Kommentar
14:00 Uhr, 27.08.2007

Interview: Die Zeiten ändern sich

Das TRADERS Magazin wartet immer wieder mit interessanten Interviews auf. Anbei ein Interview mit Clive Corcoran.

Frage : Sie reden in Ihrem Buch ausführlich über so genannte Powerlaws. Was muss man sich darunter vorstellen?
Corcoran: Die Kapitel über die Powerlaws sind einer der Bereiche des Buches, die es meiner Meinung nach so attraktiv und andersartig machen. Sie beziehen sich genau auf Ihre allererste Frage, warum noch ein Buch über die Technische Analyse geschrieben werden musste. Powerlaws sind ein Gebiet, das auch für Leute, die schon eine Menge über Technische Analyse gelesen haben, Neuland ist.
Lassen Sie mich zuerst erklären, was ein Powerlaw eigentlich ist. Powerlaws kommen grundsätzlich aus den Naturwissenschaften. Der beste Weg, Kraft (power) zu beschreiben, kommt aus der Erdbebenforschung. Interessant an Erdbeben ist, dass sie eigentlich überall und jederzeit stattfinden. Man merkt sie oft nicht, aber sie treten doch so oft auf, dass sich die Menschen keine großen Gedanken mehr darüber machen. Aber das Ausmaß eines Erdbebens mit Stärke neun ist außerordentlich selten. Sie erinnern sich an den Tsunami Weihnachten 2004 in Indonesien. Wenn man ein Baumdiagramm vom Ausmaß der Erdbeben und der Häufigkeit ihres Auftretens erstellen würde, das an beiden Achsen logarithmisch ist, dann sieht man etwas Interessantes: Eine gerade Linie. Der wichtige Punkt ist, dass es eine klare und systematische Beziehung zwischen der Stärke des Erdbebens und der Wahrscheinlichkeit seines Auftretens gibt. Anhand des Materials des US Geological Survey (US-Regierungsbehörde, die sich im Dienste der Öffentlichkeit mit geologischen und biologischen Phänomenen befasst) kann man erkennen, dass es beispielsweise zehn schwere Erdbeben im Jahr geben wird oder dass es 100 Erdbeben mit einer mittleren Stärke im Jahr geben wird und so weiter.
Eine andere interessante Sache ist natürlich, dass die Richterskala selbst als logarithmische Skala dargestellt wird. Wenn man die Erdbebenvorkommen auch an einer logarithmischen Skala misst, sind sie beinahe ein perfekt lineares Muster. Das deutet an, dass die Frequenz und die Wahrscheinlichkeit von auftretenden Erdbeben nicht zufällig sind, in der Tat gibt es da eine gewisse Regelmäßigkeit zur Skalierung dieser Ereignisse. Das Bedauerliche daran ist, dass man die Fakten dieser Powerlaw-Beziehung zwischen Erdbeben und deren Auftreten nicht zur Vorhersage dafür verwenden kann, ob und wo es ein großes Beben geben wird. Alles was man herausfindet, wenn man die Häufigkeit großer, mittlerer und kleiner Erdbeben Jahr für Jahr notiert, ist, dass sie uns das gleiche Grundmuster enthüllen. Das bedeutet, dass der Vorfall eines Erdbebens einer versteckten Regelmäßigkeit oder Skalierung folgt. Es ist diese bestimmte versteckte Skalierung für diese Ereignisse, die sie irgendwie mysteriös machen und rätselhaft. Diese Zusammenhänge können uns helfen herauszufinden, wann ein großes Beben stattfinden wird, unglücklicher¬weise aber nicht wo.

Frage : Faszinierend.
Corcoran: Jetzt, nachdem wir die Grundlagen der Powerlaws durchgegangen sind, ist es interessant, sich Gaps im Finanzmarkt heranzuziehen. Wenn man nämlich die Ausmaße der Gaps betrachtet, folgen diese auch Powerlaws. Indem man die Tage zählt, wo sich am Markt jeweils Gaps von mehr als zwei, vier, acht Prozent auftun, quantifiziert man sie. Man benutzt eine ähnliche Technik derjenigen, wie ich sie gerade beschrieben habe. Und man wird herausfinden, dass sie einem Powerlaw folgen. Es ist unheimlich. Die Forschung, die dieses Verhältnis aufzeigt, wurde von Akademikern an mehreren Universitäten durchgeführt. Es haben sogar Leute aus der Finanzwelt daran mitgearbeitet. Wieder einmal wird der Eindruck einer versteckten Ordnung erweckt.
Aus den gleichen Gründen, weshalb wir nicht in der Lage sind, Vorhersagen zu machen, wo Erdbeben auftreten werden, ist es aber auch nicht möglich vorher zu bestimmen, wann und wo wir bedeutende Gaps zu erwarten haben.

Frage : Das ist sicherlich ein fruchtbares Gebiet für einen wissbegierigen Geist. Das bringt uns zu einem weiteren interessanten Thema. Ihrer Idee des Marktes als Netzwerk und wie dieses Netzwerk ein Verstehen kritischer Marktepisoden, Bubbles, Crashs usw. fördern kann. Was sind die Charakteristika dieser modernen Märkte?
Corcoran: Nun, das ist eines der spekulativeren Kapitel des Buches. Ich habe ein Modell dafür vorzuschlagen, in welcher Art und Weise sich Märkte in Relation zu den Powerlaws verhalten. Ich habe angefangen darüber nachzudenken, wie man einige von diesen expliziten Ideen dazu benutzen kann, Verhalten in anderen Feldern, die weitab vom Feld der Finanzmärkte sind, zu erklären. Ich habe mir die Frage gestellt, wie man all das in Bezug setzen kann. Das Modell, das ich vorschlage, geht zurück auf die Dynamik, auf die ich mich weiter konzentriere, nämlich dass Märkte tatsächlich ein Netzwerk sind. Sie sind nicht nur irgendein Geflecht, sondern in einem gewissen Sinn sind sie ein Netz, ähnlich dem Internet. Grundlegend sind die Märkte also auch ein virtuelles Netz – nun sie sind schon auch ein physisches Netzwerk in dem Sinn, dass alle durch Maschinen überall auf der Welt per Netzwerk verbunden sind, aber es ist auch ein virtuelles Netzwerk, weil es die Menschen virtuell zusammenbringt.
Wenn man jetzt über die Märkte nachdenkt, sind diese in einem gewissen Sinn ähnlich.
So wie sich im Internet Menschen, die an bestimmten Themen Interesse haben, in Communities zusammenfinden, vernetzt der Börsenhandel diejenigen, die an Futures-Preisen interessiert sind oder an Forex-Aktien, andere haben heute mehr Interesse am Preis von Apple. Wir schauen den ganzen Tag auf die Bildschirme, und bis zu einem gewissen Ausmaß ist das der Handlungsstrang einer virtuellen Gemeinschaft. Die Menschen sind alle vernetzt, sie schauen auf ähnliche Charts, sie betrachten sie im Verlauf des Tages als eine andauernde sich weiter entwickelnde Geschichte – das ist die Idee vom Markt als einer Art virtuellen Gemeinschaft, als virtuellem Netzwerk.
Eine Schlussfolgerung aus dieser Überlegung, die ich für sehr nützlich halte, ist die Idee der finanziellen Verseuchung, weil sie auch der Frage Rechnung trägt: Wie verdiene ich damit eigentlich Geld? Denn ich bin mir immer der Notendigweit bewusst, meine Ideen mit dem kritischen Hinterfragen nach dem Profit zu verknüpfen. Ist das die Idee einer finanziellen Seuche? Man muss sich das so vorstellen, wie sich ein Virus im Internet verbreitet, oder sogar eine Krankheit, die sich in einer eng verstrickten Gemeinschaft oder einem Netzwerk von Menschen ausbreitet. Die Art und Weise, wie sich Neuigkeiten oder wie sich das Preisverhalten heutzutage über ein Netzwerk verbreitet, ist derart schnell, dass die Episoden finanzieller Verseuchung sehr dramatisch werden können.
Schauen wir nur auf den Sell-off im Mai 2006. Im Buch zeige ich das anhand einiger Charts des Anleihe-Marktes während dieser Periode. Der Anleihe-Markt war sehr erratisch und bildete Spikes aus. Man sollte auch immer ein Auge auf den Broker-Dealer-Sektor des Marktes haben, der das Preisverhalten der großen Investmentbanken und der großen US Broker nachzeichnet. Vor dem S&P Sell-off Ende April 2006 gab es einen Rückgang im Broker-Dealer-Sektor, da war der Rückgang im Nikkei, da passierten große Einbrüche in manchen Bereichen der Emerging Markets, zum Beispiel in Bombay.Und dann innerhalb von ein paar Tagen wurde S&P wirklich ausverkauft. Es waren zwei oder drei Tage in dieser Periode, wo der Markt fast um effektiv zehn Prozent abgesunken ist. Ich würde das als Beispiel einer sehr komprimierten Verseuchung nehmen. So etwas beruht auf einem sehr eng gestrickten Netzwerk von Marktteilnehmern.

Frage : Interessantes Gebiet. Sie beschäftigen sich viel mit dem Thema Portfolio-Konstruktion. Wie erreicht man denn Beta-Neutralität, wie es in der Welt der Hedge-Fonds heißt, und warum ist dieser Begriff für den einzelnen Trader von Interesse?
Corcoran: Ist nicht das etwas, worüber alle Trader Bescheid wissen sollten? Außer wenn man ein Daytrader ist und keine Positionen über Nacht hält? Wenn man ein Trader ist, der Positionen über Nacht und mehrere Tage hält, dann sollte man kombinierten Positionen seine Aufmerksamkeit schenken.
Sie gehen also in eine Position und am ersten Tag sieht alles ganz gut aus. Guter Einstieg und ein kleiner Gewinn am Ende des Tages. Dann passiert irgendetwas. Ein kleines Ereignis und der Markt bricht zusammen. Eine schlechte Nachricht, es gibt eine Lücke und selbst ein Stopp kann nicht verhindern, dass man Geld verliert. Wie kann man sich gegen ein solches Problem wappnen? Einer der besten Wege, das zu bewerkstelligen, ist beides zu haben, Long- und Short-Positionen. Das hilft einem im Falle eines Macro-Events heraus. Wenn man also ein Portfolio mit Long- und Short-Positionen hat und der Markt sich für einen Crash entscheidet, werden die Long-Positionen massiv verlieren und die Short-Positionen werden Geld einbringen. Bis zu einem gewissen Grad kann man so also eine Art Immunisierung erreichen.
Allerdings könnte es sein, dass die Longs mehr runtergehen als die Shorts verdienen, und das ist der wirkliche Schlüssel hinter dem Begriff „Beta-Neutralität”. Das Beta eines Aktienpakets hat zu tun mit dem Grad, in dem sich die Aktien im Gleichklang mit den globalen Märkten bewegen. Wenn also eine Aktie ein Beta von 1 hat, sagen wir als Beispiel General Electric, und sie bewegt sich schön mit dem S&P, dann wird sie zwei Prozent steigen wenn der S&P zwei Prozent steigt und sie wird zwei Prozent verlieren wenn der S&P das tut. Das ist eine brave Aktie, denn sie tut, was der Markt tut. Die meisten Aktien verhalten sich jedoch nicht so – sie verhalten sich mehr oder weniger dramatisch. Wenn man einige bekanntere Technologiewerte nimmt, oder speziell vielleicht nicht so bekannte Technologiewerte, könnte deren Beta 3 sein, 4, vielleicht sogar mehr. Wenn dann der Markt in eine Richtung geht, werden diese Aktien auch denselben Weg gehen, aber drei- oder viermal stärker als der Markt selbst. Es gibt auch Aktien, die haben negative Betas, was bedeutet, dass sie sich anders als der breite Markt verhalten. Und das kann man ausnutzen. Heute natürlich unter Zuhilfenahme von Software. Man kreiert also ein Portfolio mit Aktien mit unterschiedlichen Betas, um sozusagen ein Beta-neutrales Portfolio zu erhalten. Das geht natürlich nicht einfach so, sondern man muss die Positionsgrößen so variieren, das man einem Beta-neutralen Portfolio möglichst nahekommt. Ich denke, dass in der Entwicklung solcher Portfolios die Gewinnmöglichkeiten der Zukunft liegen.

Frage : Und dann müssen sich die Aktien nur noch bewegen, egal wohin?
Corcoran: Man sucht dann in erster Linie Werte, die sich bewegen, richtig. An zweiter Stelle kombiniert man diese Aktien dann auf Basis ihrer Betawerte.

Frage : Sicher.
Corcoran: Ich behandle das zu einem großen Teil in meinem Buch – es ist nicht so komplex. Die Mathematik ist nicht kompliziert. Betas sind einfach zu berechnen und sogar die Zahlenverarbeitung, um diese Art der Beta-Neutralität zu erreichen, ist nicht so schwierig. Es ist wahrscheinlich eher ungewohnt als schwierig.

Frage : Also ist es tatsächlich nur eine Frage der Relation zwischen Betas und Positionsgrößen?
Corcoran: Genau.

Frage : Jetzt haben wir eine Menge abgedeckt, aber wie kann man das kurz und knapp zu einer Strategie zusammenfassen?
Corcoran: Nun, ich hoffe, dass ich an den verschiedenen Fronten dem Daytrader und dem aktiven Trader nützen kann. Ich denke der grundlegende Tenor meiner Arbeit ist, dass der Trader verstehen sollte, was Divergenzen sind. Wenn etwas sehr bullisch aussieht, aber in Wahrheit gar nicht bullisch ist, dann ergeben sich an dieser Stelle die besten Möglichkeiten für Profit. Es gibt ein Zitat von George Soros: „Es ist nicht wichtig, wie oft man richtig und wie oft man falsch gelegen hat, es ist wichtig, wie viel man verdient, wenn man richtig liegt, und wie viel man verliert, wenn man falsch liegt.”

Frage : Clive, vielen Dank für viele interessante Einsichten.

Quelle: Traders-Magazin

Das Diagramm illustriert die Powerlaw-Beziehung zwischen der Häufigkeit und der Intensität von Erdbeben. Eine ähnliche Beziehung wurde zwischen der relativen Größe von Preis-Gaps und ihrer Häufigkeit festgestellt.

Quelle: U.S. Geological Survey

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Über den Experten

Harald Weygand
Harald Weygand
Head of Trading

Harald Weygand entschied sich nach dem Zweiten Staatsexamen in Medizin, einer weiteren wirklichen Leidenschaft, dem charttechnischen Analysieren der Märkte und dem Trading, nachzugehen. Nach längerem, intensivem Studium der Theorie ist Weygand als Profi-Trader seit 1998 am Markt aktiv. Im Jahr 2000 war er einer der Gründer der stock3 AG und des Portals www.stock3.com. Dort ist er für die charttechnische Analyse von Aktien, Indizes, Rohstoffen, Devisen und Anleihen zuständig. Über die Branche hinaus bekannt ist der Profi-Trader für seine Finanzmarktanalysen sowie aufgrund seiner Live-Analysen auf Anlegerveranstaltungen und Messen.

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