Kommentar
14:37 Uhr, 19.09.2005

Wahl in Deutschland: keine Aufbruchstimmung

1. Noch niemals waren die politischen Stimmenverhältnisse nach einer Bundestagswahl in Deutschland so breit verteilt wie bei dieser Wahl. Der Trend einer Abwendung von den großen Volksparteien hat sich nach einer ersten Beschleunigung mit dem Aufkommen der Grünen in den achtziger Jahren nun durch den Eintritt der Linkspartei/PDS noch einmal verstärkt. Als Folge einer abnehmenden Stimmenkonzentration auf die großen Parteien ergeben sich ausgeglichenere Kräftekonstellationen, die eine stabile politische Arbeit erschweren. Nicht umsonst fiel in der Berichterstattung und Kommentierung der Wahlergebnisse häufig das Wort von einer „stabilen Koalition“ die jetzt zu bilden sei. Dies mag bei manchen Marktteilnehmern zu Verstimmungen und einer vorsichtigeren Bewertung der scheinbar gerade in Bewegung gekommenen Rahmenbedingungen in Deutschland führen.

2. Eigentlich wäre die Botschaft für Wirtschaft und Märkte gar nicht so diffus. Von den vier rechnerisch möglichen Regierungskonstellationen fallen zwei (die Ampelkoalition und die rot-rot-grüne Koalition) erklärtermaßen weg. Damit bleiben die große Koalition und ein Bündnis zwischen CDU/CSU, FDP und Bündnis 90/Grünen. Die wirtschaftspolitischen Gemeinsamkeiten der schwarz-gelb-grünen Ampelkoalition sind dabei bemerkenswert hoch, alle zentralen Vorhaben ließen sich mit einer Zwei-Drittel- Mehrheit im Bundesrat mühelos durchsetzen. Darüber hinaus wird jede neue Regierung – egal in welcher Zusammensetzung unter den etablierten Parteien – schon in den kommenden ein bis zwei Jahren unter weiteren Handlungsdruck gesetzt werden, wenn die Finanzierungsrestriktionen in Bundeshaushalt und Sozialversicherungssystemen weitere Reformmaßnahmen erzwingen. Aber politisch-strategische Überlegungen sorgen dafür, dass die Zentrifugalkräfte in jeglicher denkbaren Koalition gefährlich hoch bleiben und damit Neuwahlen näher sind als auf den ersten Blick ersichtlich. Wir meinen daher, dass es schwierig sein wird, nach der Wahlkampf- Rhetorik in kurzer Zeit über die Bildung einer stabilen Regierung wieder zur Realpolitik in Deutschland zurückzukehren.

3. Allerdings zeigt das Wahlergebnis auch, dass Deutschland nicht so reformbereit ist, wie viele dies angesichts der weltwirtschaftlichen Umstände für notwendig halten. Die reformbereiten Parteien haben den Wählern nicht ausreichend deutlich machen können, dass Vereinfachungen und Einschnitte bei staatlichen Leistungen mittelfristig über stärkeres Wachstum und Arbeitsplatzaufbau positive Wirkungen für die gesamte Volkswirtschaft haben können. Eine Aufbruchstimmung geht von dieser Wahl nicht aus; gegenwärtig gibt es keinen Grund, die mittelfristigen Wachstumsperspektiven in Deutschland anders zu zeichnen als vor der Wahl.

4. Welche wirtschaftspolitischen Projekte sind vorstellbar unter den beiden wahrscheinlichen Regierungskonstellationen? Für die Bewertung der beiden möglichen Regierungskonstellationen, große Koalition und Schwarz-Gelb-Grün, sind zwei Kriterien entscheidend: Erstens, wie hoch und wie lang andauernd ist die Mehrheit im Bundesrat? Diese ist notwendig, um beschlossene Maßnahmen ohne Verzögerung und Zerreden umzusetzen. Zweitens, in welcher Konstellation lässt sich das umfangreichste Reformpaket schnüren?

5. Mit Blick auf die erste Frage, hätte eine schwarz-gelb-grüne Regierung derzeit die meisten Sitze im Bundesrat. Allerdings würde auch eine große Koalition über eine Stimmenmehrheit verfügen (Länderregierungen mit reinen CDU- oder SPD-Regierungen sowie großen Koalitionen). Für beide Regierungskonstellationen ist das Reformfenster bei einer pessimistischen Betrachtung nicht sehr groß: Bereits im Jahre 2008 kann die Bundesratsmehrheit verloren sein. Allein das sollte für alle Ansporn genug sein, bei den anstehenden Reformen nicht auf Zeit zu spielen.

6. Mit Blick auf die Gemeinsamkeiten spricht – aus wirtschaftlicher Sicht – alles für eine schwarzgelb- grüne Regierung. Nimmt man das Unions-Wahlprogramm als Ausgangspunkt, so scheinen im Bereich der Steuerpolitik die größten Gemeinsamkeiten aller Lager zu liegen. Zwar liegt der Teufel im Detail, doch in den grundsätzlichen Positionen scheint ein Konsens möglich. Mit Blick auf die geplante Mehrwertsteuersatzerhöhung könnte sich ein Konflikt mit der FDP ergeben, die eine solche im Wahlkampf vehement ablehnte. Enttäuschend wäre es, wenn die mehrwertsteuerfinanzierte Senkung der Lohnnebenkosten auf dem Altar des Kompromisses geopfert werden würde. Im Bereich der Arbeitsmarktpolitik hingegen werden die größten Reibungspunkte entstehen. Mit der SPD wird wohl von den ursprünglichen Vorhaben am wenigsten zu realisieren sein, zu stark hatte sich die SPD im Wahlkampf aus dem Fenster gelehnt, zu nah ist sie an den Gewerkschaften und zu stark ist die Konkurrenz der Linkspartei. Die Grünen erscheinen uns auf diesem Gebiet etwas pragmatischer, sodass wir zumindest das eine oder andere Projekt für umsetzbar halten. Ähnlich große Unterschiede ergeben sich im Bereich der sozialen Sicherungssysteme. Ein Kompromiss mit der SPD ist hier wohl auszuschließen, doch auch mit den Grünen wird es schwer werden. Am ehesten erscheint uns der Einstieg in eine kapitalgedeckte Pflegeversicherung möglich. Vielleicht könnte man den Grünen auch die Zustimmung für die Gesundheitsprämie abringen, doch am wahrscheinlichsten ist eine Einigung auf die Beibehaltung des status quo. Damit wäre zumindest die Bürgerversicherung abgewendet, der Nutzen des kompromissgeschwächten Unionsmodells ist ohnehin zweifelhaft.

7. Alles in allem, sind das Wahlergebnis und die daraus resultierenden Folgen für die weiteren Reformperspektiven enttäuschend. War unsere Bewertung des von den großen Parteien am weitesten gehenden CDU-Wahlprogramms schon verhalten, haben sich mit dem Wahlergebnis von gestern die Möglichkeiten zerschlagen, dass das Regierungsprogramm wenigstens diese Reformpläne umsetzt, geschweige denn noch mutiger ausfallen wird. Dies wird den ökonomischen Umständen, in denen sich die deutsche Volkswirtschaft mit fortschreitenden Globalisierung und demografischer Verwerfung befindet, nicht gerecht.

Quelle: DekaBank

Die DekaBank ist im Jahr 1999 aus der Fusion von Deutsche Girozentrale - Deutsche Kommunalbank- und DekaBank GmbH hervorgegangen. Die Gesellschaft ist als Zentralinstitut der deutschen Sparkassenorganisation im Investmentfondsgeschäft aktiv. Mit einem Fondsvolumen von rund 130 Mrd. Euro gehört die DekaBank zu den größten Finanzdienstleistern Deutschlands. Im Publikumsfondsgeschäft hält der DekaBank-Konzern einen Marktanteil von etwa 20 Prozent.

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Über den Experten

Thomas Gansneder
Thomas Gansneder
Redakteur

Thomas Gansneder ist langjähriger Redakteur der BörseGo AG. Der gelernte Bankkaufmann hat sich während seiner Tätigkeit als Anlageberater umfangreiche Kenntnisse über die Finanzmärkte angeeignet. Thomas Gansneder ist seit 1994 an der Börse aktiv und seit 2002 als Finanz-Journalist tätig. In seiner Berichterstattung konzentriert er sich insbesondere auf die europäischen Aktienmärkte. Besonderes Augenmerk legt er seit der Lehman-Pleite im Jahr 2008 auf die Entwicklungen in der Euro-, Finanz- und Schuldenkrise. Thomas Gansneder ist ein Verfechter antizyklischer und langfristiger Anlagestrategien. Er empfiehlt insbesondere Einsteigern, sich strikt an eine festgelegte Anlagestrategie zu halten und nur nach klar definierten Mustern zu investieren. Typische Fehler in der Aktienanlage, die oft mit Entscheidungen aus dem Bauch heraus einhergehen, sollen damit vermieden werden.

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