Kommentar
16:34 Uhr, 20.04.2016

Keine Angst vor einem Brexit

  • Die Risiken bei einem Austritt Großbritanniens aus der EU sind nicht so groß wie oft befürchtet. Es würde keinen Crash geben.
  • Das Schlimmste ist die Unsicherheit in der Zeit vor und nach dem Referendum. Auf lange Sicht werden und müssen sich die Beteiligten als Nachbarn arrangieren.
  • Größere Probleme könnte es bei Direktinvestitionen und auf dem Immobilienmarkt in London geben.

Die Aussage des IWF in den letzten Wochen, dass ein "Brexit" eines der großen Risiken der weltwirtschaftlichen Entwicklung sei, hat mich erschreckt. Müssen wir uns hier wirklich auf einen neuen Crash einstellen?

Die Frage ist umso brisanter, als die Wahrscheinlichkeit zu­nimmt, dass die Briten bei dem Referendum am 23. Juni tat­sächlich für einen Austritt aus der EU stimmen. So wie es derzeit aussieht, sind nur die Eliten einschließlich des Fi­nanzsektors in London überwiegend für einen Verbleib in der EU. Alle anderen sehen, wenn nicht noch etwas Uner­wartetes geschieht, in der Europäischen Union eher ein Ärgernis, das den "British way of life" stört.

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Fragt man, was ein Brexit für die Welt und die Finanzmärkte bedeuten würde, so wird hier im Augenblick allerdings viel übertrieben. Natürlich würde es eine Vielzahl von Verände­rungen geben, in Großbritannien selbst, in der EU und in Ländern mit engeren Beziehungen zum Vereinigten König­reich. Großbritannien und die EU würden getrennte Wege gehen. Das ist aus meiner Sicht schade. Veränderungen sind auch immer eine Belastung für die Märkte. Es ist aber keine Katastrophe. Vor allem würde es sich nicht zu einer weltweiten Finanzkrise wie 2008 ausweiten. Dafür ist Groß­britannien zu klein. Alle Beteiligten hatten Zeit, sich vorzu­bereiten. Die Bank von England steht Gewehr bei Fuß. Die Folgen des Austritts werden sich erst in zwei Jahren nach Abschluss der Austrittsverhandlungen zeigen.

Bei der Bewertung des Risikos Brexit muss man freilich differenzieren. Kurzfristig ist es schwierig. Da gibt es eine Reihe von Stolpersteinen. Niemand weiß, was nach dem Volksentscheid beispielsweise mit der britischen Regierung passiert. Würden die Schotten vielleicht wieder ein eigenes Referendum verlangen? Könnte es auf dem Kontinent in einzelnen Ländern politische Verwerfungen geben? Könn­ten die Investitionen und das Wirtschaftswachstum einbre­chen? All diese Risiken addieren sich zu den sonstigen Schwächen in der Weltwirtschaft. Das macht sie gefährlich. Die Unsicherheiten sind aber nur temporär.

»Niemand hat ein Interesse, dass wegen des Brexits ganz Europa zerfällt.«

Nach dem Referendum wird sich die Lage beruhigen. Denn EU und UK sind – was immer heute gesagt wird – auch nach einem Brexit aufeinander angewiesen. Sie bleiben Nachbarn. Sie können sich auch aus sicherheitspolitischen Gründen gar keine dauerhafte Konfrontation leisten. Nie­mand hat ein Interesse, dass wegen des Brexit ganz Euro­pa zerfällt.

Drei große Probleme müssen gelöst werden. Erstens das Verhältnis Großbritanniens zum Binnenmarkt. Es wäre für alle ein großer Rückschritt, wenn England hier künftig aus­geschlossen würde. Das ist aber, wie die Beispiele Norwe­gens oder der Schweiz zeigen, keinesfalls zwangsläufig. Niemand kann das auch wirklich wollen.

Zweitens der Status Londons als zentraler Finanzplatz des Euros. Hier werden Paris und Frankfurt Ansprüche geltend machen. Ich zweifle aber, ob sie die Rolle Londons voll übernehmen können. Die Attraktivität eines Finanzplatzes hängt nicht von Beschlüssen der Notenbank oder der Re­gierungen ab. London hat als Finanzplatz drei Vorteile, die – wenn die Engländer keine großen Fehler machen – schwer einzuholen sind: Die guten Leute, die dort arbeiten, die eng­lische Sprache und die geographische Nähe zu New York.

Drittens, aus kontinentaler Sicht am wichtigsten, muss Eu­ropa seine Identität neu definieren. Die Union wäre dann kleiner. Die Bevölkerung würde um 65 Mio. abnehmen. Der Charakter der Gemeinschaft würde sich verändern.
Südeuropa würde an Einfluss gewinnen, Deutschland ver­lieren. In der Wirtschaftspolitik würde es mehr Interventio­nen und weniger Marktwirtschaft geben. Desintegrierende Kräfte würden sich ermutigt fühlen. Im schlimmsten Fall könnte es zu weiteren Austritten aus der Gemeinschaft kommen. Das nagt an der Attraktivität der Gemeinschaft.
Es schafft eine lange Periode der Unsicherheit. Es ist aber nicht das Ende des Projektes Europa. Der Euro würde nicht zusammenbre­chen. Es könnte am Ende auch ein reinigen­des Gewitter sein und eine Chance für die Gemeinschaft.

Viele sagen, dass ein Brexit das Wachstum in England und damit auch bei seinen Handelspartnern bremsen würde. Das ist aber keineswegs sicher. Denkbar ist nämlich auch, dass es ein "Booming Britain" gibt, weil die Brüsseler büro­kratischen, protektionistischen und wettbewerbshemmen­den Vorschriften entfallen. Das ist es, worauf die Befürwor­ter des Brexit auf der Insel setzen. Aber selbst wenn das Wachstum zurückgeht, dann wird das nicht so drama­tisch sein, dass sich das Weltbild total verändert.

Wo es Schwierigkeiten geben kann, ist bei den Direktinves­titionen und beim Immobilienmarkt. Großbritannien ist ein wichtiger Platz für den internationalen Geld- und Kapitalver­kehr. Viele Mittel laufen zuerst über London, bevor sie spä­ter anderswo investiert werden. Es könnte sein, dass manch ein Investor diese Praxis bei einem Brexit überdenkt. Viel­leicht kommt dann auch insgesamt weniger Geld auf dem Kontinent an. Vorstellbar ist zudem, dass internationale In­vestoren nicht mehr so viel Geld in britischen Immobilien anlegen. Hier könnte es einen Rückschlag geben.

Für den Anleger

Bis zur Volksabstimmung sollten Sie vorsichtig sein. Da kann es turbulenter zugehen. Langfristig aber geht die Welt nicht unter, wenn Großbritannien nicht mehr zur EU gehört. Man kann auch weiter in gute Unternehmen in Großbritanni­en investieren. Allerdings sollte man auf die Währung ach­ten. Ich könnte mir vorstellen, dass das Pfund wegen seines hohen Leistungsbilanzdefizites auf Dauer wieder zu einer Abwertungswährung wird (siehe Grafik).

2 Kommentare

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  • I. Block
    I. Block

    Eine mutige Prognose....

    Kurzfristig glaube ich nicht an Jubelstimmung, mittel- bis langfristig könnte die Stimmung allerdings ins Positive drehen. Kommt ganz drauf an, wie die Big Player aktuell in Britischen Aktien, Immobilien und im GBP investiert sind.

    11:17 Uhr, 22.04. 2016
  • Peter Zumdeick
    Peter Zumdeick

    Ganz im Gegenteil sogar: Ein BREXIT wäre das beste, was Europa passieren könnte ... - dann knallen die Sektkorken und die Indices gehen durch die Decke ...

    20:59 Uhr, 20.04. 2016