Kommentar
10:02 Uhr, 30.11.2022

Anleger wetten auf ein seltenes Ereignis

Über die Aktienmarktperformance konnte man sich in den vergangenen Wochen nicht beklagen. Anleger feiern, als ob der nächste Bullenmarkt bereits begonnen hätte. Das wäre sehr ungewöhnlich.

Was den Markt beflügelte, ist klar. In Europa bleiben große Strommangellagen mit hoher Wahrscheinlichkeit in diesem Winter aus. In den USA hat die Fed recht explizit angekündigt, dass der Leitzins nun langsamer steigen wird. Auch bei der EZB mehren sich die Stimmen, die auf kleinere Zinsschritte setzen wollen.

Gefeiert werden zukünftig kleinere Zinsschritte. Dabei wird vergessen, dass die Zinswende damit noch nicht beendet ist. Die Zinsen steigen weiter, nur eben langsamer. Es gibt keine Garantie, dass der US-Leitzins Ende 2023 nicht bei 8 % steht. Anleger scheinen eine Verlangsamung so zu feiern wie eine Zinswende nach unten.

Bis zur ersten Zinssenkung dauert es noch lange und ob diese in den USA von 5 % oder 7 % oder 8 % stattfindet, weiß keiner. Besonders ernüchternd ist in diesem Zusammenhang die Kursentwicklung nach der letzten Zinserhöhung. Der Aktienmarkt erreichte noch nie ein Bärenmarkttief, bevor der Zins zum letzten Mal angehoben wurde (Grafik 1).

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Die vergangenen zwei großen Bärenmärkte Anfang des Jahrtausends und 2007-2009 sind besonders eindrückliche Beispiele. Der Leitzins wurde im Jahr 2000 kurz vor Erreichen des Hochs am Aktienmarkt angehoben. Das Bärenmarkttief kam erst zwei Jahre später. Vor der Finanzkrise wurde der Leitzins das letzte Mal im Jahr 2007 angehoben. Der Markt stieg noch monatelang weiter. Der Crash fand über ein Jahr später statt und das Kurstief wurde erst Anfang 2009 erreicht.

Der große Abstand zwischen der letzten Zinserhöhung und dem Bärenmarkttief hat gute Gründe. Zinsen wirken nicht sofort. In den USA werden Bremsspuren auf dem Immobilienmarkt deutlich. Darüber hinaus hatten die Zinsen wenig Wirkung. Erst im Laufe des kommenden Jahres wird ersichtlich, wie stark die Zinserhöhungen bremsen.

Absehbar ist eine wirtschaftliche Stagnation. In den USA hat diese bereits Anfang 2022 begonnen. Je länger eine Stagnation dauert und Wachstum auf sich warten lässt, desto mehr Schieflagen können entstehen. Viele Unternehmen, z.B. mit schlechten Bonitätsratings, können eine Flaute von zwei Quartalen überstehen, nicht aber, wenn diese über zwei Jahre andauert.

Die Rechnung für die höheren Zinsen kommt erst noch. Es dauert eben. Anleger ignorieren das derzeit. Tendenziell ist der Markt nach dem letzten Zinsschritt schwach. 2007 und 2019 waren eine Ausnahme (Grafik 2). Die Wahrscheinlichkeit, dass der Markt ein halbes Jahr nach dem letzten Zinsschritt tiefer steht, ist hoch. Und es ist logisch, da Zinsen die Wirtschaft und Unternehmensgewinne mit Verzögerung bremsen. Wer darauf wettet, dass der Markt das Tief vor der letzten Zinserhöhung erreicht, wettet auf ein seltenes Ereignis.

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Über den Experten

Clemens Schmale
Clemens Schmale
Finanzmarktanalyst

Clemens Schmale hat seinen persönlichen Handelsstil seit den 1990er Jahren an der Börse entwickelt.

Dieser gründet auf zwei Säulen: ein anderer Analyseansatz und andere Basiswerte. Mit anders ist vor allem die Kombination aus Global Makro, fundamentaler Analyse und Chartanalyse sowie Zukunftstrends gemeint. Während Fundamentaldaten und Makrotrends bestimmen, was konkret gehandelt wird, verlässt sich Schmale beim Timing auf die Chartanalyse. Er handelt alle Anlageklassen, wobei er sich größtenteils auf Werte konzentriert, die nicht „Mainstream“ sind. Diese Märkte sind weniger effizient als andere und ermöglichen so hohes Renditepotenzial. Sie sind damit allerdings auch spekulativer als hochliquide Märkte. Die Haltedauer einzelner Positionen variiert nach Anlageklasse, beträgt jedoch meist mehrere Tage, oft auch Wochen oder Monate.

Rohstoffe, Währungen und Volatilität handelt er aktiv, in Aktien und Anleihen investiert er eher langfristig. Die Basiswerte werden direkt – auch über Futures – oder über CFDs gehandelt, in Ausnahmefällen über Optionen und Zertifikate.

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