Analyse
11:11 Uhr, 29.08.2011

So laufen Crashphasen ab

Ein Klassiker der Wirtschaftsliteratur

»Das beste Buch über dieses Thema« – so John K. Galbraith über Kindlebergers »Die Weltwirtschaftskrise«. Die Einschätzung, dass das erstmals 1973 erschienene Werk über den Kollaps von 1929 für das Verständnis der heutigen Entwicklungen hohe analytische Qualität hat, teilt auch Max Otte. Daher ist es ihm ein großes, persönliches Anliegen, das Werk des amerikanischen Nationalökonomen neu zu veröffentlichen und herauszugeben. Selbst der Volksmund meint mit dem Ausdruck »Weltwirtschaftskrise« mittlerweile die Ereignisse von damals wie die von heute – beide haben epochale und globale Ausmaße. In beiden Krisen stellt der Zusammenbruch ganzer Volkswirtschaften die nackte Wirklichkeit dar.

Kindlebergers Werk ist ein weiterer wichtiger Baustein zum Gesamtverständnis dessen, was geschah, was geschieht und was geschehen wird. Eines seiner großen Verdienste ist es, die Weltmachtrolle der USA und ihre politische und wirtschaftliche Schlüsselfunktion herausgearbeitet zu haben.

Autor: Prof. Charles P. Kindleberger, 1910 bis 2003

Herausgeber: Prof. Max Otte

Das Buch gibt es hier zu kaufen:

http://d3c11ad3.shops.finanzbuchverlag.de/shop/article/2520-die-weltwirtschaftskrise-1929-1939/

Auszug aus einem Kapitel.

Der Börsenkrach von 1929 - Der Markt

Insoweit die Depression vom Börsenkrach eingeleitet wurde, geschah dies in New York. In Kanada stiegen die Kurse seit 1926höher und fielen vom Höhepunkt tiefer. Sie waren das Schlusslicht. Die meisten europäischen Wertpapiermärkte waren schonvorher zurückgegangen, der deutsche bereits 1927, der englische Mitte 1928, der französische im Februar 1929. Die Wiener Börse, die seinerzeit den Marsch in die Krise von 1873 angeführt hatte, blieb ruhig und ließ sich bis 1931 Zeit. New York war der Ort der Handlung. Sie wirkte sich in der ganzen Welt aus, aber nichtdurch parallele Bewegungen der Wertpapierkurse.

Damals erschien die Hausse an der New Yorker Börse spektakulär. Der Dow-Jones-Index der Industrieaktien stieg von einem Tiefstand von 191 Anfang 1928 auf einen Höhepunkt von 300im Dezember und erreichte im September 1929 einen Rekordstand von 381, also eine Verdoppelung innerhalb von zwei Jahren. Zwei scharfe Kurseinbrüche erfolgten im Dezember 1928und im März 1929. Im Oktober 1929 wiegten sich die Spekulanten deswegen in dem Glauben, dass der Markt lediglich eine weitere Anpassung durchmache. Die Maxima der täglichen Umsätze stiegen von 4 Millionen Aktien im März 1928 auf 6,9 Millionen im November 1928 und weiter auf 8,2 Millionen im März 1929.Die 1929 im Durchschnitt täglich gehandelten Anteile beliefen sich auf 4 277 000 Stück; bei insgesamt nur 1,1 Milliarden Anteilen im Umlauf ergab dies einen jährlichen Umschlag von 119Prozent des Bestandes im Gegensatz zu den 13 Prozent im Jahre19621. Die Gewinne waren beträchtlich. Als die Kurs-Gewinn-Verhältnisse von konservativen 10 oder 12 auf 20, und noch höher bei den Börsenfavoriten, stiegen, geschah dies in Erwartung einer anhaltenden Zunahme von Gewinnen und Dividenden. Der Markt wurde als eine Orgie der Spekulation beschrieben, als eine Manie, eine Seifenblase, er wurde mit ähnlichen Ausdrücken belegt, die mangelnden Realitätsbezug kennzeichnen. Natürlich gab es die übliche Zahl von Schwindeleien, wie z. B. In sull; es gab Spekulanten an höchster Stelle, wie Charles Mitchell und Albert Wiggins an der Spitze der beiden größten New Yorker Banken, der National City und der Chase; es gab törichte Prognosen von fortgesetzten Kurssteigerungen, von dauernder Prosperität, einem neuen Zeitalter und Ähnlichem, worüber sich nun leicht schmunzeln lässt. Tatsache jedoch ist, dass das Dow-Jones-Maximum für 1929 von 381 bei einem Indexwert von fast 1 000im Jahre 1968 und etwas über 750 im Jahre 1970 nicht aus dem Rahmen fällt, wenn man die Veränderung des Geldwertes berücksichtigt. Die Gefährlichkeit der Marktsituation lag nicht so sehr im Kurs- und Umsatzniveau als in dem bedenklichen Kreditmechanismus, der es stützte, und in dem Druck, der davon auf die Finanzmärkte in den Vereinigten Staaten und der ganzen Welt ausging.

Wenn es heute auch, rückblickend betrachtet, nicht mehr so aussieht, als sei der Markt auf schwindelnder Höhe gewesen, schien dies den zeitgenössischen Beobachtern doch so. Hoover hatte seit 1925 vor der Kreditfinanzierung an der Börse gewarnt, wenn es ihm auch nicht gelang, Calvin Coolidge zu überreden, sich gegen die Börsenspekulation auszusprechen. Coolidge vertrat im Gegenteil im März 1929, als er sein Amt verließ, den Standpunkt, dass die Wirtschaft der Vereinigten Staaten völlig gesund und die Aktien bei den gegenwärtigen Kursen billig seien. Hoover behauptete, Adolph Miller, ein zum Widerspruch neigendes Mitglied des Board of Governors des Federal Reserve Systems, habe ihn in seiner Ansicht über die dem Markt inhärente Gefahr unterstützt und der Board sei in Aktion getreten, als Hoover Präsident wurde2. Dies ist nicht ganzrichtig. Governor Roy Young, der Vorsitzende des Federal Reserve Board, wandte sich im Februar 1929 gegen die Auswüchse der Spekulation und kündigte an, dass das Federal Reserve zur Tat schreiten werde, falls die Banken nicht ihre Kredite an die Makler einschränkten, welche die Spekulation anheizten. Aber im März lehnte der Board of Governors eine Empfehlung von George Harrison ab, des Gouverneurs der Federal Reserve Bank von New York (Nachfolger von Benjamin Strong nach dessen Tod im Oktober 1928), den Diskontsatz von 5 auf6 Prozent heraufzusetzen. Zu kurze Zeit war vergangen, seit das Schatzamt seine Finanzierung zu 4½ Prozent abgeschlossen hatte. In der New Yorker Bank sah man mit Besorgnis, dass die Geldmarktsätze über den Diskontsatz gestiegen waren und die Banken sich mit einer Milliarde Dollar geborgter Federal-Reserve-Guthaben (sog. Federal Funds) allzu wohlfühlten. Andererseits zögerte man, die Zinsen anzuheben, aus Angst vor dem Sog, der dadurch auf die Goldreserven der europäischen Zentralbanken ausgeübt würde.

Das quälende Dilemma wird deutlich in dem Briefwechsel zwischen Harrison in New York und dem Vorsitzenden des Direktoriumsseiner Bank, Owen D. Young, der sich zu den Young-Plan-Gesprächen in Paris aufhielt. Young war davon überzeugt, dass die Federal Reserve Bank unverzüglich die Kontrolle über den Markt erlangen müsse, nicht nur aus Prestigegründen, sondern auch, um den Satz für täglich fälliges Geld zu drücken, der so große Bedeutung für die Weltwährungslage hatte und eine Gefahr für die Reserven der Zentralbanken darstellte, die unlängst zum Goldstandard zurückgekehrt waren3. In einem Telegrammschlug er vor, Harrison solle den Vorsitzenden des Boards in Washingtonübergehen und die Sache Präsident Hoover oder Finanzminister Andrew Mellon vortragen. In der Antwort informierte C. M. Woolley, Secretary der New Yorker Bank, Young, dass der Board eine Zinserhöhung abgelehnt habe, die Bankeventuell Hoover und Mellon deswegen angehen würde, dass sie aber, wenn dies nicht helfen sollte, eine Diskontsenkung in Betracht ziehe, um die Auslandsgelder fernzuhalten, die vom Tagesgeld-Markt angezogen wurden4. Die Lage war außerordentlich unangenehm. Ein höherer Zins, um die Hausse zu bremsen, oder ein niedrigerer, um die Attraktivität des Tagesgeldes zu verringern– eines von beiden könnte Entlastung bringen.

Nach Governor Roy Young wandte sich Paul M. Warburg, einer der Väter des Federal Reserve Systems und erster Mann bei Kuhn, Loeb & Co., an die Öffentlichkeit, um die Börse zu beruhigen. Die Situation erinnerte Warburg an die Panik von 1907.Die Kurse waren zu hoch, waren durch ein riesiges Kredit Volumen und hektische Spekulation auf ein Niveau gehoben, das in keiner Beziehung zu dem voraussichtlichen Wachstum von Kapazität, Vermögen und Rentabilität stand.

Der Markt legte eine Pause ein, man schichtete um, und es ging wieder nach oben. Bankiers, Friseure, Schuhputzer und Professorenredeten die Kurse hoch. Der Federal Reserve Bank von New York wurde schließlich erlaubt, den Diskontsatz am 9. August auf 6 Prozent zu erhöhen. Der Markt reagierte nicht darauf. Am 1. September erhöhte die Börse ihre Mitgliederzahl und teilte bei diesem »Aktiensplit« jedem Mitglied einen Viertelsitz zu. Der Preis einer Zulassung erreichte die einmalige Höhe von 625 000Dollar, mehr als viermal so viel wie die 150 000 Dollar von 1926.Mittels einer beträchtlichen Expansion der Maklerdarlehen zu 10 Prozent kletterten die Kurse noch ein klein wenig höher. In Abbildung 5 erreicht der Standard-Statistics-Index der Industrieaktien auf dem Höhepunkt einen monatlichen Durchschnittswert von 216 bei einem Basiswert von 1926 gleich 100.

Abbildung mit Tabelle. Kurse an der New Yorker Aktien-Börse 1926–1938 (Standard Statistics Index; 1926 = 100).

Quellen: League of Nations, Statistical Yearbook 1934 und 1935–1938; Standard Statistics (1934–1936: Index umbasiert auf das Jahr 1926)

Die Kreditrestriktionen

Als die Kurse stiegen, nahm auch der Druck auf die internationalen Finanzmärkte zu. Auch wenn der New Yorker Federal Reserve Bank nicht erlaubt worden wäre, von Juli 1928 an den Diskontsatz zu erhöhen oder ihre Offen-Markt-Papiere zu verkaufen, konnte sie noch Druck auf die Geschäftsbanken am Ortausüben, um deren Anlagen und die auf Rechnung ihrer Korrespondenten am Tagesgeldmarkt nach dem Jahresende einzuschränken, wie Tabelle 8 zeigt. An deren Platz traten andere. Der weit überwiegende Betrag von Maklerkrediten aus anderen Quellen kam von US-Firmen. Ein beachtlicher Teil kam aus dem Ausland im Zusammenhang mit Auslandskäufen von US-Aktien. Die Daten sind nicht genügend aufgeschlüsselt, um das Ausmaß der Bewegung verfolgen zu können. Aufgliederungen sind nur zu den Jahresenden verfügbar, sie erfassen außerdem nicht alle Kredite. Nach allgemeiner Ansicht aber bedeuteten die Entwicklung an der New Yorker Börse, die Nervosität wegen des Young-Plans im April und Mai 1929 und schließlich der französische Goldumtausch eine große Belastung für das System. Wie viel Einfluss jedem einzelnen dieser drei Faktoren zu zuschreiben ist, kann unmöglich festgestellt werden. Italien erhöhte den Diskontsatz zunächst im Januar, Großbritannien um einen vollen Prozentpunkt im Februar; dann wieder Italien und die Niederlande im März. Nervosität in Paris wegen des Young-Plansführte im April und Mai zu Diskontsatzerhöhungen in Mitteleuropa, insbesondere in Deutschland, Österreich und Ungarn. Im Juli erhöhte die Nationalbank von Belgien den Diskont. Die New Yorker Marktlage führte zu einem anhaltenden, ununterbrochenen Druck. In der ersten Hälfte von 1929 flossen den Vereinigten Staaten 210 Millionen Dollar in Gold zu, Frankreich 182 Millionen.

Tabelle Maklerdarlehen (nach Kreditgebern) 1927–1929 (in Millionen Dollar)

Quelle: Federal Reserve System, Banking and Monetary Statistics. Washington, D. C. 1943, S. 494.

Besonders akut war der Druck auf London. Da die New Yorker Zinssätze hoch waren, suchten verschiedene Kreditnehmer– aus Deutschland, Ungarn, Dänemark und Italien –, Sterling-Anleihen aufzunehmen, obgleich sie in Wirklichkeit Dollarbrauchten6. Norman drückte seine Besorgnis über die Jagd nachdem Gold aus. Die Reserven der Bank von England erreichten Ende Mai nach der Young-Plan-Krise den Jahreshöchststandmit 791 Millionen Dollar, nahmen aber dann stetig ab und in verstärktem Maße im Juli. Norman erörterte mit Harrison die Möglichkeit einer langfristigen Kreditaufnahme durch europäische Zentralbanken in New York, entweder beim Federal Reserve System oder am Markt. Besprechungen wurden deswegen aufgenommen, etwas weitergeführt, schließlich aber aufgegeben, offenbar, als die neue Labour-Regierung beschloss, den Goldverlusten durch eine Erhöhung der ungedeckten Notenausgabe der Bank von England und entsprechende Freisetzung von Goldbeständen zu begegnen7. Norman berichtet in seinem Tagebuch:

»Nahezu die Hälfte der Zeit wurde auf den Diskontsatz und internationale Zinssätze verwandt«. Labour-Schatzkanzler Snowdenopponierte gegen eine Erhöhung des Diskontsatzes, weil diese die Konjunktur treffen und der Zahlungsbilanz nicht helfen würde, sie führe nur zu noch höheren Zinssätzen im Ausland. Der Gouverneur versprach, den Diskontsatz nicht leichtfertig zu erhöhen, sondern nur, wenn es unbedingt nötig sein sollte8. Daswar es denn auch.

Am 9. August machte die Federal Reserve Bank von New York den nächsten Zug. Die Hausse erforderte höhere Zinsen; undeutliche Anzeichen einer Konjunkturschwäche ließen den entgegengesetzten Kurs geraten erscheinen. In einem Telegramm an die wichtigsten europäischen Zentralbanken erklärte Präsident Harrison, dass der Diskontsatz von 5 auf 6 Prozent erhöht werde, dass die Bank aber hoffe, später Handelswechsel zur Entlastung des Marktes ankaufen zu können, voraussichtlich, nach dem man den Boom gestoppt habe. »Während unsere eigene Situation nach einer solchen Maßnahme verlangt, denken wir natürlich auch daran, dass die europäische Wirtschaft niedrigerer Zinssätze in New York bedarf.«

Die New Yorker Börse scherte sich nicht um diese Maßregelung. Der Druck auf London hielt an. Norman suchte nach einer Ausrede, um den Diskontsatz der Bank von England heraufsetzen zu können. Am 20. September, einen Tag nach einem neuen Hoch auf dem New Yorker Markt – das sich auf dem Index der New YorkTimes als Höhepunkt der Zwischenkriegszeit herausstellte –, bot sich die Gelegenheit an. Das Hatry-Imperium in London brachzusammen. Das war eine Reihe von Firmen, Investment-Trustsund Fabriken, die zu tun hatten mit Fotoartikeln, Kameras und Spielautomaten sowie Kleinkredit-Gesellschaften, welche alle zusammen von einem Clarence Hatry kontrolliert wurden. Hatry, vom Spekulationsfieber ergriffen, hatte Schwierigkeiten, 8 Millionen Pfund zu borgen, mit denen er United Steel kaufen wollte, als Basis für einen noch größeren Coup im englischen Stahlgeschäft. Sein Versuch, betrügerische Sicherheiten von seinen verschiedenen Gesellschaften zu verwenden, flog auf, und er ging bankrott. Das Börsengeschäft in Hatry-Papieren wurde eingestellt, der Finanzier und mehrere seiner Mitarbeiter wurden verhaftet. Während des Durcheinanders erhöhte die Bank von England am 26. September den Diskontsatz von 5½ auf 6½Prozent.

Abgesehen vom Zusammenbruch der Frankfurter Allgemeinen Versicherungs-AG war dies die einzige Warnung im Gegensatz zu anderen Börsenkrächen.

Nun kam auch Skandinavien unter Druck; Schweden, Dänemark und Norwegen setzten ihren Diskontsatz herauf. Ende September war der Goldbestand der Bank von England auf 640Millionen Dollar zusammengeschmolzen, also eine Abnahme von beinahe 20 Prozent in vier Monaten. Am 5. August hatte Norman vor dem Komitee des Schatzamtes erklärt, ein beträchtlicher Teil Europas einschließlich des Vereinigten Königreichs könnte gezwungen sein, vom Goldstandard abzugehen, falls nicht, besonders in Frankreich und den Vereinigten Staaten, eine Änderungeinträte11. Unter diesen Umständen bedeutete der New Yorker Börsenkrach eine große Erleichterung, und Norman zeigte sich überrascht, dass man den Goldstandard nicht hatte aufzugebenbrauchen.

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