Kommentar
10:00 Uhr, 22.12.2008

An Herrn Doktor J.M. Keynes - Die US-Notenbank ist unter der Führung Ihres größten Fans (Bernanke) nicht untätig geblieben

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Verehrter Herr Doktor Keynes, bitte verzeihen Sie mir, dass ich Sie aus Ihrer wohlverdienten Ruhe reiße, aber die Situation macht dies leider erforderlich. Nur Sie mit Ihrer unschätzbaren Erfahrung können uns jetzt helfen. Denn die Bankengrippe, die vor etwa 18 Monaten in den Vereinigten Staaten ausbrach, hat sich mittlerweile nicht nur auf das gesamte westliche Bankensystem ausgeweitet, sondern auch die weltweite Realwirtschaft angesteckt. Natürlich haben wir – und das ist teilweise auch Ihnen zu verdanken - die Konsequenzen aus den Fehlern der Vergangenheit gezogen. So wurden noch nie da gewesene Maßnahmen beschlossen und viele davon bereits umgesetzt. Jedoch bewirken die finanzielle und wirtschaftliche Globalisierung auf der einen Seite und das Gewicht der Finanzwirtschaft auf der anderen Seite, dass die Ansteckungswelle sich so umfassend und erbarmungslos auswirkt, wie es bislang noch kaum jemand erlebt hat. Zunächst möchte ich Ihnen die Patienten vorstellen, die am meisten betroffen und in die Geschehnisse verstrickt sind: die USA, Europa und China. Zur Erleichterung der Diagnose und Beschleunigung der von Ihnen als notwendig erachteten Maßnahmen gegen diese Epidemie möchte ich Ihnen einige Informationen über den Gesundheitszustand dieser Patienten geben, so wie wir ihn bei Carmignac Gestion sehen.

Beginnen wir mit den USA, der offensichtlichen Quelle all unserer Übel. Wirtschaftlich deuten alle Indikatoren auf eine schwere Rezession hin, was wir vor drei Monaten noch ausgeschlossen hatten. Der Einkaufsmanagerindex (PMI) für den Fertigungssektor erreichte den niedrigsten Stand seit 1982, und seine Preiskomponente ist so niedrig wie seit Anfang der 50er Jahre nicht mehr. Will sich da wirklich noch jemand darüber lustig machen, wenn wir eine Deflation im Jahr 2009 für möglich halten? Der Einkaufsmanagerindex (PMI) für den Dienstleistungssektor befindet sich auf dem niedrigsten Niveau, der je gemessen wurde. Die Arbeitslosenquote liegt mittlerweile bei 6,7 %, nachdem im November netto 533.000 Arbeitsplätze verloren gingen (der Rekord liegt bei 602.000 Arbeitsplätzen im Dezember 1974). Der Automobilsektor befindet sich mit 800.000 unverkauften Fahrzeugen, allein bei den Händlern von General Motors, praktisch in der Pleite.

Die US-Notenbank ist im Monatsverlauf unter der Führung Ihres größten Fans, Ben Bernanke, nicht untätig geblieben. Hatte er denn eine andere Wahl? Wer glaubte noch daran, dass die US-Notenbank und das Finanzministerium - so wie Herakles, der in einem Tag den Augiasstall ausmistete – das Bankensystem aufräumen und es so schnell wieder zum Funktionieren bringen könnten?

Nur der Aktienmarkt konnte die zweite Kapitalerhöhung bei der Citigroup (mit dem steilsten Anstieg des Dow Jones seit 45 Jahren) begrüßen, die mit einer Garantie von über 300 Milliarden Dollar für die Verpflichtungen der Bank einherging. Ich sehe darin nur eine beklagenswerte Notwendigkeit, die uns in unserer Überzeugung bestätigt, dass das Bankensystem nicht in der Lage ist, die Realwirtschaft zu stützen. Die US-Notenbank befindet sich an einem Punkt, an dem sie Maßnahmen jenseits der geldpolitischen Orthodoxie ergreift und die berühmte Notenpresse in Gang setzt („We have a technology ..."), um die Deflation zu bekämpfen. Wie sonst soll man die Geldspritze von 800 Milliarden Dollar verstehen, die eine Senkung der Zinsen am langen Ende der Kurve bewirken sollte? Und es funktioniert: Die zehnjährigen Staatsanleihen liegen bei etwa 2,60 %, die Refinanzierungsnachfrage ist hoch.

Was die finanzpolitischen Maßnahmen angeht, möchte ich Sie jedoch bis zu Ihrer Diagnose darauf hinweisen, dass Sie vor Ende Januar keinen Ansprechpartner mehr finden. So brillant das von Barack Obama aufgestellte Team erscheinen mag, es wird Ihre Empfehlungen nicht vor dem 20. Januar umsetzen können. Bis dahin sollten Sie erst gar nicht hoffen, Georges W. Bush oder Herrn Paulsen, einen der großen Architekten der ungehemmten Finanzgeschäfte bei Goldman Sachs, davon überzeugen zu können, ihre letzten Wochen mit dem Ausmisten ihres Stalls zu verbringen.

Europa gibt kaum ein besseres Bild ab. Großbritannien ist sicherlich ein Sonderfall. Das Land ist stärker als Kontinentaleuropa betroffen, mit Ausnahme von Spanien, wo das Ausmaß der Krise hinter dem in Großbritannien und den USA kaum zurücksteht. Folglich ergriffen die Regierung von Gordon Brown sowie die britische Notenbank Maßnahmen von noch nie da gewesenem Ausmaß. So senkte die britische Notenbank ihre Leitzinsen gerade auf 2 %, das niedrigste Niveau seit Gründung der Bank im Jahr 1694! Selbst EZB-Chef Trichet senkte die Leitzinsen in einem Schritt um 0,75 %. Dies ist zwar eine Premiere in der Geschichte der Bank, aber aus unserer Sicht immer noch viel zu zögerlich. Trichet ist sicherlich der letzte, der
nicht wüsste, dass die kurzfristigen Nominalzinsen auf null gesenkt werden müssen! Ist die Inflation in der Eurozone nicht innerhalb eines Monats von 3,2 % auf 2,1 % gesunken? Ist die Arbeitslosenquote nicht innerhalb weniger Monate von kaum 7,2 % auf 7,7 % gestiegen? Aber natürlich haben Sie Recht, wenn Sie darauf hinweisen, dass die Geldpolitik nicht alles lösen kann.

Und nun eine Bitte, Herr Doktor: Helfen Sie uns, Frau Merkel, die das Land mit dem niedrigsten Defizit in der Eurozone führt, davon zu überzeugen, dass sie nicht untätig bleiben darf wie der Kapitän der Titanic, der im Nebel mit voller Kraft auf den Eisberg zusteuerte. Was uns in Frankreich angeht, müssen Sie einräumen, dass unser Präsident sich immerhin große Mühe gibt. Er fordert einen Staatsfonds „à la française“, also ohne Mittel und mit einem widersprüchlichen Auftrag, nämlich einem Hilfsprogramm für den sozialen Wohnungsbau und einem für die Automobilbranche (10 % der Arbeitsplätze im Fertigungssektor) ... und bereits im vergangenen Monat äußerte ich meine Angst vor einer Politik, in der jeder nur für sich kämpft. Ich sorge mich heute um die Zukunft des Euro.

Sie fragen sich, warum ich China als Patienten bezeichne, wo ich doch bekanntlich bis vor kurzem noch überzeugt war, dass sich das Reich der Mitte zwar nicht von der allgemeinen Entwicklung abkopple, aber doch eine bemerkenswerte wirtschaftliche Widerstandskraft an den Tag lege. Als im Jahr 1978 Deng Xiaoping die Umstrukturierung des Landes in Angriff nahm, psalmodierte die ganze Welt: „Nur der Kapitalismus kann China retten“. Nicht viel später stimmten die Ökonomen ein neues Credo an: „Nur China kann den Kapitalismus retten“! Tatsächlich, lieber Doktor, deuten die Wirtschaftsdaten aus China auf eine drastische Verschlechterung der Wirtschaftstätigkeit sowohl im Wohnungsbau als auch im produzierenden Sektor hin. Das Wachstum mag zwar noch 8 % betragen, aber verglichen mit den bisherigen 12 % entspricht das schon einer Rezession. Die Regierung und die Zentralbank haben bereits Maßnahmen ergriffen, die Ihre Zustimmung finden werden:
Vier Zinssenkungen in weniger als drei Monaten und ein gigantisches Konjunkturprogramm, das einen Wert von 14% des Bruttoinlandsprodukts über zwei Jahre haben wird. Doch bis diese Maßnahmen greifen, wird einige Zeit vergehen. Bis dahin kann China genauso wenig wie Indien oder Brasilien die lahmende Weltwirtschaft wieder anschieben.

Was sollen wir in dieser Situation tun? Natürlich behalten wir eine vorsichtige Haltung bei. Wir bleiben sogar so vorsichtig wie möglich, wenn dieser Begriff an den Wertpapiermärkten überhaupt noch verwendet werden kann. Vor diesem Hintergrund behält die globale Verwaltung von Carmignac Gestion ein reduziertes Engagement in den riskantesten Titeln bei, dank eines bedeutenden Anteils an liquiden Mitteln und gezielten Absicherungen. Müssen wir aber dann nicht fürchten, einen starken Aufschwung an den Aktienmärkten zu verpassen? Wir glauben das nicht. Einerseits behalten wir Anlagen bei, die sich nach unserer Einschätzung am besten in der derzeitigen Konjunkturlage behaupten und von einer Verbesserung der Risikoaversion profitieren werden. Andererseits haben wir bei einer Volatilität, die zwischen 50 % und 80 % schwankt, keinerlei Gewissheit, dass eine Erhöhung des eingegangenen Risikos zu einem damit in einem angemessenen Verhältnis stehenden zusätzlichen Ertragszuwachs führen würde. Nach wie vor halten wir den Erhalt des Kapitals für unsere wichtigste Aufgabe.

Die Abhilfemaßnahmen sind teilweise bekannt: gezielte Steuersenkungen, Anreize jeder Art, umfangreiche
Investitionsprogramme in die Entwicklung und Sanierung der Infrastruktur. Aber die Aufräumarbeiten nach den Exzessen in der Finanzwelt sind noch nicht abgeschlossen, und der Aufschwung ist noch in weiter Ferne. Die richtige Kombination all dieser Maßnahmen und die Beurteilung ihrer Folgen bleiben wichtige Fragen am Ende dieses Jahres.

Aber ich habe Ihre Zeit bereits zu sehr in Anspruch genommen. Ich verlasse mich auf Sie, verehrter Doktor Keynes, und möchte Ihnen, trotz der großen Last, die nun auf Ihnen ruht, schöne Feiertage wünschen.

Herzliche Grüße,

Eric Le Coz - Carmignac views

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