Macro: An einem Wendepunkt
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Die Welt hat sich seit Februar dramatisch verändert. Statt von einem globalen Wirtschaftswachstum von 2,5 Prozent gehen wir jetzt für 2020 von einer Schrumpfung von knapp über 3 Prozent aus. Um die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen, kam das Leben in einem Land nach dem anderen für etwa zwei Monate zum Erliegen. Auf starke Einbrüche der Wirtschaftsaktivitäten folgen erste Anzeichen einer Erholung.
Unser Basisszenario geht davon aus, dass die Produktionskapazität der Welt über längere Zeit eingeschränkt bleiben wird. Das Ausmaß dieser Einschränkung wird vom jeweiligen Land und Industriesektor abhängen. Eine Gegenüberstellung der Auswirkungen von Covid-19 auf Tourismus, Hotelgewerbe und Einzelhandel auf der einen und auf das produzierende Gewerbe und Büroarbeit auf der anderen Seite macht dies deutlich. Während des Lockdowns blieben die Flugzeuge am Boden. Nicht-essentielle Geschäfte und Restaurants mussten ebenso schließen wie viele Büros und Fabriken. Diese rigorosen Maßnahmen werden jetzt zurückgefahren. Aber es gelten weiterhin strenge Auflagen – so darf sich nur eine begrenzte Anzahl von Menschen gleichzeitig in einem Geschäft, Restaurant oder Büro aufhalten. Hygienemaßnahmen, wie die Reinigung von Fabrikationshallen, wurden verschärft.
In ziemlich vielen Bereichen dürfte sich der Lockdown als produktivitätsneutral oder sogar leicht positiv erweisen. Kurzfristig bedeuten Abstandsregeln, dass jeder Büroangestellte mehr Platz benötigt, so er oder sie tatsächlich von dort aus arbeitet. Aber die Erfahrungen mit der Arbeit im Homeoffice könnten im Lauf der Zeit ihre Arbeitsweise verändern, sodass vielleicht künftig in den städtischen Ballungsräumen die Nachfrage nach teurem Büroraum sogar sinkt. Die Produktivität im verarbeitenden Gewerbe kann ebenfalls schnell wieder das Niveau vor der Coronakrise erreichen, obwohl Social-Distancing-Maßnahmen zu höheren Stückkosten führen dürften.
Ganz anders sieht es bei Hotels, Gastgewerbe und im Einzelhandel aus: Hier schrumpft nicht nur die Nachfrage, sondern die Kapazitäten werden quasi permanent eingeschränkt. So dürften viele kleinere Restaurants weiter um ihre Existenz bangen, auch wenn die Nachfrage wieder auf das Niveau vor der Krise steigt, weil sie deutlich weniger Gäste bedienen können. Beschränkungen wie das verpflichtende Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes dürften die Nachfrage ebenfalls dämpfen. Ähnlich dürften auch die Touristenströme über viele Monate stark beeinträchtigt bleiben.
Aufgrund all dieser branchenspezifischen Auswirkungen haben wir die mögliche (Aufwärts-)Entwicklung aller von uns abgedeckten Länder Branche für Branche untersucht. Per Saldo sehen wir eine rasche Erholung der Aktivitäten, sobald die Lockdown-Maßnahmen aufgehoben werden, aber nur bis Kapazitätsbeschränkungen greifen. Ab diesem Zeitpunkt kommt der Aufschwung nur im Schneckentempo voran. Daher dürften die meisten Industrieländer das Produktionsniveau vor der Krise erst 2022 erreichen. Für die Vereinigten Staaten bedeutet dies 2020 einen Rückgang der Wirtschaftsleistung um etwa 6 Prozent, bevor dann 2021 von dieser sehr viel niedrigeren Basis aus die Erholung um ebenfalls etwa 6 Prozent einsetzen dürfte. Für die Eurozone gehen wir in diesem Jahr von einem Rückgang um 7,5 Prozent aus, für 2021 von einem Wachstum von 4,5 Prozent. Der stärkere Einbruch und der langsamere Aufschwung in der Eurozone sind teils auf die bereits erwähnten branchenspezifischen Effekte zurückzuführen. So hängen Länder wie Spanien und Italien beispielsweise stark vom Tourismus ab.
Diese Prognosen sind lediglich der Versuch einer Annährung. Denn für die aktuelle Situation gibt es kaum vergleichbare historische Daten. Die Coronakrise ist keine Allerweltsrezession, die etwa von ökonomischen Auswüchsen während eines vorausgegangenen Booms ausgelöst wurde. Natürlich gibt es derartige Elemente, wie neu und hauptsächlich mit Fremdkapital gegründete Immobilienunternehmen, die gemeinsam genutzte Arbeitsplätze anbieten. Größtenteils wurde diese Rezession aber durch angesichts eines gesundheitlichen Notstands staatlich verordnete Maßnahmen ausgelöst.
Unsere wichtigste Feststellung ist, dass zumindest mit Blick auf den Lockdown die meisten Industriestaaten das Schlimmste überstanden haben dürften. Wir rechnen nicht mit einem zweiten allgemeinen Lockdown wie im März, der gleichzeitig eine ganze Reihe von Ländern betrifft. Sollte dies dennoch eintreten, dann käme es zu einer W-förmigen Entwicklung, wobei der zweite Tiefpunkt in der wirtschaftlichen Aktivität unterhalb des ersten liegen dürfte. Wir sind vorsichtig optimistisch, dass sich ein derartiges Szenario vermeiden lässt. Nach unserer Einschätzung dürften gezieltere Maßnahmen ausreichen, um lokale Infektionsherde zu begrenzen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit in den kommenden Monaten auftreten werden.
Wir überlassen es den Virologen, ab welchem Anstieg der Neuinfektionsrate von einer zweiten Welle zu sprechen ist. Für uns als Ökonomen ist es aber bemerkenswert, dass die meisten ostasiatischen Länder die erste Welle unvergleichlich besser bewältigt haben als die europäischen oder nord- und südamerikanischen Staaten. So konnten die ostasiatischen Länder nicht nur die Zahl der Infizierten und Toten niedriger halten, sondern auch die wirtschaftlichen Kosten. Dies lässt den Schluss zu, dass die Institutionen dieser Länder ihre Lehren aus der schweren SARS-Epidemie 2003 gezogen haben. Ähnliche Lerneffekte könnten den Umgang mit weiteren Coronawellen in der restlichen Welt erleichtern und einen erneuten allgemeinen Lockdown überflüssig machen.
Viele unserer Modellierungsannahmen sind allerdings noch leichter angreifbar, als dies an einem „normalen“ konjunkturellen Wendepunkt der Fall ist. Erstens werden die wissenschaftlichen Erkenntnisse über Covid-19 von Woche zu Woche präziser. Dies garantiert keinen raschen Durchbruch, und neue Entdeckungen müssen auch nicht unbedingt positiv sein. Aber zumindest bleibt es möglich, dass beispielsweise die Hintergrundimmunität durch frühere Infektionen weiter verbreitet ist, als ursprünglich angenommen. Näher an unserem eigenen Wissensbereich liegt die positive Überraschung durch die energischen und bislang recht wirkungsvollen fiskal- und geldpolitischen Maßnahmen der Regierungen und Zentralbanken auf beiden Seiten des Atlantiks. In Europa markiert der jüngst beschlossene EU-Wiederaufbaufonds das erste umfangreiche Programm für gemeinsame Anleihen der Europäischen Union, das auch ein wesentliches Transferelement beinhaltet. So könnte ein positiver Nebeneffekt der aktuellen Krise in einer tatsächlichen fiskalischen Integration der Eurozone oder der gesamten Europäischen Union bestehen, durch die die gemeinsame Währung für künftige Krisen besser gewappnet wäre.
In großen Teilen der Vereinigten Staaten wütet die Pandemie hingegen weiter. Auch in vielen Schwellenländern, besonders Brasilien und Indien, scheint sie ungebändigt. Neben den hohen Opferzahlen und Belastungen für die einheimische Wirtschaft könnte dies eine ganze Reihe wirtschaftlicher und politischer Zweitrundeneffekte für die restliche Welt bedeuten, einschließlich Unterbrechungen wichtiger Lieferketten und neuer Flüchtlingskrisen. Die vollständigen Auswirkungen auf politische Stabilität, soziale Strukturen und globale Produktionskapazitäten sind noch überhaupt nicht abzuschätzen. Unsere Analyse der einzelnen Branchen gibt aber in einem Bereich Anlass zur Sorge: In einer „normalen“ Rezession finden einige der Neulinge am Arbeitsmarkt oder Arbeitskräfte, deren Fertigkeiten in anderen Branchen nicht mehr gefragt sind, Beschäftigung im Niedriglohnbereich des Dienstleistungssektors, zum Beispiel im Hotelgewerbe oder Einzelhandel. In der aktuellen Rezession scheinen diese Jobs nicht so schnell wieder aufgebaut zu werden, geschweige denn denen eine Beschäftigung bieten zu können, die in anderen Branchen entlassen wurden. Die aktuelle Krise dürfte daher die Spaltung zwischen Unten und Oben, zwischen Arm und Reich und auch zwischen Schwarz und Weiß verschärfen. Die jüngsten Ereignisse in den Vereinigten Staaten zeigen die politische Sprengkraft einer auseinanderdriftenden Gesellschaft.
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