GB: Zinssenkungen erwartet
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Den Umfragen zufolge wird nach den Unterhauswahlen alles anders sein. Auch wenn Investoren Labours Wirtschaftspolitik nicht unbedingt schätzen, dürften sie ein Ende des politischen Chaos der letzten Jahre begrüßen. Britischen Aktien könnte das guttun. Sie sind günstig und in vielen Portfolios unterrepräsentiert. Für die Unternehmensgewinne sind die Analysten optimistisch, und auch Zinssenkungen dürften helfen. Aktien sind billig, das Pfund ist billig und nur ein kleiner Teil der weltweiten Marktkapitalisierung entfällt auf das Vereinigte Königreich. Boris Johnson und die kurzlebige Regierung Truss sind Geschichte. Der Brexit macht Platz für andere Themen. Statt über Flüchtlingsboote und Ruanda spricht man wieder über Klimawandel und Energiepolitik, über Investitionen und flexiblere Handelsbeziehungen zur EU. Freuen wir uns auf Veränderungen.
Wandel: 2024 ist ganz anders als 1997, als Labour zum bislang letzten Mal die Unterhauswahlen gewann. Der Dritte Golfkrieg und die Finanzkrise lagen noch vor uns. Man hörte Oasis. Es gab keine sozialen Netzwerke (ist das vorstellbar?), und wer im Internet surfen wollte, brauchte America Online (später AOL) oder Netscape. Nur eines war gleich: der überwältigende Wunsch nach Wandel. 1997 regierten die Konservativen seit 18, heute seit 14 Jahren. Demokratie heißt Machtwechsel, wenn die Wähler von der amtierenden Regierung genug haben. Soll es doch jemand anders versuchen. Das ist der Zeitgeist. Den Umfragen zufolge ist nach dem 4. Juli nichts mehr wie vorher. Eine aktuelle YouGov-Umfrage prognostiziert 46 Prozent für Labour und nur 21 Prozent für die Tories. Keir Starmer hätte dann eine Mehrheit von 194 Sitzen – ein historischer Sieg und die größte politische Umwälzung seit einer Generation.
Abwärtsspirale: In den Umfragen der letzten zwölf Monate lag Labour zwischen 40 Prozent und 50 Prozent, und für die Konservativen wurden 20 Prozent bis 30 Prozent in Aussicht gestellt. Umfragen müssen zwar nicht stimmen, aber völlig falsch liegen sie selten. Dass jetzt auch noch Nigel Farage den Vorsitz von Reform UK übernommen hat und zur Wahl antritt, ist ein weiterer Tiefschlag für die Tories. Reform UK wird wohl nur einen Wahlkreis gewinnen – Farages eigenen –, könnte den Konservativen aber Stimmen von Wählern abnehmen, die beispielsweise mit der Einwanderungspolitik unzufrieden sind. In dem einen oder anderen knappen Wahlkreis könnte das Labour oder auch einer anderen Partei zum Sieg verhelfen. Vielleicht gewinnen die Konservativen so wenige Sitze wie nie zuvor, und vielleicht steht der Partei ein existenzbedrohender Streit bevor zwischen den traditionellen, paternalistischen One-Nation-Tories und dem populistischen Flügel, der mit Nigel Farage sympathisiert.
Keine Haushaltsschocks: Fast alles spricht daher für Labour. Weniger klar ist aber, was das für die Politik bedeutet. In der Fernsehdiskussion mit Rishi Sunak am 4. Juni hat Starmer Einkommens- und Mehrwertsteuererhöhungen ausgeschlossen. Staatliche Leistungen und Investitionen müssten genau budgetiert und vernünftig finanziert werden. Das soll natürlich heißen, dass Labour – anders als man seiner Partei gerne unterstellt – keine steuerfinanzierten Mehrausgaben plant. Manche werden sicher höhere Steuern zahlen müssen, Ausländer etwa sowie Öl- und Gasunternehmen, und wahrscheinlich werden auch Mehrwertsteuerermäßigungen für Privatschulen abgeschafft. Aber beim Gesamtetat fällt das nicht wirklich ins Gewicht. Labour scheut sich nicht, mit der Finanzpolitik der Konservativen Wahlkampf zu machen – der insgesamt gestiegenen Steuerlast und dem katastrophalen Nachtragshaushalt von September 2022. Mit dem Versprechen einer stabilen Fiskalpolitik will sich Labour klar von der Politik der Konservativen in den letzten Jahren abgrenzen.
Für den britischen Zinsausblick sind die Entscheidungen der Bank of England aber wichtiger als das Wahlergebnis. Langfristig muss jede neue Regierung mit strukturellen Haushaltsproblemen fertig werden, eine Folge des immer größeren Finanzbedarfs des National Health Service, der Demografie und der immer zahlreicheren Empfänger von Kranken- und Invaliditätsgeld. Bis zum 4. Juli wird man darüber aber wohl nicht mehr viel hören.
Langweilig ist cool: Ich glaube, dass viele Anleger Großbritannien wohlwollender und alles in allem positiver einschätzen werden. Nach den Wahlen wird man das (finanz-)politische Chaos der letzten Jahre vergessen. Eine neue Regierung ist keine Garantie für Stabilität, aber Keir Starmer strahlt eine gewisse Langeweile aus. Das muss nicht schlecht sein, vor allem im Vergleich zu 2020, als Jeremy Corbyn eine sehr viel linkere Labour Party anführte. Langeweile kann gut sein, wenn sie Stabilität bedeutet und der Populismus endlich ein Ende hat. Unternehmen wissen das zu schätzen.
Mehr Berechenbarkeit für Unternehmen: Wünschenswert ist mehr Berechenbarkeit vor allem in der Klima-, Energie- und Europapolitik. Eine ernsthafte Netto-Null-Strategie könnte britische Unternehmen zu mehr grünen Investitionen veranlassen, etwa beim Bau, im Verkehrswesen und im Energiesektor. Mehr Unterstützung für die Erneuerbaren dürfte irgendwann die Energiesicherheit verbessern und die Kosten senken. Wenn die Beziehungen zur Europäischen Union in Teilen neu verhandelt werden, wäre das gut für kleine und mittlere Unternehmen, die in den letzten Jahren unter immer mehr Bürokratie litten. Wenn Labour dann auch noch die Einwanderung besser steuert, könnten das Arbeitskräfteangebot steigen, der Wohnungsmangel nachlassen und das Gesundheits- und Bildungssystem entlastet werden.
Britische Aktien: Viel ist noch offen. Dennoch könnten sich Anleger bei einem stabileren politischen Umfeld wieder mehr für britische Titel erwärmen. Der Mid-Cap-Index FTSE 250 enthält die meisten binnenorientierten britischen Aktien. In den letzten 25 Jahren lag er mit einem annualisierten Ertrag von 8,3 Prozent vor dem Large-Cap-Index FTSE 100 mit 4,8 Prozent (dessen Mitglieder ihre Umsätze vor allem außerhalb Großbritanniens erzielen). Natürlich war der FTSE 250 volatiler, doch waren seine risikoadjustierten Erträge langfristig attraktiv. Seit dem Brexit fiel er aber hinter den FTSE 100 zurück. Stand Ende Mai betrug sein 3-Jahres-Gesamtertrag kaum mehr als null, gegenüber 9,7 Prozent beim FTSE 100.
Billig: Durch diesen Minderertrag haben sich die Bewertungen verbessert. Auf Basis der erwarteten 12-Monats-Gewinne beträgt das KGV des Mid-Cap-Index zurzeit 11,7, etwas unter dem 3-Jahres-Durchschnitt. Die Kurs-Gewinn-Verhältnisse der meisten anderen Aktienindizes sind in den letzten Jahren hingegen gestiegen. Erfreulich ist, dass die Analysten zurzeit mit einem hohen Gewinnwachstum rechnen. Für die nächsten zwölf Monate beträgt die Konsensprognose fast 20 Prozent Anstieg gegenüber nur 5 Prozent beim FTSE 100, was sich allmählich auch in der Performance zeigt: In den drei Monaten bis zum Handelsschluss am 4. Juni verzeichneten alle großen britischen Aktienmärkte etwa 9 Prozent Gesamtertrag. Beim Mid-Cap-Index streuen die Erträge aber stark, was gut für aktive Manager ist. Seit Jahresbeginn hat die erfolgreichste Aktie des FTSE 250 um 167 Prozent zugelegt, die schwächste aber 50 Prozent verloren. Der Medianertrag beträgt seit Jahresbeginn 6,2 Prozent.
Im internationalen Vergleich verkaufen sich britische Aktien zurzeit unter Wert. Im September 2023 hatten sie lediglich 4 Prozent Anteil am FTSE All-World Index, gegenüber 61 Prozent Anteil der USA. Vermutlich ist der britische Anteil nach dem starken Anstieg der amerikanischen Marktkapitalisierung jetzt noch niedriger. Würden internationale Aktienfonds nur ein halbes Prozent ihrer Anlagen nach Großbritannien umschichten, entspräche das mehr als 20 Prozent des Werts des FTSE All-Share Index. Vermutlich sind das Luftschlösser, aber es könnte durchaus sein, dass internationale Investoren britische Aktien demnächst so positiv einschätzen wie zuletzt vor dem Brexit-Referendum.
Things can only get better: Wir rechnen mit baldigen Zinssenkungen der Bank of England, vielleicht schon im August und dann noch einmal im weiteren Jahresverlauf. Im Mai dürfte die britische Inflation vermutlich stark fallen, und die Märkte könnten auf die zunehmenden Anzeichen für eine weltweite Zinswende reagieren. Die Bank of Canada und die EZB senkten bereits diese Woche, und immer mehr wird auch mit niedrigeren US-Leitzinsen gerechnet. Niedrigere Zinsen, ein Regierungswechsel, und vielleicht wird England auch noch Europameister. Was für ein Sommer! Cool Britannia!
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