Weshalb die US-Wahlen für Anleger möglicherweise keine Rolle spielen
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In den USA sind Widersprüche nichts Neues. Es gibt jedoch Augenblicke, in denen sich sogar erfahrene Beobachter die Augen reiben. Ein Beispiel dafür waren die späten 1960er Jahre: Während die Welt die ersten Schritte von Neil Armstrong auf dem Mond bestaunte, wurden die USA von zivilen Unruhen wegen des Vietnamkriegs, Rassenkrawallen in Städten wie Detroit und einer konfliktbeladenen Wahl erschüttert. Das Jahr 2020 bietet traurigerweise ein vergleichbares Bild: In den größeren Städten der USA eskalieren die Rassenkonflikte, während Wahlen bevorstehen und erneut Astronauten ins All geschossen werden.
Lässt man jedoch den Aspekt beiseite, wie brüchig sich die amerikanische Ausnahmestellung zeigt, besteht der entscheidende Unterschied zur damaligen Konstellation darin, dass das Coronavirus den Niedergang einer politischen Kultur beschleunigt hat, die seit Mitte der 1990er Jahre eine zunehmende Spaltung aufweist. Für manchen Anleger ist dies verständlicherweise eine nervenaufreibende Situation. Es darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass zwischen der US-Politik und den Anlagemärkten keine direkte Beziehung besteht. Trotz aller Furcht vor umverteilungswütigen Demokraten oder populistischen Republikanern tendierte der US-Aktienmarkt nach Parlamentswahlen in den USA mit nur sehr wenigen Ausnahmen in der Regel aufwärts.
Zum Teil lässt sich dies möglicherweise einfach auf die Erleichterung darüber zurückführen, dass der Wahlkampfzirkus im jeweiligen Jahr endlich beendet war. Ein Grund könnte jedoch auch sein, dass die Unsicherheit über den Wahlausgang nicht mehr ins Gewicht fällt, sobald man diese dem stetigen Wirtschaftswachstum, der dynamischen Innovation, den weltweit vorbildlichen Unternehmensleitungen und den liquiden Aktienmärkten der USA gegenüberstellt. Die Coronavirus-Pandemie und der damit verbundene wirtschaftliche Schock könnten die Anleger jedoch dazu bewegen, die anlagerelevanten Faktoren im Jahr 2020 intensiver zu untersuchen. Da diesmal theoretisch mehr auf dem Spiel steht als gewöhnlich, könnten politische Unterschiede in diesem Jahr insbesondere angesichts der relativen Robustheit des Marktes tatsächlich ins Gewicht fallen.
Trump-Wahlsieg könnte US-Unternehmen und Aktienmarkt zugute kommen
Eine Analyse der Kandidaten zeigt: Falls sich Präsident Trump eine weitere vierjährige Amtszeit sichern sollte, könnte potenziell die Aggressivität gegenüber China eskalieren, ein weiterer Coronavirus-Schub außer Kontrolle geraten und das Haushaltsdefizit derart ausufern, dass es unbeherrschbar wird. Im Hinblick auf Letzteres kann mit Sicherheit behauptet werden, dass Präsident Trump kein Verfechter restriktiver Haushaltspolitik ist. Als George W. Bush im Jahr 2008 den Geldhahn aufdrehte, um die Banken zu retten und die US-Wirtschaft nach dem Lehman-Konkurs anzukurbeln, trat sein Zögern deutlich zutage, als er erklärte: «Eine völlige Beseitigung des Risikos würde auch die Innovationskraft und Produktivität untergraben, die die Schaffung von Arbeitsplätzen und Wohlstand in Amerika antreibt.» Der aktuelle Präsident zögert jedoch nicht, wenn es darum geht, Geld auszugeben. Er wird seinem von ihm selbst geprägten Spitznamen als «Schuldenkönig» vollends gerecht. Das US-Finanzministerium gab vor Kurzem bekannt, dass es allein im zweiten Quartal 2020 die atemberaubende Summe von 3 Billionen USD als neue Schulden aufnehmen müsse. Obwohl es zutrifft, dass die Kosten für diesen Schuldendienst gering sind und ein Großteil der Anleihen direkt von der US-Notenbank aufgekauft werden, bestehen dennoch Zweifel, ob das enorme Ausmaß dieser Kreditaufnahme tatsächlich folgenlos bleiben kann.
Andererseits würden die Unternehmenssteuern bei einer zweiten Amtszeit von Trump, wie im Kernstück seiner Regierungserklärung, dem Tax Cuts and Jobs Act von 2017, vorgesehen, höchstwahrscheinlich niedrig bleiben. Dies würde bedeuten, dass große US-Unternehmen weiterhin einen Anreiz hätten, ihre Liquiditätsreserven im Land zu halten und einen sofortigen, abgabefreien Zugang für künftige Investitionen sicherstellen. Davon profitierte insbesondere der Technologiesektor. Hier drängt sich ein vorteilhafter Vergleich mit dem früheren US-Riesen General Electric auf. Das Unternehmen konnte während der Weltwirtschaftskrise das Fernsehen erfinden, weil es weiter in Forschung und Entwicklung investierte, während andere Unternehmen Arbeitskräfte entließen. Zudem würden die Deregulierung und angebotsseitigen Reformen fortgesetzt. Damit könnten bürokratische Hindernisse abgebaut und die Obsession der USA für Berufsgenehmigungen umgangen werden, um nach der Coronavirus-Pandemie dringend benötigte Arbeitsplätze zu schaffen. Es ist eine unbequeme Wahrheit, dass Trumps Politik den US-Unternehmen und dem Aktienmarkt zugutekam, auch wenn einige Analysten dies zunächst nicht wahrhaben wollten. Eine zweite Amtszeit könnte eine Fortsetzung dieser Politik mit sich bringen.
Wahlsieg Demokraten: höhere Unternehmens- und Kapitalgewinnsteuer wahrscheinlich
Den Demokraten kann angesichts der oben beschriebenen Position der Republikaner indes kaum eine unverantwortliche und damit vergleichsweise gefährlichere Haushaltspolitik vorgeworfen werden. Trotzdem wäre unter den Demokraten mit höheren Unternehmens- und Kapitalgewinnsteuern zu rechnen, um eine gleichmäßigere Steuerlast in den USA zu erreichen. Ebenso sind schärfere Umweltschutzbestimmungen zu erwarten, und auf bestimmte Unternehmen kämen höhere Kosten zu. Unternehmen mit hohem CO2-Ausstoß würden mit größeren Herausforderungen konfrontiert. Infolge des Pariser Übereinkommens und des jüngsten Energiepreisverfalls haben sich zahlreiche Anleger jedoch mittlerweile entsprechend positioniert. Der wichtigste Aspekt für die Märkte wäre vermutlich, wie sich eine demokratische Regierung auf den Technologiesektor auswirkt. Technologieaktien, insbesondere die «großen Fünf» Facebook, Amazon, Apple, Microsoft und Alphabet, haben den US-Aktienmarkt nicht nur während der Pandemie (siehe Abbildung 2 im Anhang), sondern bereits in den vorangegangenen Jahren angetrieben.
Während die aktuelle Regierung nicht bereit war, sich an den Diskussionen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) über eine globale Digitalsteuer zu beteiligen, erkennen viele Demokraten, dass die Konsumenten die Monopolstellung der großen Technologieunternehmen zunehmend mit Misstrauen betrachten. Untersuchungen der US-Handelskommission und des Justizministeriums dürften unter einer demokratischen Regierung neuen Auftrieb erhalten, während die globale Digitalsteuer zu einem späteren Zeitpunkt in veränderter Form erneut zur Diskussion gestellt werden könnte. Obwohl Politiker wie Elizabeth Warren im Hinblick auf den internationalen Handel keine Befürworter einer «fehlbewerteten» Globalisierung sind, ist es jedoch unwahrscheinlich, dass die Beziehungen zu Handelspartnern derart feindselig würden, wie es während der aktuellen Regierung Trump der Fall ist. Marktschwankungen wie in den Jahren 2018 und 2019 aufgrund einer aggressiven Handelsrhetorik würde es unter einer zukünftigen demokratischen Präsidentschaft vermutlich nicht geben.
Das Beste aus beiden Welten: Demokratische Präsidentschaft mit Republikanischem Senat
Insgesamt ergibt dies ein wesentlich nuancierteres Bild als das traditionelle Schema «Republikaner gut – Demokraten schlecht», das viele Marktgurus angesichts der bevorstehenden Wahlen präsentieren. Eine relativ inaktive Präsidentschaft von Joe Biden mit einem republikanischen Senat könnte sogar das «Beste aus beiden Welten» bieten; eine Situation, in der die niedrigen Steuersätze bestehen bleiben, aber es keine Tweets sowie handelspolitischen und diplomatischen Dramen mehr gibt, die Volatilität auslösen. Selbst das angenommene Worst-Case-Szenario eines Wahlsiegs der Demokraten auf der ganzen Linie wäre möglicherweise in zweierlei Hinsicht gar nicht so schlecht: Erstens entwickelte sich der US-Aktienmarkt in den vergangenen Monaten recht gut, obwohl Biden in den Umfragen einen beachtlichen Vorsprung vor Trump hatte. Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass Biden im Gegensatz zu seinem kürzlich von ihm bezwungenen Herausforderer aus Vermont eine relativ bekannte Größe ist, mit der sich die großen Unternehmen arrangieren können. Im Vergleich dazu löste Hillary Clinton im Vorfeld der Wahlen im Jahr 2016 mit ihren radikalen Aussagen zu den Arzneimittelpreisen mehrmals heftige Schwankungen der Aktienkurse großer Pharmaunternehmen aus.
Der zweite Grund, weshalb ein Rundumsieg von Biden glimpflicher verlaufen könnte als angenommen, besteht darin, dass sich der «Techlash», also Maßnahmen gegen die großen Technologieunternehmen, möglicherweise anders auswirkt als erwartet. Wie sich bei der Aufspaltung von Paypal und eBay zeigte, kann sich eine Zerschlagung von Technologieunternehmen für Anleger sogar vorteilhaft auswirken. Kürzlich durchgeführte Analysen ergaben, dass separate Aktiennotierungen der Unternehmen, aus denen sich Alphabet zusammensetzt, in der Summe um über 30 % höher notieren könnten als die aktuelle Unternehmensstruktur. Zudem unterstellen diese Annahmen, dass die Technologieriesen in dieser Angelegenheit kein Mitspracherecht hätten. Mit ihrer Kooperation bei Kontaktverfolgungs-Apps im Kampf gegen die Pandemie haben sie sich jedoch in der Öffentlichkeit ein gewisses Wohlwollen verdient, während sie unverändert intensiv daran arbeiten, ihre Interessen gegenüber der Regierung geltend zu machen. Aus einer Datenbank ging hervor, dass ein bestimmtes soziales Netzwerk allein im ersten Quartal 2020 über 5 Millionen USD für Lobbyarbeit ausgab. Die Meinungsbildung in Washington findet nicht in einem Vakuum statt.
Und natürlich gibt es nicht zuletzt noch das Szenario eines Rundumsiegs von Trump. Obwohl ein derartiges Ergebnis in einigen Lagern zweifellos Entsetzensschreie auslösen dürfte, würde dies vermutlich sicherstellen, dass für US-Unternehmen mit niedrigen Steuern und einer lockeren Regulierung alles so weiterläuft «wie gehabt». Die US-Wahl im Jahr 2020 wurde häufig als «große Unbekannte» beschrieben, und das soziopolitische Klima war seit dem Ende der 1960er Jahre nicht mehr so aufgeheizt wie aktuell. Dennoch deutet keines der derzeit möglichen Wahlergebnisse auf eine unmittelbare Katastrophe hin. Möglicherweise spielt diese Wahl für Anleger gar keine so große Rolle.
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