Das neue Europa: Fluch oder Segen?
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Am 1. Mai 2004 ist es soweit: Die Europäische Union (EU) wird die nach Anzahl der Länder größte Erweiterung ihrer Geschichte vollziehen. Acht mittel- und osteuropäische Staaten (Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakische Republik, Slowenien, Ungarn und Tschechische Republik) sowie Malta und Zypern werden der bisherigen Gemeinschaft beitreten.
Das wirtschaftliche Gewicht der zehn Beitrittsländer wird in der dann 25 Staaten umfassenden EU mit unter 5 % wesentlich geringer sein als der Anteil an der Gesamtbevölkerung (gut 16 %). Der Abstand zwischen dem Pro-Kopf-Einkommen in den jetzigen und den neuen EU-Mitgliedstaaten ist weiterhin sehr groß. Zwar hat sich das Pro-Kopf-Einkommen (zu Kaufkraftparitäten) der Beitrittsländer in den letzten 10 Jahren gemessen am EU-Durchschnitt nach Angaben der EZB von rund 42 % (1993) auf etwa 49 % (2002) erhöht. Abgesehen von Zypern und Slowenien erreicht hier aber keiner der neuen Mitgliedsstaaten das Niveau der momentan "schwächsten" EU-Länder Griechenland bzw. Portugal (knapp 70 %).
Vor dem beschriebenen Hintergrund stellt sich die Frage, wer von der Erweiterung der Europäischen Union letztlich am meisten profitiert und wer möglicherweise zu den Verlierern gehört. Aktuelle Analysen - z. B. vom "Deutschen Institut für internationale Politik und Sicherheit" der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) - kommen zu dem Ergebnis, daß die EU-Osterweiterung über die Schaffung eines wachstumsfördernden Handels primär den Neumitgliedern zugute kommt. Ein erneuter kräftiger Wachstumsschub ist hier allerdings wenig wahrscheinlich, da die mit dem Transformationsprozeß verbundene Anpassung an den Westen in den meisten neuen EU-Staaten mittlerweile weitgehend abgeschlossen ist. Positiv könnte sich allerdings die Übernahme des EU-Rechts auswirken. Die verbesserte Rechtssicherheit für Investoren sollte einen Anstieg der Investitionen nach sich ziehen.
Bei den etablierten EU-Staaten dürfte sich die EU-Osterweiterung wirtschaftlich vor allem für die Länder positiv bemerkbar machen, die bereits jetzt intensive Kontakte mit den neuen Mitgliedsstaaten unterhalten und sich geographisch in einer günstigen Lage befinden. Hier kommen vor allem Finnland, Österreich und Deutschland in Betracht. Gerade die Bundesrepublik hat sich in den vergangenen Jahren als Vorreiter bei den Investitionen in die Beitrittsländer gezeigt. Viele deutsche Unternehmen profitieren nach einer Untersuchung des Instituts der Deutschen Wirtschaft dabei u. a. von hervorragenden Kenntnissen der deutschen Sprache und einem vergleichsweise hohen Bildungsniveau der Bevölkerung in den neuen Mitgliedsländern. So liegt der Anteil der mittel- und höherqualifizierten Bevölkerung im Alter zwischen 25 und 64 Jahren in allen Beitrittsstaaten über dem Durchschnitt innerhalb der EU. Dies eröffnet neben der Erschließung neuer Absatzmärkte auch die Möglichkeit der Nutzung neuer Produktionsstandorte. Einige namhafte Firmen haben sich bereits vor Ort niedergelassen und profitieren dabei von einem vergleichsweise niedrigen Lohnniveau. Dies weckt andererseits aber auch Bedenken, daß in einigen Branchen und Gebieten negative Folgen für Arbeitsplätze und Einkommen entstehen könnten. In vielen Staaten der EU 15 befürchtet man mit dem Beitritt der mittel- und osteuropäischen Länder eine erhöhte Migrationsbewegung in Richtung Westen.
Das immense Gefälle der Pro-Kopf-Einkommen und des Lebensstandards in West- und Osteuropa dürfte vor allem auf die jüngere Bevölkerung in den Beitrittsländern eine gewisse Anziehungskraft ausüben. Verschiedene Studien [z. B. vom Institut für Wirtschaftsforschung (ifo), vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) oder vom Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA)] beziffern das Potential an Migranten nach Deutschland auf bis zu 220.000 pro Jahr. Den mit dem Zuzug von nicht arbeitenden Bevölkerungsschichten verbundenen Belastungen für die Sozialsysteme stehen aufgrund der demographischen Entwicklung - Schrumpfung der Bevölkerung in den heutigen EU-15-Ländern und Alterungsprozeß - aber auch positive Impulse durch die Zuwanderung von Arbeitskräften für die Einwanderungsländer gegenüber. Der Anteil der Arbeitnehmer an der Gesamtzahl der Zuwanderer wird dabei vom DIW auf etwa 35-40 % geschätzt. Allerdings sind im Zuge der Beitrittsverhandlungen für den Zuzug von Arbeitskräften aus den neuen EU-Ländern Übergangsfristen von bis zu sieben Jahren vereinbart worden. Die mögliche Abwanderung von Fachkräften stellt für die Sozialsysteme in den Herkunftsländern dagegen zukünftig eine große Herausforderung dar.
Quelle: HSBC Trinkaus & Burkhardt
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