Kommentar
12:26 Uhr, 11.05.2023

Großbritannien als Vorbild für Europa

Vorbild ist vielleicht nicht das erste Wort, welches einem in den Sinn kommt, wenn man an die britische Wirtschaft denkt. Genauso ist es aber.

Das Vorbild ist dabei nicht als Kompliment zu verstehen, sondern als das, was anderen Ländern in Europa, aber auch in Nordamerika, bevorstehen dürfte. Es ist eine der ungünstigsten Mischungen an Umständen, die man sich vorstellen kann.

Zunächst ist da die Inflation. Diese ist nach wie vor hoch und steht, wenn auch nur knapp, im zweistelligen Bereich. Die Trendwende nach unten erfolgt nur allmählich. Gleichzeitig steigen die Löhne, aber nicht schnell genug, um die Inflation auszugleichen (Grafik 1). Das Lohnwachstum beschleunigte sich zuletzt wieder. Das wiederum ruft die Notenbank auf den Plan.


Im Gegensatz zu vielen anderen Notenbanken ist die Bank of England (BoE) keine Diplomatin. Der Notenbankchef sorgte zuletzt für eine Kontroverse. Er empfahl den Briten, sich damit abzufinden, dass sie ärmer sind. Das ist nichts anderes als die Empfehlung, Lohnwachstum unterhalb der Inflationsrate zu akzeptieren.

Steigen die Löhne langsamer als die Preise, ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Inflation deutlich zurückgeht. Wer einen immer geringeren Reallohn hat, kann sich weniger leisten. Die Empfehlung, dies einfach zu akzeptieren, erhitzte verständlicherweise die Gemüter.

Die BoE sieht sich mit nach wie vor hoher Inflation und überraschend hohem Lohnwachstum konfrontiert. Dies geschieht in einem Umfeld, in dem der Arbeitsmarkt dreht. Die Arbeitslosenrate steigt langsam an. Die Anträge auf Arbeitslosenhilfe steigen ebenfalls. Die Anzahl offener Stellen fällt (Grafik 2).


Höheres Lohnwachstum bei abkühlendem Arbeitsmarkt, das erlebt man selten. Noch seltener erlebt man es, wenn gleichzeitig auch noch die Wirtschaftsleistung stagniert. Das tut sie seit fast einem Jahr auf Vor-Corona-Niveau. Der Wachstumstrend ist weit unterschritten und nicht mehr in Reichweite (Grafik 3).

Die Wirtschaft stagniert, die Inflation ist hoch, der Arbeitsmarkt dreht, die Löhne steigen – es ist wirklich eine spannende Mischung. Weshalb die Löhne trotz widriger Umstände steigen, lässt sich erklären. Es wird gestreikt wie lange nicht bzw. wie noch nie. Daten zu Arbeitsniederlegungen gibt es seit 1931. Noch nie wurde die Arbeit gleichzeitig so häufig niedergelegt wie jetzt (Grafik 4).

Großbritannien zeigt, was anderen Ländern blühen könnte. Menschen wollen sich zurecht nicht mit einem sinkenden Lebensstandard abfinden und gehen auf die Straße. Aus Sicht der Notenbank verzögert dies die Normalisierung der Inflationsrate. Indem gegengesteuert wird, verlängert sich die wirtschaftliche Stagnation.

Die Mischung hat einen Namen: Stagflation.

Clemens Schmale

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Über den Experten

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Clemens Schmale
Finanzmarktanalyst

Clemens Schmale hat seinen persönlichen Handelsstil seit den 1990er Jahren an der Börse entwickelt.

Dieser gründet auf zwei Säulen: ein anderer Analyseansatz und andere Basiswerte. Mit anders ist vor allem die Kombination aus Global Makro, fundamentaler Analyse und Chartanalyse sowie Zukunftstrends gemeint. Während Fundamentaldaten und Makrotrends bestimmen, was konkret gehandelt wird, verlässt sich Schmale beim Timing auf die Chartanalyse. Er handelt alle Anlageklassen, wobei er sich größtenteils auf Werte konzentriert, die nicht „Mainstream“ sind. Diese Märkte sind weniger effizient als andere und ermöglichen so hohes Renditepotenzial. Sie sind damit allerdings auch spekulativer als hochliquide Märkte. Die Haltedauer einzelner Positionen variiert nach Anlageklasse, beträgt jedoch meist mehrere Tage, oft auch Wochen oder Monate.

Rohstoffe, Währungen und Volatilität handelt er aktiv, in Aktien und Anleihen investiert er eher langfristig. Die Basiswerte werden direkt – auch über Futures – oder über CFDs gehandelt, in Ausnahmefällen über Optionen und Zertifikate.

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