Marktdynamik und Physik
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Wodurch verändert sich der Kurs von Wertpapieren mit der Zeit? Sind es Maßnahmen der Zentralbanken, Entscheidungen der Politik, oder die fortwährende Irrationalität der Märkte? Praktisch alle Erklärungsmodelle scheitern, und zwar oft schon an elementaren Vergleichen mit der Realität. Aus Sicht der Physik ist die Dynamik der Aktienmärkte nichts Ungewöhnliches. Dieses Verhalten findet sich in vielen Bereichen der Natur. Doch auch die physikalische Perspektive bietet keine Kristallkugel, die einen zuverlässigen Blick in die Zukunft erlaubt.
Am Freitag vorletzter Woche konnte wieder die Unsicherheit an den Märkten schön beobachtet werden. Die Arbeitslosenzahlen in den USA fielen deutlich besser aus als erwartet. „Was werden die Börsen machen?“ fragten sich viele Marktteilnehmer nach Bekanntgabe der Zahlen und nach dem Abebben der ersten Euphorie. Steigen die Märkte weiter, weil dies als Zeichen eines wirtschaftlichen Aufschwungs gilt? Oder fallen sie, weil die Erholung der Wirtschaft nun so deutlich ist, dass die Anleihenkäufe durch die Zentralbanken eingestellt werden und damit die Liquidität der Märkte reduziert wird?
Diese Fragen unterstellen einen kausalen Zusammenhang zwischen Information und Kursentwicklungen. Aber besteht eine solche Korrelation überhaupt? Oder gibt es vielmehr Hinweise dafür, dass die Kausalkette so kompliziert, verflochten und rückgekoppelt ist, dass eine Bewegung der Märkte (prinzipiell) nicht mit dem ursprünglichen Impuls in Verbindung gebracht werden kann? In anderen Worten: Was ist der Grund für Bewegungen an den Märkten?
Aus Sicht der Fundamentalanyse bzw. der klassischen Volkswirtschaftslehre scheint die Frage weitgehend beantwortet, was Kurse an den Märkten bewegt. Gemäß der Hypothese der effizienten Märkte werden sich die Kurse im Lauf der Zeit dahingehend anpassen, dass sich der „richtige“ Wert einer Aktie einstellt. Dieser „richtige“ Wert kann sich mit der Zeit ändern, etwa indem ein Unternehmen Maßnahmen ergreift, die sich als besonders erfolgreich erweisen. Es gilt also unterbewertete Aktien zu finden und zu kaufen und überbewertete Aktien leerzuverkaufen, um an den Märkten profitabel zu handeln.
In diesem zunächst einleuchtend erscheinenden Modell sind einige Annahmen enthalten, die dem Vergleich mit der Realität nicht standhalten. Zunächst wird dabei außer Acht gelassen, dass meist nicht der aktuelle Wert entscheidend ist, sondern das Potenzial, das die Investoren einem Unternehmen für dessen zukünftige Entwicklung zuschreiben, also eine stark subjektive Einschätzung, die weniger mit Effizienz oder Rationalität sondern mehr mit Phantasie und Hoffnung oder Misstrauen zu tun hat. Dass außerdem die Märkte generell nicht effizient sind liegt auf der Hand, sonst könnte man keine Blasenbildungen und Börsencrashs erklären. Die Kurse würden sich vielmehr im Lauf der Zeit einem Gleichgewicht annähern, bei dem die Schwankungen umso stärker abklingen, je näher der Kurs am „richtigen“ Wert angekommen ist. Das ist offensichtlich nicht der Fall. Wenn man sich tiefer mit der Materie beschäftigt, dann erkennt man weitere Unstimmigkeiten statistischer Natur. Benoît Mandelbrot stellte schon 1963 durch eine minutiöse Auswertung von Preisschwankungen des Baumwollpreises an den Märkten fest, dass diese Schwankungen nicht mit einer rein zufälligen Bewegung in Einklang zu bringen sind [1], die eine sogenannte Normalverteilung ergeben würde.
Nun ist ein falsches Modell nicht unbedingt sofort zu verwerfen. Es kann trotzdem innerhalb eines bestimmten Rahmens eine gute Näherung darstellen. Selbst wenn die Erde keine perfekte Kugel ist sondern durch Zentrifugalkräfte leicht verformt ist, ist die Annahme einer sphärischen Form in aller Regel völlig ausreichend. Oftmals kann man sogar ganz von der Krümmung absehen und eine flache Oberfläche annehmen. Das hängt davon ab, auf welcher Längenskala man das System betrachtet. Und hier taucht schon das erste Problem auf, wenn man diese in der Physik allgegenwärtige Abgrenzung des Gültigkeitsbereichs einer Theorie auf ökonomische Modelle zu übertragen versucht: Es gibt bei den Schwankungen an den Märkten schlichtweg keine feste Größe und auch keine feste Zeitenheit, die als „typisch“ gelten kann. Während im vorherigen Fall die Erdkugel dann als flach angenähert werden kann, wenn man einen Bereich betrachtet, der viel kleiner als der Erdradius ist, so fehlt eine solche Vergleichsgröße bei den Märkten. Wie stark verändert sich ein Aktienkurs typischerweise? Welches Volumen hat normalerweise eine Transaktion? Und wie lange dauert eine Kursänderung typischerweise? Diese Fragen können nicht beantwortet werden, da es keine eindeutig definierte mittlere Preisschwankung und auch keine charakteristische Zeitskala gibt. Damit ergeben sich erhebliche Schwierigkeiten wenn es darum geht, die Gültigkeit des Modells oder dessen Grenzen abzustecken.
Klar bewiesen ist die Tatsache, dass „katastrophale“ Ereignisse wie Börsencrashs sehr viel häufiger auftreten, als es die etablierten Modelle erwarten lassen. Wie Didier Sornette eindrücklich vorrechnet [2], wären unter der Annahme unkorrelierter Zufallsschwankungen die Crashs an den U.S. Märkten in den Jahren 1914, 1929 und 1987 eine Akkumulation von Ereignissen, die einzeln jeweils nur innerhalb von etwa 5000 Jahren stattfinden sollten. Dass drei solche Ereignisse innerhalb eines Jahrhunderts auftreten, dürfte nur einmal innerhalb mehrerer Millionen Jahre geschehen, wenn wir es wirklich mit unkorrelierten Zufallsschwankungen zu tun hätten. Für Risikomodelle, die auf normalverteilten Zufallsschwankungen basieren, ist dieses Ergebnis vernichtend. Das Risiko an Finanzmärkten ist eindeutig sehr viel höher [3,4].
Andere Modelle erklären die Kursschwankungen nicht durch Zufallsschwankungen um einen wahren Wert sondern im Rahmen der Massenpsychologie. Die Schwankungen der Renditen sind demnach nicht durch einen hypothetisch „korrekten“ Wert getrieben, sondern durch menschliche Emotionen. Insbesondere durch das an der Börse bekannte Wechselspiel von Gier und Angst, das jeden Anleger und Trader begleitet.
Dieses Gebiet der behavioral finance, das unter anderem durch die Arbeit von Robert Prechter [5] als ideologischer Überbau der Elliott-Wellen Analyse gilt, entzieht sich einer quantitativen Beurteilung. Dort finden sich keine Gleichungen und keine Prognosen, die eine direkte Verifizierung oder Falsifizierung ermöglichen. Natürlich lässt sich die Kursentwicklung mit dem „Marktsentiment“ vergleichen und z.B. durch stichprobenartige Meinungsumfragen eine Abbildung der allgemeinen Stimmungslage der Anleger erhalten. Doch dies lässt selten eindeutige Schlüsse auf die Marktentwicklung zu.
Aus größerer Distanz betrachtet stellt sich zudem die Frage, wieso die Massenpsychologie überhaupt als Grundlage zur Beschreibung der Marktdynamik herangezogen werden sollte. Zwar spielen Gier und Angst zweifellos eine zentrale Rolle bei den Entscheidungen der einzelnen Anleger, aber diese Emotionen müssen sich nicht direkt im Verlauf der Märkte widerspiegeln. Die Geldmengen, die durch einzelne Marktteilnehmer bewegt werden, sind oftmals enorm unterschiedlich. Die Volumina der Transaktionen verschiedener Trader können sich locker um einen Faktor 1000 unterscheiden. Damit ist die Psyche des einen Marktteilnehmers im Kursverlauf viel stärker gewichtet als die eines anderen. Auch die Frequenz des Handels ist i.a. bei verschiedenen Marktteilnehmern sehr unterschiedlich. Der eine kann eine „buy and hold“-Strategie verfolgen, bei der Aktien über Monate oder Jahre gehalten werden, der andere im Sekundentakt Käufe und Verkäufe durchführen.
Schon im Fall politischer Wahlen, bei denen jeder Wähler nur eine Stimme hat und nur an einem bestimmten Tag gewählt wird, erscheinen bei niedriger Wahlbeteiligung Zweifel angebracht, ob das Ergebnis wirklich dem Willen des Volkes entspricht. In Anbetracht der enorm unterschiedlichen „Stimmrechte“ der einzelnen Marktteilnehmer und der sehr stark fluktuierenden Anzahl der Transaktionen ist es damit fraglich, ob die Marktentwicklung tatsächlich die allgemeine massenpsychologische Stimmung widerspiegelt. Die Situation ist anders bei Massenveranstaltungen oder bei Verkehrsstaus, wo jeder Teilnehmer gleichzeitig in einer ähnlichen Situation ist und in etwa die gleiche Wirkung auf das Gesamtsystem ausübt. Insgesamt ist „behavioral finance“ meines Erachtens zwar ein attraktiver Forschungszweig, aber aufgrund der schwachen Aussagekraft und der unklaren Grundvoraussetzungen für dessen Gültigkeit kaum von praktischem Nutzen.
Kehren wir also wieder zu den „harten Fakten“ zurück, also zur statistischen Auswertung von Marktschwankungen. Dabei ergeben sich erstaunliche Ähnlichkeiten im Vergleich mit der Statistik von z.B. Erdbeben. Die Frage „wie stark ist typischerweise ein Erdbeben“ kann ebensowenig beantwortet werden wie die zuvor gestellte Frage nach den typischen Fluktuationen eines Wertpapiers. Es gibt Erdbeben in verschiedenster Stärke - weltweit und zu jeder Zeit. Je schwächer die Erdbeben sind, die durch die fortwährende tektonische Bewegung zustande kommen, umso häufiger treten sie auf. Stärkere Erdbeben sind (zum Glück) entsprechend seltener. Das ist, vereinfacht formuliert, der Inhalt des Gutenberg-Richter Gesetzes [6]. Diese Statistik findet sich in sehr vielen Systemen wieder, und zwar sowohl in der belebten als auch in der unbelebten Natur. Sie ist eine Art Signatur komplexer Systeme. Ob bei der Frequenzanalyse des Geräuschs eines Wasserfalls, bei der Analyse der Fluktuationen der Strahlungsinstität von Quasaren, bei den Schwankungen des Pegelstands des Nils oder bei Aktienmärkten: Die Gesetzmäßigkeit ist immer dieselbe [7]. Trägt man in doppelt-logarithmischer Skala die Häufigkeit eines Ereignisses als Funktion von dessen Stärke auf, ergibt sich eine nahezu perfekte Linie im Graphen.
Es würde viel zu weit führen, die faszinierenden Eigenschaften komplexer Systeme im Detail zu beschreiben, die unter anderem durch dieses statistische Verhalten geprägt sind. Doch es können einige Schlussfolgerungen gezogen werden, die durch diesen statistischen „Fingerabdruck“ zumindest nahegelegt werden können.
Wenn man Finanzmärkte aufgrund ihrer statistischen Signatur als komplexe Systeme im Sinne der Physik identifiziert, dann folgen bestimmte Eigenschaften, die für solche Systeme charakteristisch sind:
1. Komplexe Systeme haben ein Gedächtnis. In der Regel sogar ein unendlich langes. Ein Ereignis, das beliebig lange Zeit zurück liegt kann das aktuelle Geschehen mitunter entscheidend beeinflussen. Man kann das als eine Variante des bekannten „Schmetterlingeffekts“ betrachten.
2. Es bilden sich Strukturen aus. Ob charakteristische Wolkenformationen oder Verzweigungen von Flussläufen – komplexe Systeme sind nie „amorph“, also strukturlos. Typische Strukturen finden sich in verschiedener Größe in ähnlicher Weise. Jeder Trader weiß, dass sich in den Kursverläufen wiederkehrende Chartstrukturen in Form von Trendkanälen, Flaggen, Wimpel usw. ausbilden und nutzt direkt oder indirekt solche Strukturen für seine Handelsentscheidungen.
3. Komplexe Systeme sind nie im Gleichgewicht. Physiker bezeichnen diesen Zustand als „selbstorganisierte Kritizität“ [7]. Die marginale Stabilität, die diese Systeme automatisch nach einiger Zeit einnehmen, zeigt sich dadurch, dass ein kleines Ereignis eine sehr große, lawinenartige Wirkung haben kann – aber nicht muss.
4. Skaleninvarianz. Dieser Punkt wurde schon oben erwähnt. Im Fall des Tradings erkennt man leicht, dass die Form eines Charts immer ähnlich ist, unabhängig davon, ob ein Zeitraum von zehn Jahren, einer Woche, oder einem Tag betrachtet wird. Die statistischen Gesetzmäßigkeiten sind immer gleich. Natürlich lässt sich die Selbstähnlichkeit bei Charts nur dann erkennen, wenn man eine logarithmische Skalierung verwendet.
5. Komplexe Systeme sind nicht deterministisch. Das bedeutet, dass ein kausaler Zusammenhang, also ein klare Identifizierung von Ursache und Wirkung, i.a. nicht hergestellt werden kann. Niemand würde auf die Idee kommen, sich ernsthaft zu fragen, weshalb genau zu einer bestimmten Uhrzeit an einer bestimmten Stelle im Himmel eine Wolke bestimmter Größe und Form entstanden ist. Die mikroskopischen Effekte, die zu dieser Strukturbildung geführt haben, sind so verschachtelt und kompliziert, dass sie prinzipiell nicht nachvollziehbar sind. Ähnlich verhält es sich mit den Schwankungen einzelner Aktien, die auch ohne eine besondere Nachricht und ohne kursierende Gerüchte jederzeit einsetzen können.
Sind die äußeren Einflüsse allerdings entsprechend bedeutsam, dann werden sie unmittelbare Folgen haben: So wie ein Vulkanausbruch die meteorologische Situation in der Nähe des Vulkans direkt beeinflusst, wird z.B. auch eine enorme Liquiditätsflut, die von Zentralbanken zur Verfügung gestellt wird, nicht ohne Einfluss auf die Märkte bleiben.
6. Komplexe Systeme verhalten sich nicht rein zufällig. Wie schon vorher erwähnt besteht ein dichtes und über lange Zeiträume wirkendes Netz von Korrelationen. Nur weil wir nicht in der Lage sind, eine Kausalkette aufzustellen, bedeutet das nicht, dass die zeitliche Entwicklung von Finanzmärkten rein zufällig ist. Wäre sie rein zufällig, dann würden katastrophale Ereignisse wie die vorhin erwähnten Börsencrashs nicht so oft auftreten.
Fazit:
Die statistische Auswertung zeigt, dass Schwankungen an Finanzmärkten generell über lange Zeiträume korreliert sind und dass Finanzmärkte mehrere Eigenschaften aufweisen, die in der Natur bei komplexen Systemen vielfach beobachtet werden. Eine praktische Anleitung – egal wie kompliziert oder wie einfach - was die richtige Vorgehensweise ist, um an den Märkten stets erfolgreich zu sein, kann daraus allerdings nicht abgeleitet werden. Rein automatisierte Systeme können meines Erachtens ein komplexes System nicht beherrschen, also dauerhaft profitabel handeln. Das Geldvernichtungsdesaster des „Long-Term Capital Management“ (1998) ist hierfür ein gutes Beispiel. Den Glauben, dass bessere Programme oder leistungsstärkere Computer heute etwas Prinzipielles daran ändern können und eine „Superformel“ für ewige Gewinne nutzen können, halte ich für unbegründet.
Es gibt keine unfehlbaren Gurus, keinen „Heiligen Gral“ und keine Investmentstars, die immer erfolgreich sind – es gibt Risiko, Chance und Erfahrung. Dass jeder Trade grundsätzlich risikobehaftet ist eine Trivialität, die vor allem gegenüber weniger erfahrenen Tradern nicht häufig genug betont werden kann.
Es gilt also stets das Risiko richtig abzuwägen, verfügbare Informationen wahrzunehmen, Chartmuster zu beobachten und Chancen zu nutzen. Auch die Physik hilft nicht, um die Zukunft vorherzusagen. Wahrscheinlich ist das auch ganz gut so.
Literatur:
[1] B. Mandelbrot, “The Variation of Certain Speculative Prices”, Journal of Business, 36 (4) 394, (1963)
[2] D. Sornette, “Why stock markets crash – Critical Events in Complex Financial Systems”, Princeton University Press (2003)
[3] J.-P. Bouchaud, “Economics needs a scientific revolution”, Nature, 455, 1181 (2008)
[4] M. Buchanan, “The physics of the trading floor”, Nature, 415, 10 (2002)
[5] R. Prechter und A. J. Frost, „Elliott Wave Principle: Key to Market Behavior“, Wiley, (2000)
[6] B. Gutenberg und C. F. Richter “Seismicity of the earth and associated phenomena”. Princeton University Press, Princeton, New Jersey (1949).
[7] P. Bak, “How Nature Works: The Science of Self-Organized Criticality”, New York: Copernicus (1996)
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