"Grundsatzfragen der Stabilisierung des Finanzsystems"
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Rede
Professor Dr. Hermann Remsperger
Mitglied des Vorstands der Deutschen Bundesbank
Frankfurt am Main
17. September 2008
Grundsatzfragen der Stabilisierung des Finanzsystems
Keynote bei der Konferenz „Determinanten und Konsequenzen der Finanzkrise“ der Frankfurt School of Finance & Management Bankakademie, HfB in Frankfurt am 17. September 2008
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
was ich befürchtet habe, ist eingetreten: es gibt kaum etwas schwierigeres, als nach Herrn Heise zu referieren. Eigentlich hat er schon alles gesagt. Aber da ich jetzt nicht einfach schweigen kann, möchte ich mit Ihnen doch einige Grundsatzfragen der Stabilisierung des Finanzsystems erörtern. Und ich hoffe, dass meine Überlegungen vielleicht einen kleinen Mehrwert haben, auch wenn ich ganz bewusst nicht auf die allerjüngsten Ereignisse eingehen möchte. Ich thematisiere also nicht die aktuelle Krisenbewältigung, sondern die längerfristige Krisenvermeidung. Dabei würde ich mein Thema gewiss verfehlen, wenn ich heute die ganze Fülle der Vorschläge zur Stabilisierung des Finanzsystems auflisten würde. Dazu reicht die Zeit auch gar nicht. Statt also ins Detail zu gehen, will ich versuchen, die Grundsatzfragen sichtbar zu machen, die hinter vielen Handlungsempfehlungen stehen.
Ich habe diese Vorgehensweise nicht zuletzt deswegen gewählt, weil mich gerade auch bei der Mitarbeit im Forum für Finanzstabilität immer wieder grundsätzliche Fragen beschäftigen. So stellt sich mir heute morgen unter anderem die Frage, wie das institutionelle Gefüge für die Stabilität des Finanzsystems besonders in den USA längerfristig aussehen sollte. Oder grundsätzlicher noch ist zu fragen, wie viel Freiraum die Marktteilnehmer im Finanzsystem einerseits haben sollten, und wo andererseits die Freiheitsgrade zu begrenzen sind.
Aufgrund dieser Fragen bin ich für meinen Vortrag letztlich zu einer Matrix gekommen, die in der Kopfzeile all jene Handlungsempfehlungen registriert, denen wir fast jeden Tag in den Medien begegnen, zum Beispiel also „die Transparenz steigern“, „Basel II verfeinern“, „die Einlagensicherung reformieren“, „Ratingagenturen regulieren“ oder „den geldpolitischen Handlungsrahmen“ anpassen. Mit der Kopfspalte stoßen diese Ratschläge auf drei Komplexe von Grundsatzfragen der Stabilisierung, nämlich:
- auf Grundsatzfragen im Bereich der Regulierung,
- auf den Fragenkomplex zum institutionellen Gefüge für die Finanzstabilität und
- schließlich auf die Grundsatzfragen im Bereich der Prozyklizität.
Um es ganz deutlich zu sagen, ist mir bei der Konfrontation der Einzelthemen mit den Grundsatzfragen erneut sehr klar geworden, dass eine dauerhafte Stabilisierung des Finanzsystems einen ganzheitlichen, systemorientierten Politikansatz erfordert. Er fußt auf der institutsorientierten Bankenaufsicht, geht aber zugleich über sie hinaus.
Lassen Sie mich mit den Grundsatzfragen im Bereich der Regulierung beginnen.
I Grundsatzfragen im Bereich der Regulierung
Zugespitzt formuliert geht es bei Grundsatzfragen im Bereich der Regulierung um die Spannung zwischen den Polen Selbstregulierung auf der einen Seite und hoheitlicher Regulierung auf der anderen. Wo also sind einerseits Marktlösungen möglich und wo ist andererseits eine hoheitliche Regulierung erforderlich? Dabei ist zugleich zu fragen, auf welcher politischen Ebene diese Grundsatzentscheidung getroffen werden soll. Ist es die nationale, die europäische oder die internationale Ebene? Damit bekommt das Spannungsfeld zwischen Selbstregulierung und hoheitlicher Regulierung eine schwierige zusätzliche Dimension. Ich komme darauf gleich noch einmal zurück.
Lassen Sie mich zuvor aber erst einmal unterstreichen, dass in einem marktwirtschaftlichen System zunächst Ansätze einer Selbstregulierung naheliegen. Vereinfacht formuliert setzt der Staat hier vor allem darauf, dass die Marktteilnehmer erstens selbst Standards aufstellen, zweitens sich zur Einhaltung dieser Standards verpflichten und drittens eine effektive Kontrolle der Einhaltung organisieren. Nun brauche ich vor dem aktuellen Hintergrund wohl auch nicht besonders zu betonen, dass wir mit Blick auf die notwendige Stabilität des Finanzsystems keineswegs generell auf die Selbstregulierung vertrauen können. Zur Marktwirtschaft gehört auch eine hoheitliche Regulierung, die das Finanzsystem „ordnet“.
Ich bin der Auffassung, dass eine hoheitliche Regulierung vor allem dann angezeigt ist, wenn sich die Marktteilnehmer keine wirksamen Regeln setzen können oder setzen wollen bzw. wenn aus übergeordneten Gründen die Ordnungsbefugnis des Staates greifen muss. Die Bankenaufsicht ist dafür ein wichtiges Beispiel: Banken haben ja nicht nur eine zentrale Stellung im Finanzsystem und damit in der Volkswirtschaft insgesamt. Vielmehr haben sie auch einen - allerdings konditionierten - Zugang zu Notenbankgeld, so dass sich eine Selbstregulierung nach einhelliger Meinung verbietet.
Mit einer Grundsatzentscheidung zu Gunsten einer hoheitlichen Regulierung in der Bankenaufsicht ist aber noch längst nicht geklärt, ob diese Regulierung unbedingt detaillierten und präskriptiven Regeln folgen muss. Vielmehr kann Regulierung auch prinzipienorientiert gestaltet werden. In diesem Fall verlangt der Staat von den Marktteilnehmern, dass sie bei ihren Geschäften bestimmte Prinzipien einhalten, wobei er deren Einhaltung kontrolliert. Dieser Ansatz ist also mit einem schlichten Laissez-Faire nicht zu verwechseln. Er stellt vielmehr hohe Ansprüche an alle Beteiligten. Vor allem setzt eine prinzipienorientierte Regulierung ein gemeinsames Verständnis der aufsichtlichen Ziele zwischen Aufsicht und Beaufsichtigten voraus.
Wenn ich mich nun mit diesen Grundsätzen Basel II, also dem seit Januar für unsere Banken gültigen Regulierungsrahmen, nähere, stoße ich auf beides: auf Regeln einerseits und auf prinzipienorientierte Vorschriften mit Freiräumen andererseits. So ist in Säule 1 von Basel II klar geregelt, wie viel Eigenkapital für welche Kreditrisiken vorzuhalten ist. Und ich füge aus der Sicht der Bundesbank hinzu, dass diese Regeln aufgrund der Erfahrungen aus den Finanzmarktturbulenzen partiell verfeinert werden sollten. Wir sind unter anderem für eine höhere Eigenkapitalunterlegung für Kreditverbriefungen ab der zweiten Stufe. Dazu gehören zum Beispiel CDOs auf Asset Backed Securities. Daneben treten wir auch für höhere Kapitalanforderungen für Kreditrisiken im Handelsbuch und für einige Anpassungen im Bereich der Verbriefungs-Liquiditätsfazilitäten ein.
In der Säule 2 von Basel II finden sich u. a. qualitative Anforderungen an das Risikomanagement in Finanzinstituten, die für Deutschland mit den prinzipienbasierten Mindestanforderungen an das Risikomanagement, den MaRisk, konkretisiert worden sind. Auch die Offenlegungspflichten in Säule 3 fallen in die Kategorie einer prinzipienorientierten Regulierung. Sie lassen den Kreditinstituten Freiraum bei der Ausgestaltung der Art und des Umfangs der Informationsbereitstellung.
All dies zeigt meines Erachtens, dass „Regeln oder Prinzipien“ zwar eine Grundsatzentscheidung hoheitlicher Regulierung darstellt, aber nicht unbedingt eine Entweder-oder-Entscheidung. Vielleicht erklärt sich auch so, dass wir in der Realität regelmäßig auf eine Kombination von festen Regeln und Flexibilität bietenden Prinzipien treffen. Nach meiner Auffassung dürfte den Anforderungen eines stabilen Finanzsystems damit nach heutigem Verständnis insgesamt am besten gedient sein. Ich sehe aber eine Diskussion auf uns zukommen, in der die Flexibilität der zweiten Säule von Basel II durch ergänzende Vorschriften zumindest partiell in Frage gestellt wird. Davor würde ich warnen.
Wie Sie aber wissen, meine Damen und Herren, stellen sich die Grundsatzfragen der Regulierung zur Stabilisierung des Finanzsystems nicht nur in der Bankenaufsicht, sondern zum Beispiel auch beim Verbriefungsgeschäft und bei den Hedgefonds sowie ganz besonders drängend bei den Ratingagenturen.
Für die Ratingagenturen besteht in den USA eine Registrierungspflicht bei der SEC. Darüber hinaus ist auch zu berücksichtigen, dass Basel II bei der Einstufung der Kreditforderungen in Risikokategorien auf Ratings zurückgreift; daher gibt es in Europa ein Verfahren, mit dem Agenturen für die Verwendung ihrer Ratingurteile bei der Ermittlung des Mindesteigenkapitals einer Bank zugelassen werden.
Nach den Erfahrungen mit Ratings in der jüngsten Finanzkrise wird die gegenwärtige Praxis mit einem nur unverbindlichen Verhaltenskodex der IOSCO weithin als reformbedürftig angesehen. Auch die Ratingagenturen selbst sind dabei, ihre internen Verfahren und ihre Ratingmethoden zu überarbeiten.
Und es kommt hinzu, dass der europäische Ausschuss der Wertpapierregulierer, CESR, schon im Mai die Einrichtung eines so genannten internationalen „Standard Setting and Monitoring Body“ bei der IOSCO vorgeschlagen hat, in dem die Agenturen gemeinsam mit den Regulierern Standards aufstellen sollen. Deren Einhaltung sollte dann von diesem SSMB - allerdings ohne Beteiligung der Agenturen – kontrolliert werden. Dieser Ansatz liefe praktisch auf eine Lösung zwischen Selbstregulierung und hoheitlicher Regulierung hinaus.
Nun hat die EU Kommission - wie Sie wissen - einen Vorschlag zur Konsultation gestellt, der ein Genehmigungsverfahren und die Beaufsichtigung von Ratingagenturen, also eine hoheitliche Regulierung, vorsieht. Dazu möchte ich drei grundsätzliche Anmerkungen machen:
Erstens ist zunächst alles zu unternehmen, damit Lösungen auf der europäischen Ebene im Einklang mit einem Level Playing Field auf der internationalen Ebene stehen. Dreh- und Angelpunkt sollte hier der IOSCO Verhaltenskodex sein, weil alles andere zu Wettbewerbsnachteilen in Europa führen könnte.
Zweitens ist die Selbstverantwortung der Investoren bei der Nutzung von Ratings zu betonen. Eine EU-Registrierung darf nicht dazu führen, dass der „Stempel aus Brüssel“ als Qualitätssiegel für einzelne Ratingurteile gedeutet wird.
Drittens müsste ein EU-Registrierungsverfahren dezentral angelegt sein; insbesondere darf keine neue Behörde geschaffen werden. Das Basel II-Zulassungsverfahren ist hier ein guter Referenzpunkt.
Mit dieser Anmerkung bin ich jetzt im Grunde genommen auch schon bei der Grundsatzfrage nach der geeigneten hoheitlichen Ebene für die Regulierung angekommen. Es konkurrieren nationale und internationale Regelungen, wobei eben in Europa mit der Regulierung auf EU-Ebene noch ein dritter Weg existiert. Je dezentraler die Regulierung, desto besser kann sie den Charakteristika des jeweiligen Finanzsystems angepasst werden. Je zentraler die Regulierung aber ist, desto eher herrschen gleiche Regulierungsbedingungen.
Einlagensicherungssysteme sind ein gutes Beispiel dafür, wie das Spannungsverhältnis zwischen nationaler und grenzüberschreitender Regulierung gelöst werden kann. In Europa haben wir mit der Richtlinie für die Einlagensicherung eine Mindestharmonisierung. In Deutschland existieren neben dieser gesetzlichen Einlagensicherung auf dem europäischen Mindestniveau zusätzliche private Sicherungssysteme der verschiedenen Bankengruppen.
Die EU Kommission erwägt nicht zuletzt unter dem Eindruck des Bank Run auf Northern Rock im vergangenen Sommer eine Überarbeitung der Einlagensicherungsrichtlinie. Sie strebt dabei einen höheren Grad an Harmonisierung an. Insbesondere geht es dabei um ein höheres Mindest-Sicherungsniveau und die Abschaffung des Selbstbehalts. Nach derzeitigem Diskussionsstand in der EU bliebe demnach das Subsidiaritätsprinzip grundsätzlich erhalten. Darauf legen wir in der Bundesbank großen Wert. Die Einlagensicherung muss den Besonderheiten der nationalen Bankensysteme entsprechen.
II Institutionelle Grundsatzfragen
Mit der Kompetenzverteilung zwischen den hoheitlichen Regulierungsebenen bin ich in meiner Matrix schon ganz nah an dem zweiten Komplex der Grundsatzfragen. Ich möchte jetzt über einige institutionelle Grundsatzfragen zur Stabilisierung des Finanzsystems sprechen. Ich tue dies, weil mir während der Finanzkrise so deutlich wie nie zuvor klar geworden ist, was es heißt, wenn auf englisch gesagt wird „institutions matter“. Mir geht es also um das institutionelle Gefüge für die monetäre, die aufsichtliche und die regulatorische Infrastruktur.
In den USA sind die Governance-Schwächen im Finanzsystem in der Krise offenkundig geworden, wobei sich gleichzeitig zwei große Herausforderungen stellen. Die erste Herausforderung ergibt sich aus der zersplitterten Struktur der Finanzaufsicht. Zum Teil müssen aber auch ganz neue institutionelle Einrichtungen geschaffen, also Institutionen aufgebaut werden.
Das amerikanische Finanzministerium hat mit seiner „Blueprint“ inzwischen ein ambitioniertes, aber in sich durchaus schlüssiges Gesamtkonzept für eine längerfristige Reform der Finanzaufsicht vorgelegt. Es sieht ein von Grund auf erneuertes Institutionengefüge mit einem komplett veränderten Aufgabenzuschnitt vor. Einen besonders wichtigen Aspekt dieses Entwurfs sehe ich darin, dass mit der Fed als „Market Stability Regulator“ erstmals eine primär makroorientierte Perspektive auf das Finanzsystem institutionalisiert würde. Ich bin gespannt, wie diese Diskussion weitergeht.
Mit Blick auf die zweite institutionelle Herausforderung in den USA, nämlich die Überarbeitung des geldpolitischen Instrumentariums, ist auch bereits viel geschehen. Die amerikanische Notenbank war für den liquiditätspolitischen Handlungsbedarf, der während der Subprime-Krise entstand, instrumentell zunächst weniger gut gerüstet. Sie hat sich aber in der Krise sehr schnell gut funktionierende Instrumente geschaffen.
Wenn ich mir nun das institutionelle Gefüge für die Finanzstabilität in Deutschland bzw. im Eurosystem ansehe, dann möchte ich unter anderem die Synergieeffekte zwischen der operativen Geldmarktsteuerung und der Bankenaufsicht betonen. Die Finanzmarktturbulenzen haben uns ganz deutlich gezeigt, dass diese Synergieeffekte tatsächlich sehr groß sein können. Da die Bundesbank eng in die Bankenaufsicht eingebunden ist, konnten wir diese Synergieeffekte auch voll ausschöpfen. Unsere Überlegungen zum zeitlichen Profil der Liquiditätsbereitstellung und damit unsere Haltung im Eurosystem profitierten von allgemeinen Informationen aus der Bankenaufsicht. Umgekehrt sind die im Kontakt mit der Kreditwirtschaft bei der praktischen Durchführung des Refinanzierungsgeschäfts und im Zahlungsverkehr gewonnenen Einsichten für die Bankenaufsicht hilfreich.
Diese Synergieeffekte haben ganz sicher dazu beigetragen, dass das Eurosystem frühzeitig, entschieden und erfolgreich gegensteuern konnten, als die Verteilung der Liquidität unter den Banken nicht mehr wie üblich funktionierte. Bei der Kompetenzverteilung zwischen den Institutionen ist also eine enge Einbindung der nationalen Zentralbanken in die Bankenaufsicht sinnvoll.
Und natürlich füge ich ergänzend gern hinzu, dass der Erfolg der Notenbankoperationen seit August 2007 gewiss nicht nur auf die gut funktionierende Arbeitsteilung zwischen verschiedenen Institutionen zurückzuführen ist. Vielmehr hat auch der geldpolitische Handlungsrahmen des Eurosystems maßgeblich dazu beigetragen. Offen gesagt war ich mir nicht ganz sicher, dass es dem Eurosystem in der Krise so gut gelingen würde, zwischen dem generellen geldpolitischen Kurs und der Liquiditätshilfe für den zeitweise recht trockenen Geldmarkt zu unterscheiden. Aber die EZB hat dies hervorragend geschafft.
Wie ich aus eigener Anschauung, aber ohne aus dem Nähkästchen zu plaudern, berichten kann, hat das Eurosystem in den internationalen Institutionen und Gremien, die sich intensiv mit der Finanzkrise und den daraus zu ziehenden Lehren und Konsequenzen befassen, große Anerkennung gefunden. Eine zentrale Rolle in diesem institutionellen Gremiengefüge spielt das Financial Stability Forum, das unser früherer Bundesbankpräsident Hans Tietmeyer in weiser Voraussicht 1999 im Kreis der G7 auf den Weg gebracht hat. Das FSF hat sich in der Krise als Gremium der informellen Zusammenarbeit zwischen nationalen Stellen, internationalen Organisationen und Standardsetzern bestens bewährt. Der im FSF im Konsens verabschiedete Empfehlungskatalog steht jetzt ganz im Zentrum der internationalen Antwort auf die Turbulenzen. Die Empfehlungen werden sukzessive abgearbeitet. In gut drei Wochen wird dazu ein Fortschrittsbericht erscheinen.
Gleichwohl überrascht es gewiss nicht, dass die internationale Governance des Finanzsystems – wie nach jeder globalen Krise - auch jetzt wieder auf dem Prüfstand steht. Wenn wir an Veränderungen denken, dann sollten wir meines Erachtens diejenigen institutionellen Strukturen stärken, die während der Finanzmarktturbulenzen gut funktioniert haben. Das heißt für mich in erster Linie, dass das FSF auch in Zukunft eine zentrale Rolle in der Verantwortung für die Finanzstabilität spielen sollte. Aufgrund seines weitgespannten Mitgliederkreises aus Zentralbanken, Finanzministerien, Aufsehern, Regulierern und internationalen Institutionen gehört die ganzheitliche oder holistische Beurteilung des Finanzsystems zu den zentralen Stärken des FSF.
Der Internationale Währungsfonds sollte sich im FSF mit ganzer Kraft einbringen, vor allem mit einer intensiven Analyse der Wechselwirkungen zwischen dem Finanzsystem und der Realwirtschaft. Für die Analyse dieser Wechselwirkungen kann der IWF auf jahrzehntelange Erfahrungen in Artikel IV-Konsultationen und eine Dekade von Beurteilungen des Finanzsektors [FSAP] zurückgreifen. Er bringt also nahezu ideale Voraussetzungen dafür mit. Für zusätzliche Finanzierungsfazilitäten beim IWF, die ihn ganz in die Nähe von Notenbankaufgaben brächten, sehe ich aber trotz der Finanzkrise keine überzeugenden Gründe.
III Grundsatzfragen der Prozyklizität
Lassen Sie mich nun, meine Damen und Herren, nach der Skizzierung einiger Grundsatzfragen im Bereich der Regulierung und des institutionellen Gefüges zur Sicherung der Stabilität im Finanzsystem auf meine dritte Grundsatzfrage kommen. Sie steht international ganz oben auf der Tagesordnung. Und sie wird nach meiner Einschätzung auch noch lange in der Diskussion bleiben. Mario Draghi, der Gouverneur der italienischen Notenbank, hat dies gestern abend bei unserer Bundesbank Lecture in Berlin sehr deutlich gemacht. Im Kern geht es um die Frage, ob das regulatorische Rahmenwerk für das Finanzsystem, aber auch die Vorschriften für die Rechnungslegung, prozyklisch wirken. Und wenn ja, was dagegen zu tun ist.
Zur Reduktion der Komplexität lege ich den Begriff Prozyklizität hier einmal recht eng aus, nämlich als eine Verstärkung der natürlichen Zyklik des Finanzsystems. Prozyklische Politik und prozyklische Elemente der Regulierung würden die natürlichen Auf- und Abschwünge des Finanzsystems verstärken. Wenn das zu Boom-Bust-Zyklen führt, ist die Funktionsfähigkeit des Finanzsystems gefährdet.
Natürlich ist im Umgang mit der Thematik der Prozyklizität große Vorsicht geboten, weil wir über die zyklischen Wirkungen regulatorischer Vorschriften noch nicht genügend wissen. Hinzu kommt, dass auch die möglichen Mittel gegen eine eventuelle Prozyklizität noch nicht im Detail erforscht und erprobt sind, wie z.B. Komponenten, die die Prozyklizität dämpfen oder sogar eingebaute Stabilisatoren im regulatorischen Rahmenwerk, die antizyklisch wirken. Mein Anliegen ist heute also ganz bescheiden. Ich möchte lediglich Ihre Sensibilität für all die Fragen, die sich um die These der Prozyklizität des regulatorischen Rahmenwerks ranken, noch weiter erhöhen.
Um nicht missverstanden zu werden, will ich jetzt aber doch noch einmal hervorheben, dass das regulatorische Rahmenwerk mit den risikosensitiven Mindesteigenkapital-Anforderungen unter Basel II und die Rechnungslegung mit der Zeitwertbilanzierung unter IRFS (bzw. US GAAP) zyklische Elemente enthalten. Inwieweit diese eingebauten zyklischen Elemente auch prozyklisches Potential entfalten können, ist jedoch unklar. Andere Experten argumentieren wiederum, dass die Zyklizität dieser beiden Rahmenwerke ein Nebeneffekt ihrer gewünschten Eigenschaften sei. Die potentielle Prozyklizität sei bewusst in Kauf genommen worden, um die Eigenkapitalanforderungen risikosensitiv und die Bewertung marktnah zu gestalten. Und genauso wie Sie, kenne auch ich aus dieser Diskussion die These, die traditionelle Mikrosicht der Regulierung habe die Oberhand über die Makrosicht oder die Systemsicht behalten.
Unbestritten ist bei alldem, dass die risikosensitiven Mindesteigenkapital-Anforderungen unter Basel II auf Ausfallwahrscheinlichkeiten basieren, die über den Konjunkturzyklus schwanken. Im Abschwung steigen die Ausfallwahrscheinlichkeiten und mit ihnen die Mindesteigenkapital-Anforderungen. Nun hat man aber in Basel II Puffer eingebaut, die das prozyklische Potential dämpfen sollen: Zum Beispiel sollen langfristige Durchschnitte für die Ausfallwahrscheinlichkeiten verwendet werden und die zugeordneten Verlustquoten auch Szenarien eines potenziellen wirtschaftlichen Abschwungs berücksichtigen.
Unklar ist bislang – und wie könnte dies so kurz nach der Einführung von Basel II überhaupt anders sein? –, ob die zyklischen Schwankungen der Mindesteigenkapital-Anforderungen tatsächlich auf die Kreditvergabebereitschaft durchschlagen, also wirklich eine prozyklische Wirkung entfalten. Inwieweit dies geschieht, hängt von vielen Faktoren ab, zum Beispiel von der Größe der über die regulatorische Mindestanforderung hinaus bestehenden Eigenkapitalpuffer, von der Bereitschaft der Banken, diese Puffer auch atmen zu lassen, und natürlich auch von der Nutzung von Alternativen, etwa einer zusätzlichen Kapitalaufnahme. Hinzu kommt, dass nicht alle Schwankungen der tatsächlichen Kreditvergabe auf die Angebotsseite zurückzuführen sind; auch die Nachfrage kann im Verlauf eines Konjunkturzyklus erheblich schwanken.
Darüber hinaus gehört zu meinem vorsichtigen Umgang mit der Frage nach der Prozyklizität, das empirischen Untersuchungen, die den Einfluss der risikosensitiven Mindesteigenkapital-Anforderungen thematisieren möchten, auf längere Zeitreihen angewiesen sind. Weniger als ein Jahr nach der Einführung von Basel II in Deutschland ist die Datenbasis aber noch sehr schmal. Eine genaue Beurteilung, ob die Mindesteigenkapital-Anforderungen bindend werden und damit prozyklisch wirken, ist noch nicht möglich. Schnellschüsse wie etwa die generelle Einführung zusätzlicher, pauschaler Eigenkapitalpuffer über Säule 2 sind aus unserer Sicht daher nicht angezeigt.
Angezeigt ist vielmehr eine aufmerksame Beobachtung der Entwicklung und eine sorgfältige Auswertung der anfallenden Daten. Es geht darum, zunächst ein vertieftes Verständnis der komplexen Mechanismen der Kapitalsteuerung der Banken und des Einflusses von Basel II über einen angemessenen Zeitraum hinweg zu gewinnen. Die Bankenaufseher arbeiten daran sehr intensiv. Mit ihren, aber auch anderen Erkenntnissen lassen sich dann systemische Effekte der aufsichtlichen Anforderungen beurteilen. Soweit prozyklische Effekte in nennenswertem Umfang bestehen, sind sie in einem systemorientierten Aufsichtsansatz dann aber auch zu berücksichtigen.
Nun habe ich eben ja bereits angedeutet, dass die Grundsatzfragen zur Prozyklizität auch um die Rechnungslegung kreisen. Die Bilanzierung zu Zeitwerten führt dazu, dass die Bewertungen mit den Marktpreisen schwanken. Die Finanzmarktturbulenzen sind dadurch offenbar deutlich verstärkt worden. Kursverluste führen bei einer Mark-to-market-Bewertung der Papiere zu sinkenden Vermögenswerten, legen den Abbau von Risikopositionen nahe und können so eine weitere Verkaufswelle auslösen. Computergesteuerte Verfahren zur automatischen Verlustbegrenzung können diese Prozyklizität noch verstärken. Umgekehrt ermöglichen steigende Vermögenswerte in Aufschwungphasen zusätzliche Anlagen, die die Marktpreise weiter in die Höhe treiben können.
Allerdings hat die Bankenaufsicht mit so genannten prudenziellen Filtern dafür gesorgt, dass diese Schwankungen der Bilanzansätze nicht voll auf das regulatorische Eigenkapital durchschlagen. Damit wird der Zusammenhang aus sinkenden Marktpreisen für Vermögenswerte, rückläufigen Eigenmitteln und eingeschränkter Kreditvergabefähigkeit im Abschwung gedämpft; in Aufschwungphasen gilt dies spiegelbildlich. Dieser bankaufsichtliche Korrekturmechanismus begrenzt also einen Teil der Wirkungen zeitwertbasierter Rechnungslegung, nämlich die Wirkung auf das potentielle Kreditangebot.
Ich kann mir jetzt sehr gut vorstellen, meine Damen und Herren, dass Sie von mir erwarten, dass ich bei den Grundsatzfragen zur Prozyklizität auch auf die Geldpolitik eingehe. Dazu will ich aber lediglich zwei ganz knappe Aussagen treffen. Erstens plädiere ich auf der Zielebene der Notenbank für ein duales Mandat. Zusätzlich zur Sicherung der Preisstabilität umfasst es auch das Ziel der Stabilität des Finanzsystems. Und zweitens möchte ich unterstreichen, dass auf der analytischen und operativen Ebene gerade wegen dieses dualen Mandats den monetären Aggregaten und der Kreditentwicklung ein besonderer Rang einzuräumen ist. Das klingt Ihnen bestimmt vertraut, aber für mich ist diese Aussage auch eine der zentralen Lehren aus der Finanzkrise.
IV Schluss
Meine Damen und Herren,
lassen Sie mich zum Schluss noch einmal an den Anfang zurückkehren. Nach gut einem Jahr Finanzmarktturbulenzen und den Erfahrungen in den letzten Tagen bin ich fest davon überzeugt, dass sich die Stabilisierung des Finanzsystems nicht allein im Abarbeiten der Handlungsempfehlungen auf den To-Do-Listen erschöpfen kann, so gut und richtig diese auch sind. Eine dauerhafte Stabilisierung des Finanzsystems erfordert vielmehr einen holistischen Politikansatz, der die mikroprudenzielle Basis – also die Sicht auf die einzelnen Institute – mit der makroprudenziellen Sicht verknüpft und der zugleich die gesamtwirtschaftlichen Hintergründe sowie die Entwicklung auf den Finanzmärkten integriert.
Diesen ganzheitlichen Ansatz zu realisieren, ist bestimmt keine leichte Aufgabe. Aber ich halte ihn für den richtigen Weg, um zu einer dauerhaften Stabilisierung des Finanzsystems zu gelangen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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