Kommentar
12:00 Uhr, 22.12.2016

Niedrigzinsen: Belügen sich die Notenbanken selber?

Für die Notenbanken liegt die Sache auf der Hand: die Zinsen müssen niedrig bleiben, sonst springt die Wirtschaft nicht an und die Inflation bleibt zu niedrig. Was aber, wenn sie damit komplett falsch liegen?

Vordergründig sind die Zinsen niedrig, weil die Inflation niedrig ist. Die Inflation wiederum ist niedrig, weil die Wirtschaft sehr langsam wächst. Die Wirtschaft wächst langsam, weil die Nachfrage gering ist und die Nachfrage ist gleich aus mehreren Gründen ungewöhnlich niedrig.

Letztlich ist die ganze Wirtschaft nichts weiter als ein Zusammenspiel aus Nachfrage und Angebot. Steigt die Nachfrage bei gleichbleibendem Angebot, dann steigen die Preise. Fällt die Nachfrage bei gleichbleibendem Angebot, dann sinken die Preise. Letzteres ist derzeit öfter der Fall als ersteres.

Dafür gibt es handfeste Gründe. Die Bevölkerung in Europa und Japan wird im Durchschnitt immer älter. In den USA ist das Phänomen wegen stetiger Zuwanderung und natürlichem Bevölkerungswachstum weniger stark ausgeprägt. Bei einer im Durchschnitt immer älter werdenden Bevölkerung gibt es mehrere Trends, die sich beobachten lassen: die Nachfrage sinkt, es wird mehr für die Vorsorge gespart und gleichzeitig sind die Schulden (vor allem Staatsschulden) sehr hoch.

All diese Faktoren hemmen das Nachfragewachstum und in der Folge das Wachstum und die Inflation. Aus Notenbanksicht kann man dagegen nur effektiv mit niedrigen Zinsen vorgehen.

Niedrige Zinsen machen Sparen unattraktiv, was die Nachfrage anschieben sollte. Schulden sind tragfähiger, weil die Zinsen niedriger sind und weniger Geld für die Zinszahlungen aufgewendet werden muss.

Die Wirtschaft besteht nicht nur aus Nachfrage, sondern auch aus Angebot. Hier sind vor allem Unternehmen gefragt. Je niedriger die Zinsen sind, desto eher lohnen sich Investitionen, weil die notwendige Rendite für Investitionen niedriger ist. Kann eine Investition 4 % Rendite abwerfen, tätigt man sie nur, wenn man sie zu weniger als 4 % finanzieren kann. Ansonsten würde man einen garantierten Verlust erwirtschaften.

Notenbanken sehen all diese Punkte und argumentieren daher, dass die Zinsen niedrig sein müssen. Natürlich kennt niemand das Zinsniveau, welches tatsächlich gebraucht wird, um am Ende für mehr Nachfrage und Angebot zu sorgen. Notenbanken behelfen sich daher mit einem Modell.

Auf Basis des Modells wird ein Gleichgewichtszinssatz ermittelt. Dieser Zinssatz ist neutral. Er schiebt die Wirtschaft weder an noch dämpft er das Wachstum. Liegen die Zinsen unterhalb dieses neutralen Zinssatzes, dann sollte die Wirtschaft angeschoben werden.

Die Wirtschaft wird angeschoben, weil z.B. Unternehmen durch Investitionen eine Überrendite erzielen können. Liegt der Gleichgewichtszinssatz bei 4 % und bringt die Investition eine Rendite von 4 %, dann lohnt sich die Investition bei einem Finanzierungssatz von 4 % nicht. Die Rendite liegt nach Abzug der Kosten bei 0 %. Ein Investor sollte indifferent sein. Bleibt alles konstant, doch der tatsächliche Zins liegt bei 2 %, steigt die Rendite der Investition plötzlich auf 2 %. Nun sollte investiert werden.

Notenbanken argumentieren nun, dass der neutrale Zinssatz sehr niedrig ist. In vielen Ländern dürfte er bei 0 % oder sogar darunter liegen. Um also Investitionen und damit Angebot und Nachfrage anzuschieben, müssen die tatsächlichen Zinsen so niedrig wie möglich sein, um den Gleichgewichtszinssatz zu unterbieten.

Die Grafik zeigt, wie gut das in den USA funktioniert hat. Da man den Gleichgewichtszinssatz nicht beobachten kann, handelt es sich um eine Schätzung. Seit Jahrzehnten geht es mit dem Zins abwärts. Kurzfristig war er negativ. Nun steigt er wieder und könnte bis 2020 im Bereich von 1,5 bis 2 % liegen.

Nun stellt sich allerdings die Frage, wer eigentlich wem folgt. Kritiker des Konzepts stellen fest, dass der neutrale Zins „zufällig“ immer in der Nähe der tatsächlichen Zinsen zu liegen scheint. Das kann daran liegen, dass die Notenbank dem Gleichgewichtszins folgt, aber es könnte genauso gut daran liegen, dass der neutrale Zins den festgelegten Zinsen folgt. Letztlich wird der neutrale Zins ja berechnet und das allgemeine Umfeld, zu dem auch die Geldpolitik gehört, spielen dabei eine Rolle.

Während es einen Gleichgewichtszinssatz gibt (das steht mehr oder minder außer Frage), ist dessen Höhe unbekannt. Kritiker befürchten, dass der neutrale Zins niedrig geschätzt wird, weil Notenbanken eine Niedrigzinspolitik verfolgen. Notenbanken jagen quasi ihrem eigenen Schatten hinterher. Der Gleichgewichtssatz ist niedrig, weil die von den Notenbanken festgelegten Zinsen niedrig sind.

Was nun der Wahrheit näher kommt, weiß keiner. Die Gefahr, dass Notenbanken sich selbst in die Tasche lügen, ist jedoch groß und die Niedrigzinspolitik wäre absolut fehlgeleitet und am Problem vorbei.

Clemens Schmale

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6 Kommentare

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  • geht_wen_an
    geht_wen_an

    Belügen sich die Notenbanken selber? - Nö,aber die Menschen belügen sie...

    08:55 Uhr, 23.12. 2016
  • Joachim Joerdens
    Joachim Joerdens

    Guter Beitrag
    Schaut man etwas genauer hin, stellt man fest, dass Millonen von Marktteilnehmern auf dem Abstellgleis stehen und genau diese haben den höchsten Konsumbedarf. Das betrifft sowohl die Industrieländer und auch die Schwellen- und Entwicklungsländer. Wer Arbeit hat und dafür einen zum Leben ausreichenden Lohn erhält konsumiert auch was er braucht während jemand der am Rande oder unter dem Existenzminimum lebt sparen muss um sich notwendige Dinge leisten zu können. Wenn ein Sparer jedoch auf Grund der niedrigen Zinsen Geld verliert, da er keinen Zins erhält aber die Kontoführungsgebühren steigen wird deutlich, dass es aus eigenem Antrieb kaum ein Entrinnen aus dieser Situation gibt.
    Es ist eine uralte Erkenntnis, dass die arbeitende Masse auch einen Nettolohn erhalten muss um sich die Produkte leisten zu können, sonst funktioniert das Modell "Angebot und Nachfrage " nicht weil Nachfrage nicht automatisch mit Bedarfserfüllung gleichzusetzen ist.
    Damit wird deutlich, dass Notenbanken allein in dieser Situation die Kuh nicht vom Eis holen können sondern die politischen Rahmenbedingungen angepasst werden müssen. Was wir jedoch sehen ist eine politische Flickschusterei die die Probleme der Zukunft nicht löst sondern verschärft. Offensichtlich fehlt die Kompetenz alle auf den Markt wirkende Faktoren in ein Gesamtkonzept einzubeziehen.

    13:55 Uhr, 22.12. 2016
    1 Antwort anzeigen
  • einfach
    einfach

    herr schmale

    wenn sie darüber reden dass in den usa größere zuwächse zu verfolgen sind, dann sollten sie auch anmerken dass diese zuwächse nur durch eine massive verschuldung der regierung erkauft wurden und das schon seit mehr als 10 jahren.

    von einem ordentlichen wachstum der usa kann daher nicht die rede sein sondern nur von einer ordentlichen verschuldung.

    wenn jetzt zu dieser extremen weltweiten verschuldung noch ein mehr als homöopatischer zinsanstieg kommt, ist es nur eine frage der zeit dass für die banken der letzte zinsuhr schlag geläutet hat.

    ohne den künstlich durch beenden der qe massnahmen erzeugten effekt der fed und des dadurch wieder ansteigens der 10 jährigen us staatsanleihen gäbe es kein größeres gewinnwachstum der großen us banken gegenüber der eu banken.

    außer der fed belügt sich derzeit keine andere notenbank.

    13:49 Uhr, 22.12. 2016
  • Unbedingt
    Unbedingt

    Jetzt könnte man danach fragen, ob sich die Analyse verändert, wenn die Notenbanken so eine Art Lobbyistenverein der Finanz- und Versicherungswirtschaft wären? Ist die EZB nicht so etwas wie ein Marketmaker?

    12:46 Uhr, 22.12. 2016
    1 Antwort anzeigen

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Über den Experten

Clemens Schmale
Clemens Schmale
Finanzmarktanalyst

Clemens Schmale hat seinen persönlichen Handelsstil seit den 1990er Jahren an der Börse entwickelt.

Dieser gründet auf zwei Säulen: ein anderer Analyseansatz und andere Basiswerte. Mit anders ist vor allem die Kombination aus Global Makro, fundamentaler Analyse und Chartanalyse sowie Zukunftstrends gemeint. Während Fundamentaldaten und Makrotrends bestimmen, was konkret gehandelt wird, verlässt sich Schmale beim Timing auf die Chartanalyse. Er handelt alle Anlageklassen, wobei er sich größtenteils auf Werte konzentriert, die nicht „Mainstream“ sind. Diese Märkte sind weniger effizient als andere und ermöglichen so hohes Renditepotenzial. Sie sind damit allerdings auch spekulativer als hochliquide Märkte. Die Haltedauer einzelner Positionen variiert nach Anlageklasse, beträgt jedoch meist mehrere Tage, oft auch Wochen oder Monate.

Rohstoffe, Währungen und Volatilität handelt er aktiv, in Aktien und Anleihen investiert er eher langfristig. Die Basiswerte werden direkt – auch über Futures – oder über CFDs gehandelt, in Ausnahmefällen über Optionen und Zertifikate.

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