Kommentar
10:41 Uhr, 11.11.2022

Diskussion über Wendepunkt am Scheitelpunkt

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In der Betrachtung von Aktienmarktentwicklungen wird häufig eine Grafik gezeigt, in welcher die Performance eines Index verglichen wird mit seiner Performance ohne die fünf oder zehn besten Tage eines Jahres. Gestern war so ein „bester“ Tag – nicht nur des Jahres, sondern sogar des Jahrzehnts – wenn man die extremen Schwankungen kurz nach Ausbruch der Corona-Pandemie aus der Betrachtung ausschließt. Die bedeutenden amerikanischen Indizes stiegen um mehr als 5 Prozent bis fast 10 Prozent. Auslöser waren die amerikanischen Inflationsdaten für Oktober, deren Anstieg deutlich geringer war als im Vorfeld erwartet worden war. Ist das jetzt der Wendepunkt? In dieser Frage scheint unter den Beobachtern Einigkeit zu herrschen: „Moment, nicht so schnell…“

Die amerikanischen Verbraucherpreisdaten für Oktober zeigten einen Anstieg um 0,4 Prozent gegenüber dem Vormonat. bzw. 7,7 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat in der Gesamtrate und um 0,3 % ggü. Vm. bzw. 6,3 % ggü. Vj. in der Kernrate. Sowohl die Monats- als auch die Jahresänderungsraten lagen damit zwei Zehntel niedriger als es die Konsenserwartungen im Vorfeld angezeigt hatten. Die Jahresteuerung in den USA ist nun niedriger als zum Zeitpunkt der ersten Leitzinsanhebung durch die Fed.

Die Anleger nahmen diese Daten zum Anlass, ihre Erwartungen über die Leitzinsentwicklung in den USA in drei Dimensionen nach unten zu korrigieren: Erstens wird nun im Dezember eine Zinsanhebung um nur noch 50 Basispunkte gesehen, die Option eines 75-Bp-Schritts dürfte wohl mindestens bis zur Veröffentlichung der November-Inflationsdaten nicht mehr ernsthaft in Erwägung gezogen werden. Zweitens reduzierten die Anleger ihre Erwartung zum Endpunkt des Zinsanhebungszyklus, wenngleich auch nur in relativ geringem Ausmaß. Vor der gestrigen Datenveröffentlichung waren weitere Zinsanhebungen von derzeit 4,00 % bis auf 5,25 % eingepreist, aktuell liegen diese Schätzungen bei 5,05-5,10 % immer noch oberhalb der 5 %-Marke. Drittens erwarten die Anleger nun einen zügigeren Zinssenkungszyklus. Für den Zeitraum Sommer 2023 bis Sommer 2024 spiegeln die Geldmarkt-Terminkontrakte nun die Erwartung von Leitzinssenkungen im Ausmaß von mehr als 100 Basispunkte wieder – das sind rund 20 Basispunkte mehr als noch vor den Inflationsdaten.

Zusammen mit der Antizipation eines insgesamt deutlich abgeschwächten Leitzinspfads schossen die Aktienkurse in die Höhe. Mehr als 5 Prozent Plus im S&P 500, über 7 Prozent im Nasdaq Composite und sogar fast 10 Prozent im NY FANG+ Index drücken mehr als deutlich die Erleichterung der Anleger über den mutmaßlich abnehmenden Inflationsdruck in den USA aus. Einige Fed-Vertreter hatten gleich am Nachmittag die Gelegenheit, die jüngsten Inflationsdaten in ihre Kommentierungen einzubauen. Einhelliger Tenor: Erstens, die Oktoberzahlen seien „willkommene Nachrichten“. Zweitens, eine Schwalbe mache noch keinen Sommer, und es bleibe seitens der Zentralbank noch viel zu tun. Drittens, es sei jetzt aber dennoch angemessen, kleinere Zinsanhebungen als zuletzt in Erwägung zu ziehen.

Eine Ironie des gestrigen Tages war, dass die amerikanischen Inflationszahlen just in jenem Moment veröffentlicht wurden, als gleich drei Ratsmitglieder der EZB auf einer Konferenz Slowenien ausgesprochen „hawkishe“ Töne anschlugen. In der Tat scheint sich nun zwischen den Aussichten für die Fed und jenen für die EZB eine gewisse Lücke aufzutun: In den USA ging die Inflationsrate in den letzten vier Monaten peu à peu zurück, und die Anleger erwarten von der Fed nun, dass sie den Zinsanhebungszyklus allmählich ausklingen lässt. In der Eurozone hingegen steigt der jährliche Preisauftrieb immer noch an, EZB Ratsmitglied Bostjan Vasle meinte gestern sogar, wir hätten die Spitze des Preisbergs noch nicht mal erreicht.

Die Treasury-Renditen waren gestern um 25-30 Basispunkte gefallen, im Bundmarkt betrug der Rückgang etwa 15 Basispunkte. Angesichts der Inflations- und Zentralbankaussichten erscheint das kurzfristige Rückschlagpotenzial im Bundmarkt größer zu sein als im Treasurymarkt. Und tatsächlich notieren die Bundrenditen heute Vormittag bereits 6-8 Basispunkte höher als gestern. Zumindest für die Eurozone sollten wir mit der Vermutung eines „Wendepunkts“ also sehr, sehr vorsichtig sein…

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