Kommentar
20:14 Uhr, 24.04.2015

Ultraniedrigzinsen: Warum die Zentralbankpolitik am falschen Punkt ansetzt

Eigentlich wissen wir es alle, so richtig wahrhaben will es jedoch keiner. Der Karren (unser Finanzsystem) steckt im Dreck. Alle Versuche ihn wieder herauszuziehen scheitern bisher, aber wieso eigentlich?

Politiker und Notenbanker versuchen die Wirtschaft mit der Brechstange dorthin zu bringen, wo sie vor der Finanzkrise war. Die Welt vor der Finanzkrise ist das Maß aller Dinge. Dorthin wollen alle zurück. Um das zu erreichen, werden alle Tricks aufgefahren, die es nur gibt. Sie versuchen die Probleme zu lösen, die die Wirtschaft davon abhält wieder auf den langfristigen Trend zurückzukehren.

Zu den Tricks gehören immer tiefer sinkende Zinsen. In den USA wurde zuerst ein großflächiges Anleihenkaufprogramm gestartet. Es folgten Großbritannien, Japan, die Eurozone und zuletzt auch Schweden. Damit sollen zwei Dinge bekämpft werden: niedrige Inflation und niedriges Wachstum. Die teils negativen Zinsen sollen für Kreditwachstum sorgen. Die Hoffnung: Unternehmen investieren und Konsumenten geben mehr aus. Das steigert die Nachfrage. Übersteigt die Nachfrage das Angebot, dann steigt der Preis. Inflation entwickelt sich.

Die Lösung aller Probleme scheint das Zinsniveau zu sein. Der Theorie nach muss man die Zinsen nur tief genug senken, dann kommt die Wirtschaft schon wieder in Gang. Dabei scheint niemandem aufzufallen, dass wir erstmalig in der Weltgeschichte negative Zinsen brauchen, um überhaupt Wachstum zu erzeugen. Irgendwie erscheint es fast ganz normal, wenn man sich die Reden und Argumentationen der Notenbanker anhört.
An ihrer Argumentation ist auch etwas dran. Ihr Ausgangspunkt ist immer der langfristige Wachstumstrend, der erreicht werden muss, um Vollbeschäftigung und Preisstabilität zu erreichen. Der Theorie nach kann über den korrekten Zinssatz beides erreicht werden. Den korrekten Zinssatz kennt allerdings niemand. Man kann nur sagen, dass trotz der niedrigen Zinsen der langfristige Wachstumstrend noch immer nicht wieder erreicht ist. Die Folgerung: die Zinsen müssen zu hoch sein.

Einige Notenbanker weisen darauf hin, dass neben Vollbeschäftigung und moderater Inflation auch die Stabilität des Finanzsystems gewährleistet werden muss. Alle drei Punkte mit nur einem Zinssatz zu erreichen ist schwierig, um nicht zu sagen unmöglich. In den USA wurden über immer tiefer sinkende Zinsen vor der Krise Vollbeschäftigung und Inflation erzeugt, die mit dem Mandat der Notenbank übereinstimmen. Finanzstabilität wurde hingegen nicht erreicht. Es bildete sich eine Kredit- und Immobilienblase.

Es sieht ganz so aus, als müssten die Notenbanken Abstriche machen. Entweder sorgen sie für Vollbeschäftigung und Preisstabilität, riskieren dafür aber die Stabilität des Finanzsystems oder sie halten die Zinsen hoch, verhindern Übertreibungen einzelner Assetklassen, riskieren dafür aber zu hohe Arbeitslosigkeit. Derzeit entscheiden sich alle Notenbanken der Welt bewusst für die erste Option. Sie wollen Beschäftigung und Inflation anschieben, auch auf das Risiko hin, dass sich Preisblasen bilden.

Die Zinsen werden immer weiter gesenkt, um Vollbeschäftigung und Inflation zu erreichen. Die USA sind auf dem Weg dorthin. In Europa sind die Anfänge gemacht. Ob das reicht, darf man bezweifeln. Es drängt sich nach Jahren der Nullzinspolitik nämlich ein Verdacht auf: der Zinssatz, den man braucht, um das Mandat der Notenbank zu erfüllen, ist negativ und zwar nicht nur knapp negativ, sondern richtig negativ (z.B. -2%).
Im derzeitigen Umfeld können sich nicht nur Staaten gratis verschulden. Unternehmen können das inzwischen auch. Für längerfristige Schulden sind die Zinsen noch positiv, aber ein Zinssatz von 2% für 10 Jahre für ein Unternehmen, das ist schon sensationell.

Immobilienkredite können in einigen Ländern nahe 0% aufgenommen werden. Einige alte Kreditverträge sind so gestrickt, dass die Kreditnehmer nun Geld dafür bekommen, dass sie sich Geld geliehen haben.
Unter all diesen Umständen sollte man eigentlich davon ausgehen, dass die Wirtschaft nur so boomt und die Arbeitslosigkeit gegen 0% strebt. Dem ist aber nicht so. Unternehmen halten sich mit Investitionen zurück, weil sie nicht glauben, dass Investitionen eine angemessene Rendite bringen. Das muss man sich einmal vorstellen! Wenn man sich fast gratis verschulden kann, wie kann man da auf die Idee kommen, dass sich eine Investition nicht lohnt?

Unternehmen investieren, wenn die Investition einen höheren Ertrag bringt, als sie kostet. Die Kosten kann man der Einfachheit halber mit den Kreditkosten gleichsetzen. Liegen diese Kosten nun bei 1 bis 2%, dann muss die Investition lediglich eine Rendite von 2% oder mehr abwerfen, z.B. 2,3%. Mit 2,3% Rendite würde sich die Investition bereits lohnen. Das ist wirklich nicht viel. Da Unternehmen aber nicht investieren müssen sie offensichtlich der Meinung sein, dass sie keine ausreichende Rendite erzielen können.

Um das Beispiel fortzuführen können wir annehmen, dass Unternehmen derzeit nur Investitionsmöglichkeiten haben, die 0% bis 0,5% Rendite bringen. Dann sind Zinsen von ein bis zwei Prozent natürlich zu hoch. Die Zinsen müssten negativ werden, damit investiert wird. Im Extremfall kann man so sogar Investitionen mit negativer Rendite attraktiv machen. Eine Investition könnte eine negative Rendite von 2% pro Jahr haben. Die Investition würde sich dennoch lohnen, wenn die Kosten dafür bei -5% lägen. Die Rendite wäre dadurch dann wieder positiv mit 3%.

Die Zinsen, die es für Vollbeschäftigung und Inflation braucht, sind höchstwahrscheinlich negativ. Das wird vermutet, weil die bisherige Zinspolitik kaum Wirkung gezeigt hat. Es gibt einfach nicht genug gewinnbringende Möglichkeiten für schuldenfinanzierte Investitionen. Um diese Möglichkeiten zu schaffen, müssten die Zinsen weiter sinken. Das geht aber nicht so einfach.

Bevor man aber danach fragt, wieso sich die Zinsen nicht weiter senken lassen und nach Wegen sucht dies zu tun, muss man die Frage beantworten, wieso es die Investitionsmöglichkeiten mit guter Rendite nicht mehr gibt. Vor einem Jahrzehnt gab es sie ja noch.
Unternehmen investieren in Produkte und Dienstleistungen. Wenn sie investieren, dann, um mehr zu produzieren. Solche Investitionen werden nur getätigt, wenn Unternehmen auch das Zutrauen haben, dass Verbraucher die Produkte kaufen. Würden sie nicht gekauft oder nicht in ausreichender Menge abgenommen, dann gibt es keine positive Rendite. Unternehmen glauben also nicht daran, dass Verbraucher mehr konsumieren.

Dieser Glaube ist berechtigt. In vielen Ländern sind Konsumenten hoch verschuldet und können einfach nicht mehr Geld ausgeben. Diejenigen, die Geld haben oder sich weiter verschulden könnten, tun es nicht, weil sie kein Bedürfnis nach noch mehr Konsum haben. Um ein sehr plakatives Beispiel zu bringen: wenn ich bereits 10 Fernseher habe, dann brauche ich nicht unbedingt auch noch einen elften. Den elften Fernseher kaufe ich nur – obwohl ich ihn nicht brauche – wenn ich dafür etwas bekomme, was mir nutzt. Der Fernseher an sich hat ja keinen Nutzen mehr. Ich brauche ihn nicht. Ein Nutzen könnte gestiftet werden, wenn ich den Fernseher auf Kredit kaufe und dafür keine Zinsen zahle, sondern welche bekomme.

Wieso ist das aber heute so? Vor 10 Jahren kauften die Menschen doch noch ausreichend Güter, sodass sich Investitionen lohnten. Die Erklärung dafür ist überraschend einfach: Schuld ist die Demographie. Die weltweite Bevölkerung wächst immer noch und wird auch noch in den kommenden Jahrzehnten wachsen. Sie wächst allerdings immer langsamer. Grafik 1 zeigt das Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum über einen langen Zeitraum. Werte vor 1800 sind berechnete Werte. Die Grafik zeigt einen ziemlich eindeutigen Zusammenhang zwischen Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum.


Das Bevölkerungswachstum schwächt sich immer weiter ab. Das führt zu einer deutlich niedrigeren Wachstumsrate beim Konsum. Solange die Bevölkerung immer schneller wächst, wächst auch die Bevölkerungsgruppe, die am meisten konsumiert. Das ist im Prinzip die arbeitende Bevölkerung zwischen 15 und 65 Jahren. Diese Bevölkerungsgruppe wuchs in den vergangenen Jahrzehnten deutlich an. Jetzt sinkt der Anteil dieser Bevölkerungsgruppe wieder. Grafik 2 zeigt dieses Bild für ausgewählte Länder und für die ganze Welt. Die gezeigten Kurven stellen die arbeitende Bevölkerung der nicht arbeitenden gegenüber. Die nicht arbeitende Bevölkerung ist von der arbeitenden Bevölkerung abhängig. Daher heißt dieses Verhältnis auch Abhängigkeitsverhältnis (Dependency Ratio).

Wir befinden uns weltweit in einer Situation, in der immer mehr nicht arbeitende von immer weniger arbeitenden Menschen „durchgefüttert“ werden müssen. Dass darunter das Wachstum leidet, ist nicht wirklich überraschend. In den vergangenen Jahren wurden überall auf der Welt Produktionskapazitäten geschaffen. Diese Kapazität braucht nun niemand mehr. Sie wurde unter der Annahme geschaffen, dass immer mehr konsumiert würde. Diese Annahme ist inkorrekt.

Insgesamt steigen die Konsumausgaben weltweit noch an. In vielen Regionen haben die Menschen erst jetzt Einkommen, die es ihnen ermöglichen, sich gewisse Dinge erstmalig zu leisten. Dieses Wachstum ist jedoch sehr viel geringer als das frühere Wachstum, welches durch Zunahme der arbeitenden Bevölkerung erreicht wurde.
Wenn nun weltweit die Bevölkerungsgruppe, die konsumiert, im Verhältnis immer kleiner wird, dann darf man sich nicht wundern, wenn die Zeiten von 3% Wachstum vorbei sind. Deutschland umgeht das Problem, indem es durch Exporte wächst. Das versuchen inzwischen alle anderen Länder auch. Wenn es jeder versucht, dann kann die Rechnung natürlich nicht aufgehen. Die Rechnung wird auch nicht aufgehen. Dieser Illusion darf man sich nicht hingeben.

Um an das Wachstum der Vorkrisenjahre anzuschließen, müssen die Zinsen weiter sinken. Nur dann lohnen sich für Unternehmen wieder Investitionen, weil Konsumenten dafür bezahlt werden, auf Kredit zu kaufen. So könnte man die Wirtschaft tatsächlich wieder in Gang bringen. Das ist allerdings nicht wirklich sinnvoll. Sobald die Zinsen negativer sind als die negative Rendite von Investitionen, lohnt sich jede noch so absurde Investition. Das führt zu enormer Verschwendung. Es würde sich etwa lohnen, einen Wolkenkratzer irgendwo in der Wüste zu bauen und verrotten zu lassen. Die dafür aufgenommenen Schulden zahlen sich ja von selbst zurück. Das ist vollkommen unsinnig. Insofern sollte man gar nicht erst an den Versuch denken, die Zinsen soweit zu senken, dass die Verschwendung rein ökonomisch gesehen sinnvoll ist.

Die Notenbanken versuchen mit den Zinsen ein Problem zu lösen, welches sie nicht lösen können. Zinsen haben Einfluss auf Investitionen und Konsum. Die Bevölkerungspyramide können Zinsen nicht umkehren. Die Notenbanken würden gut daran tun es gar nicht erst zu versuchen, obwohl es dafür schon fast zu spät ist. Das führt weder zu Vollbeschäftigung noch zur gewünschten Inflation. Es führt lediglich zu Preisblasen. Die Politik der Notenbanken ist fehlgeleitet, weil sie das falsche Problem zu lösen versuchen.

Andere Faktoren begünstigen den derzeitigen Trend noch weiter. Die Einkommensungleichheit, die immer weiter ansteigt, schmälert die Nachfrage weiter. Insofern können sich die Notenbanken noch so sehr anstrengen, es wird ihnen nicht gelingen, an frühere Jahre anzuschließen.

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Über den Experten

Clemens Schmale
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Clemens Schmale hat seinen persönlichen Handelsstil seit den 1990er Jahren an der Börse entwickelt.

Dieser gründet auf zwei Säulen: ein anderer Analyseansatz und andere Basiswerte. Mit anders ist vor allem die Kombination aus Global Makro, fundamentaler Analyse und Chartanalyse sowie Zukunftstrends gemeint. Während Fundamentaldaten und Makrotrends bestimmen, was konkret gehandelt wird, verlässt sich Schmale beim Timing auf die Chartanalyse. Er handelt alle Anlageklassen, wobei er sich größtenteils auf Werte konzentriert, die nicht „Mainstream“ sind. Diese Märkte sind weniger effizient als andere und ermöglichen so hohes Renditepotenzial. Sie sind damit allerdings auch spekulativer als hochliquide Märkte. Die Haltedauer einzelner Positionen variiert nach Anlageklasse, beträgt jedoch meist mehrere Tage, oft auch Wochen oder Monate.

Rohstoffe, Währungen und Volatilität handelt er aktiv, in Aktien und Anleihen investiert er eher langfristig. Die Basiswerte werden direkt – auch über Futures – oder über CFDs gehandelt, in Ausnahmefällen über Optionen und Zertifikate.

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