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11:52 Uhr, 09.09.2024

Draghi schlägt radikale Reformen für Europas Wirtschaft vor

Von Kim Mackrael und Laurence Norman

BRÜSSEL (Dow Jones) - Mario Draghi will Europa wieder retten. Der 77-jährige ehemalige Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), der für sein Versprechen bekannt ist, "alles zu tun, was nötig ist", um den Euro während der europäischen Schuldenkrise zu retten, hat sein Rezept zur Ankurbelung der schleppenden europäischen Wirtschaft und zur Stärkung der Verteidigungsindustrie vorgestellt.

Draghi, der zu den angesehensten Persönlichkeiten des Kontinents gehört, wurde im September vergangenen Jahres von der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen beauftragt, einen Bericht zu verfassen. Dieser wurde mit Spannung erwartet, da die Sorgen darüber zunahmen, wie weit Europa wirtschaftlich hinter den USA und China zurückfällt.

Draghi, der den Spitznamen "Super Mario" bekam, nachdem sein Versprechen, den Euro zu stützen, 2012 zur Entschärfung der EU-Schuldenkrise beigetragen hatte, versprach, ein Rezept für einen "radikalen Wandel" vorzulegen, damit Europa im internationalen Wettbewerb bestehen kann. Sein Bericht fordert eine weitaus aggressivere Industriepolitik und Subventionen, Änderungen der Wettbewerbspolitik der EU und eine Neugestaltung der europäischen Kapitalmärkte, um Investitionen anzulocken.

Der Bericht wird wahrscheinlich heftige Auseinandersetzungen innerhalb der EU auslösen, da einige Länder befürchten, dass Europa zu protektionistisch wird. Der Bericht kommt zu einem Zeitpunkt, an dem politische Krisen in Deutschland, Frankreich und anderen großen europäischen Volkswirtschaften eine Einigung über EU-weite Änderungen erschweren.

Einige der Ideen, die Draghi vorschlägt - von der Erweiterung des Binnenmarktes bis zur Schaffung einer EU-weiten Kapitalunion zur Förderung von Investitionen -, liegen schon seit Jahren auf dem Tisch. Die 27 nationalen Regierungen der EU haben es jedoch versäumt, sie voranzutreiben. Draghi selbst trat im Juli 2022 nach 18 Monaten als italienischer Ministerpräsident zurück, unter anderem wegen des Widerstands gegen seine nationalen Wirtschafts- und Industriepläne.

Draghi sagte, wenn die Reformen nicht umgesetzt würden, würde Europa in eine existenzielle Krise geraten. "Wenn Europa nicht produktiver wird, werden wir gezwungen sein, uns zu entscheiden. Wir werden nicht in der Lage sein, gleichzeitig führend bei neuen Technologien, ein Leuchtturm der Klimaverantwortung und ein unabhängiger Akteur auf der Weltbühne zu werden", erklärte er in dem Bericht. "Wir werden nicht in der Lage sein, unser Sozialmodell zu finanzieren. Wir werden einige, wenn nicht sogar alle unsere Ambitionen zurückschrauben müssen."

Draghi erklärte, dass die EU-Länder jährlich Hunderte von Milliarden Euro an zusätzlichen Investitionen benötigen, was etwa 5 Prozentpunkten der Wirtschaftsleistung der EU entspricht, um eine wettbewerbsfähige digitale und kohlenstoffneutrale Wirtschaft zu schaffen. Öffentliche Investitionen in Bereichen wie bahnbrechende Innovationen, Beschaffung von Verteidigungsgütern und Energie seien entscheidend für die Förderung privater Investitionen, die die Produktivität des Kontinents steigern würden.

Die Wettbewerbspolitik der EU sollte geändert werden, damit die Regeln nicht zu einem Hindernis für das Wirtschaftswachstum werden. Draghi sagte, die EU-Kartellbehörden sollten stärker darauf achten, ob eine Fusion die Innovation in der EU ankurbeln und zur Schaffung global wettbewerbsfähiger Unternehmen beitragen kann. Auslöser für den Bericht ist die seit 15 Jahren andauernde wirtschaftliche Schwäche Europas, gegen die die Staats- und Regierungschefs bisher wenig ausrichten konnten.

Zu den umstrittensten Teilen von Draghis Vorschlägen gehören die Industriepolitik, die Erhöhung der Staatsausgaben und die vorgeschlagenen Änderungen der Wettbewerbspolitik, die lange Zeit als unantastbar galt. Die Auseinandersetzungen über die Vorschläge dürften sich über die gesamte fünfjährige Amtszeit der EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen erstrecken.

Kontakt zum Autor: konjunktur.de@dowjones.com

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