Unruhe an den Märkten? Na, und!
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Man tut gut daran, sich vor einfachen Erklärungen für das, was „eindeutig“ auf den Finanzmärkten passieren wird, in Acht zu nehmen. Denn normalerweise ist es schon schwierig genug, allein die Dinge zu erklären, die bereits passiert sind. Nehmen wir die Aktienmarktschwäche der letzten Wochen, die dazu geführt hat, dass der US-amerikanische S&P 500-Index im laufenden Jahr zum gestrigen Handelsschluss um etwas mehr als sieben Prozent gefallen ist. Viele US-Technologie- und Wachstumsmärkte haben weitaus stärkere Einbrüche erlebt. Spiegelte das, wie an vielen Stellen zu lesen, die Wende der US-Notenbank (Fed) in Richtung einer restriktiveren Geldpolitik während der Weihnachtszeit wider? Hat die Fed mit der Zinswende vielleicht zu lange gezögert und wird daher nun womöglich dazu gezwungen, die Zinsen so stark anzuheben, dass dies eine Rezession in den USA auslösen könnte?
Das wäre sicherlich eine Möglichkeit, den Rückgang des Nasdaq 100 um elf Prozent im bisherigen Jahresverlauf zu erklären, mithin hat er von seinem Hoch im vergangenen November fast 20 Prozent verloren, was ihn per Definition in den Bereich einen Bärenmarktes rückt. Seltsam aber, dass sich Substanzaktien in den USA und anderswo bis vor kurzem ziemlich gut gehalten haben und nach vielen mageren Jahren allmählich beginnen, den Abstand zu den Wachstumsaktien zu schließen. Da Substanzaktien typischerweise in zyklischen Sektoren (wie Banken, Grundstoffe und Energie) zu finden sind, sollten sie eigentlich stärker von etwaigen Rezessionsängsten betroffen sein als beispielsweise junge Nasdaq-Biotechnologieunternehmen, die noch Jahre entfernt sind von der Rentabilität.
Nun haben die Renten- und Terminmärkte in der Tat zunehmend Zinserhöhungen eingepreist; die Fed dürfte demnach früher und schneller tätig werden als noch vor Weihnachten gedacht. Der für das Ende des Zyklus eingepreiste Zinssatz ist jedoch seit letztem Jahr eher gesunken.1 In jüngerer Zeit fiel der Ausverkauf an den Aktienmärkten mit der Abflachung der Renditekurve für US-Staatsanleihen zusammen, während die Spreads auf riskantere Unternehmensanleihen innerhalb normaler Bandbreiten geblieben sind. Auch bei den vom Markt abgeleiteten mittelfristigen Inflationserwartungen ging es in letzter Zeit recht gemäßigt zu. All dies ist nicht vereinbar mit einer Zentralbank, die bereits zu spät dran ist und infolgedessen die Geldpolitik drastisch straffen muss. Die Marktnervosität mag daher noch andere Gründe haben, etwa die geopolitischen Spannungen der letzten Wochen.
Unserer Einschätzung nach, preisen die Märkte derzeit nicht zu Unrecht vier Zinserhöhungen der Fed im Jahr 2022 ein, wodurch der effektive Leitzins bis Ende des Jahres auf knapp über ein Prozentsteigen würde. Darüber hinaus glauben wir, dass die jüngsten Marktturbulenzen die Arbeit der Fed in gewisser Weise erleichtert haben könnten, indem sie bei einigen heiß gelaufenen Marktsegmenten wie Kryptoanlagen oder Technologieaktien dafür sorgten, dass etwas Luft rausgelassen wurde. So groß die Schwankungen in einigen Marktsegmenten auch sind, wäre es jedoch überraschend, würden Anleger ihre langfristigen Einschätzungen grundsätzlich ändern, hat sich am mittelfristig eingepreisten Zinspfad doch recht wenig getan.
Höchstwahrscheinlich hatte das, was in den letzten Wochen an den US-Märkten passiert ist, eher mit technischen Faktoren und extremer Positionierung, insbesondere von Privatanlegern, als mit fundamentalen Veränderungen zu tun. Dies hätte immerhin den begrüßenswerten Effekt, dass die Marktstruktur anschließend „gesünder“ wäre, also weniger anfällig für starke Marktbewegungen sein sollte. Dies ist in der Tat unser aktuelles Hauptszenario; für den S&P 500 erwarten wir, dass er vor den Kongresswahlen im November in einer Spanne zwischen den aktuellen Niveaus und 4700 Punkten handeln dürfte (mit einem potenziellen Aufwärtspotenzial danach, das sich in unseren nächsten 12-Monats-Prognosen widerspiegeln wird, die im Februar veröffentlicht werden).
Insgesamt ist es an der Zeit, sich wieder an normale Marktturbulenzen zu gewöhnen. Jenseits des Hauptszenarios gibt es natürlich Risiken. Doch Risiken können in beide Richtungen wirken. Bei Omicron beispielsweise hat sich unsere Einschätzung in den letzten Wochen durchaus verbessert. Die bisherigen Berichte der Unternehmen für das vierte Quartal waren insgesamt recht solide. Natürlich können einige Sektoren unter Margendruck durch höhere Arbeits- und Materialkosten leiden, aber die Auswirkungen auf das Niveau der breiten Indizes dürften, wenn überhaupt, ziemlich gering sein (wobei es durchaus zur Verlagerung des Gewinnbeitrags einzelner Sektoren kommen dürfte, wie beispielsweise weg von Konsumgütern in Richtung Energie innerhalb des S&P 500). Was die geopolitischen Spannungen und die Situation in Russland und der Ukraine betrifft, geben wir freimütig zu, dass die Einschätzungen innerhalb der Plattform unterschiedlich sind und dass solche Konflikte durchaus auch aus Versehen eskalieren können. In Bezug auf die konkreten Auswirkungen auf die Finanzmärkte wären wir vorsichtig. Historisch hatten selbst die Top-Experten im Kalten Krieg typischerweise „Erfolgsbilanzen“, die die Prognosefähigkeiten einfacher Ökonomen und Marktbeobachter im Vergleich dazu ziemlich gut aussehen lässt.
Auswirkungen auf die Anlageklassen
Anleihen und Währungen: Angesichts der Zinserwartungen, der eher flachen Zinskurven und der Tatsache, dass die längerfristigen Zinsen immer noch günstig sind, glauben wir, dass die Neuemissionstätigkeit durch Unternehmen und öffentliche Hände nicht abreißen wird. Infolgedessen würden wir erwarten, dass die Streuung innerhalb der Kreditmärkte weiter zunimmt und die Prämien für Neuemissionen steigen. Bei Unternehmensanleihen mit Investment-Grade-Rating und Hochzinsanleihen sollten Qualitätstitel überdurchschnittlich abschneiden. Bezüglich Währungen erwarten wir, dass die sich stetig verbessernde Wirtschaftsstimmung in der Eurozone sowie die daraus resultierende Wachstumsdifferenz gegenüber den USA den Euro beflügeln dürften, so es nicht zu geopolitischen Überraschungen kommt.
Aktien: Abgesehen von den geopolitischen Risiken halten wir an unserem konstruktiven Hauptszenario fest. Dies setzt voraus, dass die Gewinne solide bleiben und sich die Renditen 10-jähriger Treasuries bei etwa zwei Prozent einpendeln. Seit mehr als einem Jahrzehnt untermauern niedrige Zinsen die hohen Bewertungsniveaus von US-Aktien, an die sich Anleger gewöhnt haben. „Bessere“ Alternativen bleiben vorerst Mangelware. Aber im Laufe des Jahres 2022 könnten wir durchaus gelegentliche Ausbrüche anlageübergreifender Volatilität erleben. Mögliche Auslöser gibt es genug, von Entwicklungen an den Zinsmärkten, über den Ölpreis bis hin zur Geopolitik.
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