Britisches Haushaltdefizit alarmierend
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Die Wähler wollen mehr Geld für Gesundheit und Bildung, und die Beschäftigten im öffentlichen Dienst fordern höhere Löhne. Das ist die politische Lage gut ein Jahr vor den britischen Unterhauswahlen. Anleiheninvestoren fürchten latent höhere Staatsschulden, und der mittelfristige Ausblick verschlechtert sich. Gegen steigende Schulden könnten Inflation und Austerität helfen, aber beides wäre nicht wirklich gut. Die Politik muss bessere Antworten finden, auch wegen der oft schwierigen Demografie in der westlichen Welt. Kurzfristig stehen aber die Zinsen im Blickpunkt. Erste Zweifel kommen auf, ob man wirklich Anleihen kaufen soll. Kursgewinne scheinen vor allem dann möglich, wenn nicht mehr mit weiteren Zinserhöhungen gerechnet wird. Aber wie stark können die Langfristrenditen in den nächsten Jahren fallen, und wie volatil werden die Kreditkosten sein? Anleihen sind wichtige Anlageinstrumente, aber eine Neuauflage der letzten zehn Jahre wird immer unwahrscheinlicher.
Fernsehdiskussion: Diese Woche war ich zu einer Podiumsdiskussion eines auf Finanzthemen spezialisierten Streamingdienstes eingeladen. Gastgeber war der britische Journalist Robert Peston, und neben mir saßen zwei Kollegen von anderen Assetmanagern. Wir sprachen über den Ausblick für die Geldpolitik, die Wahrscheinlichkeit einer weichen und einer harten Landung, die Attraktivität von Anleihen und die Aussichten auf eine so starke Erholung der chinesischen Konjunktur, dass das Land bald wieder etwas zum Weltwirtschaftswachstum beitragen kann. Hinzu kamen zwei weitere Themen, die ich besonders spannend fand und für die sich Preston sehr begeistert hat: Künstliche Intelligenz (KI) und ihre möglichen Auswirkungen auf Aktien und den wirtschaftlichen und politischen Ausblick für Großbritannien.
Ein Jahr danach: Bald jährt sich zum ersten Mal der Tag, an dem Ex-Premierministerin Liz Truss und ihr Schatzkanzler Kwasi Kwarteng vergeblich versuchten, die britische Fiskalpolitik auf den Kopf zu stellen. Der damalige Finanzminister stellte einen Nachtragshaushalt vor, der es in sich hatte: Der Einkommensteuerspitzensatz von 45 Prozent sollte auf 40 Prozent, der Eingangssteuersatz von 20Prozent auf 19 Prozent gesenkt werden. Die geplante Erhöhung der Unternehmenssteuern wollte die Regierung zurücknehmen, die Bonusobergrenze für Banken wieder abschaffen. All dies wurde als „Wachstumspaket“ verkauft. Die Märkte waren wenig angetan. Am Morgen zuvor hatte die britische Zehnjahresrendite noch 3,5 Prozent betragen, stieg dann aber innerhalb weniger Tage auf 4,5 Prozent. Die Bank of England musste intervenieren, und der britische Pensionsfondssektor brach fast zusammen, denn wegen des drastischen Renditeanstiegs mussten britische Pensionsfonds mit derivatebasierten LDI-Strategien (Liability-Driven Investments) zusätzliche Sicherheiten bereitstellen. Am 14. Oktober hat die Premierministerin Kwarteng schließlich entlassen. Aber kaum einen Monat nach der Vorstellung des Haushaltsplans musste sie ebenfalls gehen. Eine britische Boulevardzeitung verglich die Länge ihrer Amtszeit mit der Haltbarkeitsdauer von Kopfsalat.
Wir werden es unseren Enkeln erzählen: Das Haushaltsdebakel kann es mit früheren Desastern wie dem Ausstieg des Pfund aus dem europäischen Wechselkursmechanismus 1992 aufnehmen. Vielleicht war es nicht ganz so schlimm wie der Zusammenbruch von Northern Rock und anderen Banken 2007 und 2008, aber es gefährdete die Renten von Millionen von Menschen und die Stabilität der britischen Staatsfinanzen. Ein Jahr danach beträgt die Zehnjahresrendite noch immer 4,3 Prozent, und der Haushaltsausblick ist keinesfalls rosig. Der jüngste Bericht des Office for Budget Responsibility (OBR) zu Haushaltsrisiken und finanzieller Nachhaltigkeit nennt mehrere strukturelle Herausforderungen: staatliche Renten für eine alternde Gesellschaft und das „Triple Lock“-Versprechen, die Kosten der Netto-Null-Zusagen und den Wunsch nach höheren Verteidigungsausgaben wegen der unsichereren Weltlage. Hinzu kommen Kosten durch einen höheren Krankenstand in Teilen der Bevölkerung und die Nachwirkungen des Quantitative Easing; die Kurzfristzinsen liegen jetzt über den Renditen der Staatsanleihen, die die Bank of England in den letzten Jahren gekauft hat.
Das Fazit liegt auf der Hand. Nachhaltige Staatsfinanzen erfordern eine grundlegende Reform der Fiskalpolitik, mit der Folge höherer Realrenditen und eines schwächeren Pfunds. Wenn aber die Zinsen dauerhaft höher sind als in den letzten zehn Jahren, wird allein der Schuldendienst Steuerzahler massiv belasten. Die Politik hat es dann noch schwerer, und die Risikoprämien von Staatsanleihen dürften steigen.
Die Achillesverse der Anleihenmärkte? Immer mehr Beobachter verweisen darauf, dass steigende Haushaltsdefizite und Staatsschulden den Anleihenmärkten schaden können. Die jüngste Herabstufung der USA durch Fitch hat sicherlich zum Ausverkauf amerikanischer Staatsanleihen im Sommer beigetragen. Weil die Notenbanken Anleihen verkaufen und die Regierungen zugleich mehr emittieren, haben sich Angebot und Nachfrage verschoben. Irgendwann kann das zu höheren Realrenditen und steileren Zinsstrukturkurven führen.
Gerade in Großbritannien ist die Unzufriedenheit mit staatlichen Dienstleistungen wie Gesundheitsversorgung und Bildung groß. Die vielen Streiktage haben auch damit zu tun, dass im öffentlichen Sektor höhere Löhne gefordert werden – aber auch in regulierten Branchen wie bei der Bahn, die trotz Privatisierung einer starken staatlichen Kontrolle unterliegen. Die Politik reagiert meist mit höheren Ausgaben. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht irgendein Minister mehr Geld für den NHS (den nationalen Gesundheitsdienst) oder für Schulen verspricht. Diese Woche war im Arbeitsmarktbericht zu lesen, dass die Löhne im öffentlichen Sektor von Mai bis Juli annualisiert um 12,2 Prozent gestiegen seien. Steigende Löhne sind aber nicht nur ein Problem für die Staatsfinanzen, sondern fördern auch die Inflation. Da vermutlich in gut einem Jahr das Unterhaus neu gewählt wird, ist die öffentliche Wahrnehmung staatlicher Dienstleistungen ein nicht zu unterschätzendes Thema.
Steigende Schuldenstandsquote: Sicher sollte man sich auch über die Nachhaltigkeit der Staatsfinanzen Gedanken machen. Zurzeit prognostiziert das OBR, dass die britische Netto-Schuldenstandsquote (Netto-Staatsschulden/BIP) bis Mitte des Jahrhunderts auf über 120 Prozent steigt. Dafür und für die höheren Haushaltsdefizite werden vor allem steigende Gesundheitskosten als Grund genannt. Die Politik steht gerade hier vor schwierigen Entscheidungen. Gesundheit ist ein äußerst sensibles Thema, zumal die Wartelisten immer länger werden und viele Menschen langfristig krankgeschrieben sind, auch – aber nicht nur – wegen Corona. Und die Fallzahlen steigen wieder.
Einstweilen sind britische Staatsanleihen aber nicht uninteressant: Kurzfristig bin ich für britische Staatsanleihen durchaus optimistisch. Die Renditen sind hoch, und selbst wenn die Bank of England ihren Leitzins auf 5,5 Prozent anhebt, dürfte es das bald gewesen sein. Die Inflation fällt, und es gibt Anzeichen dafür, dass der Wohnimmobilienmarkt allmählich auf die höheren Hypothekenzinsen reagiert. Britische Staatsanleihen sind günstig. Die 2061 fällige Anleihe mit einem Coupon von 0,5 Prozent – der Liebling der City – notiert noch immer unter 30. Allein der Gewinn durch den Kursanstieg auf pari ist nicht zu unterschätzen und sollte als recht sicher gelten. Nach der Zinserhöhung der Europäischen Zentralbank um 25 Basispunkte und ihrer Andeutung, dass dies zur Inflationsbekämpfung jetzt reiche, dürften Anleihen generell vom Ende der Zinserhöhungen profitieren, trotz höherer Ölpreise und gewisser Inflationsschwankungen. Die Geldpolitik wurde wirklich stark gestrafft; die Anleihenrenditen sind jetzt so hoch wie seit Jahren nicht mehr, und Wachstum und Inflation werden 2024 vermutlich fallen. Wahrscheinlich werden sich Anleiheninvestoren nächstes Jahr über ordentliche Realerträge freuen können.
Außerdem halte ich die Nachhaltigkeit der Staatsschulden eher für ein langfristiges Thema. Die Angst vor einem langfristigen Anstieg der Schuldenstandsquote dürfte keine wirklich großen Auswirkungen auf die aktuellen Kurse haben. Japan zeigt dies eindrucksvoll. Großbritannien kann dank einer eigenen Währung auch mit der Geldpolitik gegensteuern und im Extremfall auf eine höhere Inflation setzen. Italien und Griechenland, aber auch andere Mitglieder des Euroraums oder des EU-Fiskalpakts, können das nicht. In Großbritannien liegt vieles im Argen, aber so schlimm wie 2012 in Griechenland, Portugal, Spanien und Italien ist es nicht!
Längerfristig könnten Politik und Staatsfinanzen britischen Anleihen aber schaden. Durch das Pensionsfondsdebakel im letzten Jahr ist die Nachfrage nach britischen Langläufern und inflationsindexierten Anleihen strukturell gefallen, aber das Angebot wird steigen. Auch wegen der politischen Unsicherheit im Vorfeld der Unter-hauswahlen dürften sich internationale Investoren kaum mehr verstärkt für britische Anleihen erwärmen, zumal ein Regierungswechsel wahrscheinlich ist. Auch kurz-fristig drohen weitere Schwierigkeiten, falls sich die Bank of England, anders als in den Kursen berücksichtigt, nicht mit einem Zinsschritt begnügt.
Billige britische Aktien: Diese Zweifel könnten auch ein Grund dafür sein, dass britische gegenüber anderen Aktien noch immer mit einem Abschlag gehandelt werden. Manche britischen Unternehmen sind zweifellos leistungsfähig. Das beweisen nicht zuletzt die anhaltenden Wagniskapital- und Private-Equity-Investitionen in kleine und mittlere Firmen. Dennoch glaube ich, dass internationale Aktieninvestoren Großbritannien nicht besonders schätzen. Die Entscheidung von Arm Holdings, in den USA an die Börse zu gehen, macht es nicht besser. Britische Aktien sind billig: Britische Large Caps zahlen ordentliche Dividenden, und es gibt einige wirklich interessante Technologie- und Gesundheitswerte. Aber das ist eher ein Bottom-up- als ein Top-down-Thema.
Ist KI die Rettung? Kann Künstliche Intelligenz etwas gegen die Haushaltsprobleme ausrichten? Bessere öffentliche Dienstleistungen ohne übermäßige Steuererhöhungen sind nur bei mehr Wachstum möglich (weil dann die Steuereinnahmen steigen) – oder bei einem effizienteren staatlichen Sektor. Kaum eine Institution dürfte über mehr Daten verfügen als der Staat. Mit KI könnte man Bürokratie abbauen, das Beschaffungswesen des NHS optimieren, den Bildungssektor verbessern und die Mindestbildungsstandards für benachteiligte Schüler anheben. Große Sprachmodelle und lernende Maschinen müssen doch komplexe Haushaltsplanungen vereinfachen können, sodass weniger unnütze Ausgaben anfallen und das Geld sinnvoller eingesetzt wird – oder nicht?
Das macht Hoffnung: Die Staatsfinanzen sind in der Regel deshalb so chaotisch, weil Regierungen keine sonderlich guten Planer sind. Die Koordination verschiedener Politikbereiche fällt ihnen schwer, und viele Abgeordnete interessieren sich nur für ihren eigenen Wahlkreis. Pork Barrel Politics nennen das die Amerikaner. Zurzeit scheint aber eine Regulierung der KI – begründet mit Stellenabbau oder Sicherheitsbedenken – wahrscheinlicher als eine umfassende Nutzung ihres Potenzials zur Verbesserung der Lebensstandards all derer, die besonders auf öffentliche Dienstleistungen angewiesen sind. Hoffen wir auf Politiker mit Visionen.
In allen Industrieländern haben Corona und der Energiepreisschock die Staatsausgaben steigen lassen. Jetzt geht das Wachstum zurück, was die Staatshaushalte weiter belastet, vor allem, wenn die Arbeitslosigkeit zunimmt. In den USA sind Konjunkturprogramme ein wichtiger Grund für das noch immer recht hohe Wachstum, selbst wenn es sich nur um Subventionen im Rahmen der verschiedenen Maßnahmen der Biden-Administration handelt. Bei einer expansiven Fiskalpolitik könnten die Zinsen aber noch länger hoch bleiben, und vielleicht wächst auch der Druck auf die Notenbanken, den Regierungen mit der Geldpolitik beizuspringen. Das Quantitative Easing könnte durchaus wiederbelebt werden.
Niedrigzinsen passé: Nichts davon heißt aber, dass wir jetzt pessimistisch für Anleihen sind. Dennoch können wir mittelfristig einen Renditeanstieg um weitere 100 bis 200 Basispunkte nicht ausschließen. Ohne einen weiteren Rückgang der Inflation auf einen dauerhaft sehr niedrigen Wert dürften die Tage gezählt sein, in denen sich der britische Staat für weniger als ein Prozent Zinsen 30 Jahre lang Geld leihen kann. Und das bis auf Weiteres.
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