten des Atlantiks verlaufe die wirtschaftliche Erholung schleppend, doch bei genauerem Hinsehen offenbarten sich erhebliche Unterschiede, heißt es. So habe sich das US-Bankensystem vollständig erholt und die Finanzinstitute verfügen über eine deutlich solidere Kapitalausstattung als jene in Europa. Auf dem alten Kontinent hingegen sähen sich viele Banken aufgrund der Konjunkturschwäche und ungünstiger Trends an den Immobilienmärkten – vor allem in Spanien, den Niederlanden und Frankreich – mit höheren Kreditverlusten konfrontiert. „Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die US-Banken wieder in der Lage sind, Kredite zu vergeben, was für ihre europäischen Pendants nicht gilt“, so Bernard.
Darüber hinaus kämen deutlich niedrigere Energiepreise, eine höhere Arbeitsproduktivität und ein stabiles Steuerumfeld der Wettbewerbsfähigkeit der USA zugute, während in einigen europäischen Ländern, vor allem in Frankreich, die steuerliche Belastung der Unternehmen stark zunehme. Da die Vereinigten Staaten als Standort für produzierende Unternehmen an Attraktivität gewännen und die Löhne in den Schwellenländern anstiegen, sei die Auslagerung von Arbeitsplätzen in die aufstrebenden Länder zum Stillstand gekommen. Es sei sogar die Rede davon, dass multinationale Unternehmen wie Caterpillar und General Electric Teile ihrer Produktion wieder in die USA verlegen wollten, heißt es weiter.
„Was die Geldpolitik angeht, so handelt die US-amerikanische Notenbank (Fed) proaktiv, indem sie wirtschaftliche Probleme angeht, was ihr aufgrund ihres Doppelmandats der Inflationsbekämpfung und der Förderung des Wirtschaftswachstums möglich ist. Dagegen agiert die Europäische Zentralbank (EZB) reaktiv, wobei sie nur dann über ihren Schatten springt, wenn das Überleben der Gemeinschaftswährung auf dem Spiel steht“, so Bernard.
Während sich die meisten europäischen Länder noch immer in einer Rezession befänden, erscheine in den USA in den nächsten sechs bis zwölf Monaten ein sich selbst tragendes Wirtschaftswachstum möglich. Die Fed werde wohl die erste der großen Notenbanken sein, die die entgegenkommende („akkomodierende“) Geldpolitik wieder rückgängig mache, wobei eine Straffung nur allmählich erfolgen dürfte. „Der genaue Zeitpunkt einer grundsätzlichen Änderung des Währungskurses lässt sich nur schwer vorhersehen, zumal die Fed derzeit eine entgegenkommendere Politik verfolgt als die EZB. Dennoch könnte die Wahrscheinlichkeit einer Dollar-Aufwertung zunehmen, wenn in Europa keine Wachstumsbelebung einsetzt und/oder erneut politische Risiken aufkommen. Der Wahlausgang in Italien könnte ein Omen für eine zunehmende Opposition gegen das Mantra der Sparsamkeit sein“, heißt es.
Vontobel geht zwar davon aus, dass die Aktienmärkte 2013 und darüber hinaus die als „sichere Häfen“ geltenden Staatsanleihen und auch Unternehmensanleihen hoher Qualität übertreffen werden, halten aber auf kurze Sicht nach wie vor eine Konsolidierung für wahrscheinlich. Da in den USA seit Jahresanfang höhere Lohnsteuern und seit dem 1. März automatische Ausgabenkürzungen (Stichwort „Sequester“) zum Tragen kommen, könnte das Wirtschaftswachstum im zweiten Quartal 2013 enttäuschend ausfallen. Außerdem könnten höhere Ölpreise den Konsum belasten. Vontobel geht davon aus, dass unter den Anlegern möglicherweise eine zu hohe Zuversicht hinsichtlich der Konjunkturperspektiven in der Eurozone herrscht. „Die positive Haltung in Bezug auf die Anleihemärkte der sogenannten Peripherieländer der Eurozone geht im Wesentlichen auf den ‚Draghi-Put“, also das Versprechen des EZB-Präsidenten aus dem Jahr 2012, den Euro zu stützen, zurück. Doch die drohende Patt-Situation nach den Wahlen in Italien, zunehmende soziale Proteste gegen die Sparmaßnahmen in Spanien und Portugal und nicht zuletzt die kritische Lage in Frankreich werden die Anleger vermutlich dazu veranlassen, ihre kurzfristigen Szenarien noch einmal genau zu überdenken“, so Bernard.
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