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14:30 Uhr, 13.11.2024

Wirtschaftsweise sehen Deutschland in der Stagnation

Von Andreas Kißler

DOW JONES--Die fünf Wirtschaftsweisen erwarten, dass die deutsche Volkswirtschaft 2024 stagniert und sich erst im Verlauf des Jahres 2025 leicht erholt. Für dieses Jahr rechnet der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) mit einem Rückgang des Bruttoinlandsproduktes (BIP) um 0,1 Prozent. Nächstes Jahr dürfte das BIP leicht um 0,4 Prozent wachsen. "Die deutsche Volkswirtschaft befindet sich weiterhin in der Stagnation", so der SVR, der im Mai noch um 0,2 Prozent Wachstum im laufenden Jahr erwartet hatte. "Die Schwäche der Industrie und die Dauer der Schwächephase legen nahe, dass die deutsche Wirtschaft neben konjunkturellen auch von strukturellen Problemen ausgebremst wird", sagte die Vorsitzende des Gremiums, Monika Schnitzer.

"In Deutschland gab es in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten Versäumnisse in der Politik und in der Wirtschaft. Um so wichtiger ist es, die Modernisierung unseres Landes jetzt entschlossen voranzutreiben", betonte die Ökonomin. Für die privaten Konsumausgaben sagen die Wirtschaftsweisen in ihrem Jahresgutachten Zuwächse um 0,4 Prozent in diesem und 0,5 Prozent im nächsten Jahr voraus, für die Ausrüstungsinvestitionen hingegen einen Rückgang um 5,6 Prozent 2024 und ein Wachstum von 0,7 Prozent 2025.

Die Verbraucherpreisinflation geht laut dem Gutachten deutlich zurück und nähert sich dem Ziel der Europäischen Zentralbank an. Die Inflationsrate dürfte 2024 durchschnittlich 2,2 Prozent betragen, für das Jahr 2025 rechnet der Sachverständigenrat mit einer Rate von 2,1 Prozent. Die Arbeitslosenquote wird dieses Jahr bei 6,0 Prozent und kommendes bei 6,1 Prozent gesehen. Die Arbeitslosenzahl soll 2024 auf 2,792 Millionen und 2025 auf 2,869 Millionen steigen. Die Exporte sollen nach der Prognose dieses Jahr um 0,2 Prozent sinken und nächstes um 0,8 Prozent steigen, für die Importe wird ein Rückgang um 1,1 Prozent im Jahr 2024 und ein Zuwachs um 1,5 Prozent 2025 prognostiziert.

Produktion und Wertschöpfung im verarbeitenden Gewerbe seien zurückgegangen, die Investitionen seien ebenfalls rückläufig, erklärte das Gremium. Gleichzeitig führe die Erholung der Weltwirtschaft nicht im bisher üblichen Maße zu einer Steigerung der Exporte. Die privaten Haushalte hätten trotz deutlicher Reallohnzuwächse in den Jahren 2023 und 2024 ihren Konsum bisher nur wenig erhöht. Pessimistische Erwartungen über die weitere wirtschaftliche Entwicklung und eine Verlangsamung der Reallohnsteigerungen dürften dazu führen, dass die privaten Konsumausgaben auch im Jahr 2025 nur wenig steigen werden.

Mehr Verbindlichkeit bei zukunftsorientierten Ausgaben

"Die deutsche Wirtschaftsleistung wird 2025 voraussichtlich auf einem ähnlichen Niveau wie vor der Corona-Krise liegen. Die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland zeigt sich deutlich schwächer als in anderen fortgeschrittenen Volkswirtschaften", konstatierte SVR-Mitglied Martin Werding. Das Beratungsgremium forderte, die Verbindlichkeit bei zukunftsorientierten öffentlichen Ausgaben müsse erhöht werden. Diese würden von der Politik zu wenig priorisiert und fielen daher seit Jahren gering aus. Diese Versäumnisse zeigten sich vor allem bei den Ausgaben für Verkehrsinfrastruktur, Verteidigung und Schulbildung, deren gesellschaftlicher Nutzen größtenteils erst in der Zukunft eintrete. "Diese werden gegenüber Ausgaben, die der derzeitigen Wählerschaft zugute kommen, von der Politik oft zurückgestellt", monierten die fünf Weisen.

Daher seien institutionelle Vorkehrungen notwendig, die die Politik wirksam verpflichteten, ausreichende Mittel für zukunftsorientierte Ausgaben einzusetzen. Geeignete institutionelle Vorkehrungen müssten auf die Anforderungen im jeweiligen Aufgabenbereich abgestimmt werden. "Für den Erhalt, die Modernisierung und den Ausbau des bundeseigenen Straßen- und Schienennetzes eignet sich ein Verkehrsinfrastrukturfonds mit dauerhaft eigenen Einnahmequellen, die aus dem Bundeshaushalt übertragen werden - wie beispielsweise Mauteinnahmen", schlug SVR-Mitglied Achim Truger vor. Der Nachholbedarf zur Modernisierung der Verkehrsinfrastruktur könnte über begrenzte Kreditrahmen innerhalb einer reformierten Schuldenbremse finanziert werden.

Für die Verteidigungsausgaben sowie für Bildungsausgaben, insbesondere für Schulbildung, sollten Mindestausgabenquoten definiert werden. Für Verteidigung biete sich das Zwei-Prozent-Ziel der Nato an. Bei der Bildung könnte ein Indikator ausgehend von Mindestausgaben je Schülerin und Schüler festgesetzt werden. Bei der Digitalisierung des Finanzmarkts bestehe ebenfalls Nachholbedarf. "Digitale Innovationen dürften vor allem von neuen Finanzmarktakteuren wie Fintech- und Bigtech-Unternehmen ausgehen", erklärte die Wirtschaftsweise Ulrike Malmendier. Die zentrale wirtschaftspolitische Herausforderung bestehe darin, "digitale Innovation im Finanzsektor zu ermöglichen, ohne die Finanzstabilität zu gefährden".

Besonders für Finanztechnologieunternehmen sollten "regulatorische Experimentierräume" für neue Produkte und Geschäftsmodelle eingerichtet werden. Auch könnte auf Kundenwunsch eine einfachere Übertragung finanzieller Kundeninformationen zu alternativen Anbietern den Wettbewerb stärken. Der geplante digitale Euro könnte eine kostengünstige und sichere Alternative zu Kreditkarten sowie zu Internet-Bezahlverfahren bieten. Der SVR forderte auch, für mehr Wohnraum in Ballungsräumen und besseren Zugang zu Sozialwohnungen das Wohnraumangebot zu stärken, den Wohnungsbestand effizienter zu nutzen und die soziale Wohnungspolitik zielgenauer auszurichten. "Der Wohnungsneubau kann durch die Mobilisierung von Baulandpotenzialen, stärkere Bauanreize und eine Senkung der Baukosten mittels harmonisierter Bauvorschriften erhöht werden", sagte SVR-Mitglied Veronika Grimm.

Kontakt zum Autor: andreas.kissler@wsj.com

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