Kommentar
15:54 Uhr, 27.09.2007

Finger weg von Venezuela

Außerhalb des Erdölsektors verzeichnete Venezuela im zweiten Quartal 2007 ein kräftiges Wirtschaftswachstum. Entscheidende Triebfeder war dabei die kräftige Nachfrage. Der Erdölsektor ging dagegen um 3,9 % zurück. Während hohe Staatsausgaben die Konjunktur stützen, wirken rückläufige Investitionstätigkeit, nachlassendes Inlandsangebot und galoppierende Inflation hemmend.

Für 2007 rechnen wir mit einer Wachstumsrate von 7,4 % und 4,8 % für 2008. Die Inflationsrate dürfte in diesen Jahren bei 19,6 % bzw. 21,3 % liegen. Der treibende Faktor sind hier vor allem die hohen Staatsausgaben.

Das Land verfolgt eine extrem lockere Geldpolitik mit negativer Realverzinsung. Noch profitiert Venezuela vom hohen Ölpreis und wies daher im zweiten Quartal einen Handelsbilanzüberschuss auf, der allerdings infolge geringerer Erdölexporte und höherer Importe insgesamt niedriger ausfiel als im Vorjahr. Die Zahlungsbilanz wies in Q2 hingegen ein Defizit von 7,2 Milliarden Dollar aus.

Der Erdölpreis bleibt der entscheidende Faktor. Kann er sich weiterhin bei einem Niveau von über 75 Dollar pro Barrel behaupten, dann bleibt auch Venezuela genug Spielraum, um sich bis 2009 den geänderten Rahmenbedingungen anzupassen.

Die venezolanische Regierung wäre theoretisch durchaus in der Lage, dem Verfall der Rahmendaten entgegenzuwirken, wie beispielsweise durch Kürzung der Staatsausgaben sowie geld-, steuer- und zinspolitische Maßnahmen.

Politische Situation

Venezuelas Staatschef Hugo Chavez plant umfassende Verfassungsänderungen. Voraussichtlich im Dezember wird eine Volksabstimmung stattfinden, bei der die Wähler über die einzelnen Punkte allerdings nur blockweise abstimmen können. Zu den angestrebten Änderungen zählen unter anderem:

• Einschränkung der Autonomie der venezolanischen Notenbank, die damit direkt dem Präsidenten unterstellt würde. Die Entscheidungskompetenz in geld- und zinspolitischen Fragen käme daher dem Präsidenten zu. Vertreter der Notenbank haben sich bisher erfolglos bemüht, die Argumentation der Regierung zu entkräften. Es hat vielmehr den Anschein, dass die populistischen Ideologien der Regierung unempfänglich für rationale Argumente sind.

• Unbeschränkte Wiederwahl des Staatspräsidenten. Das ist die Änderung, die Chavez am wichtigsten ist. Umfragen zufolge sind 80 % der Wähler gegen diese Änderung. Die Propagandamaschine läuft indessen auf Hochtouren, um sie vom Gegenteil zu überzeugen.

• Verkürzung der Arbeitszeit von acht auf sechs Stunden täglich. Das ist sozusagen der Köder, mit dem die gering verdienenden Arbeitnehmer (und das sind immerhin 80 % der Gesamtbevölkerung) an die Wahlurne gelockt werden sollen.

Chavez kontrolliert bereits drei wesentliche Bereiche des Staatswesens; die Verfassungsänderungen würden daher lediglich die bestehenden Verhältnisse formalisieren. Die politischen Parteien sind schwach, zersplittert und werden finanziell kaum oder gar nicht gefördert. Der nächste Herausforderer des Staatschefs wird daher wohl eher aus den eigenen Reihen als aus der Opposition kommen. Mit Widerstand innerhalb der Armee gegen den Chavismo ist kaum zu rechnen. Dagegen sprechen Chavez’ große Popularität, die hohe Zahl bewaffneter Chavistas in der Zivilbevölkerung, die schnell mobilisiert werden können, und nicht zuletzt die großzügigen Zuwendungen an das Militär (vor allem die oberen Ränge).

Wir gehen davon aus, dass der Staat sich stärker auf strategischen Sektoren wie Telekommunikation, Versorgung, Ernährung, Gesundheit usw. engagieren wird. Gleichzeitig ist mit weiteren Eingriffen ins Privateigentum zu rechnen, zunächst in der Industrie und dann schließlich auch im Bankwesen. Einige Beobachter spekulieren, dass Chavez weniger radikal wäre, wenn er weniger Bareinnahmen zur Verfügung hätte. Dann müsste er nämlich stärkere Rücksicht auf Märkte und Verschuldung nehmen. Nach dieser Theorie bestünde eine Korrelation zwischen den Petrodollareinnahmen Venezuelas und Chavez’ politischer Radikalität. Ein anderer Faktor, der den venezolanischen Staatschef möglicherweise zu einer vorsichtigeren Gangart veranlassen könnte, ist die Tatsache, dass 55 % der Staatseinnahmen aus dem Nichtölsektor stammen. Zu viel Radikalität könnte diese Einnahmequelle versiegen lassen.

Mögliche Stolpersteine für Chavez wären ein tiefgreifender Popularitätsverlust infolge der hohen Inflation, Korruption, der Aufstieg einer neuen Führungspersönlichkeit, Maßnahmen auf Seiten der USA usw. Wir sollten uns allerdings darauf einrichten, dass der Chavismo keine vorübergehende Erscheinung ist, sondern das politische Leben Venezuelas noch für mehrere Jahrzehnte bestimmen wird. Das gilt auch dann, falls Hugo Chavez die Führung abgibt oder sogar verliert. Schließlich war Perons Abtritt auch nicht das Ende des Peronismus in Argentinien.

Chancen am Aktienmarkt

Obwohl Venezuelas Staat und Wirtschaft von den hohen Ölpreisen profitieren und über den MSCI Venezuela in den heimischen Aktienmarkt investieren, bietet dieser Markt keine attraktiven Chancen. Trotz langfristig positiver – und mitunter sogar bedeutender unterjähriger – Renditen war Venezuela aus risikobereinigter Perspektive kein lohnendes Anlagegeschäft. Das liegt zunächst daran, dass der MSCI Venezuela im Vergleich zum MSCI Latin America wesentlich schlechter abgeschnitten hat. So legte der MSCI Latin America seit 1999 um sage und schreibe 617 % zu, während der MSCI Venezuela es „nur“ auf eine 60%ige Rendite brachte. Betrachtet man die jährliche Gesamtverzinsung, dann kommt Venezuela lediglich auf eine kumulative Rendite von 6 %. Setzt man hingegen auf eine stärkere Diversifizierung (und damit auf weniger Risiko), lässt sich die kumulative Rendite im Durchschnitt auf fast 28 % steigern. Mit anderen Worten: Die Übernahme eines höheren Risikos durch Investition nur in Venezuela lohnt sich nicht! Ein weiterer Grund für unsere Abneigung gegenüber Direktanlagen in Venezuela ist das politische Risiko. Es ist durchaus nicht ausgeschlossen, dass die Zentralregierung aktive Maßnahmen ergreift oder die bestehenden Gesetze ändert, um börsennotierte Gesellschaften „rechtmäßig“ zu enteignen. Das ist allein im vergangenen Jahr mindestens zweimal passiert. Wir halten uns daher an Unternehmen, die zwar von den Öl- und Gasinvestitionen in Venezuela profitieren, aber nicht an den Börsen des Landes gelistet sind.

Quelle: ING Investment Management

ING Investment Management ist der globale Asset Manager der ING Gruppe. Mit Euro annähernd 400 Milliarden Assets under Management (Q2 2007), vertreten in 30 Ländern mit 2.500 Experten (Europa: 713, Americas: 866, APAC: 921), ist ING Investment Management (ING IM) weltweit unter den Top 25 im Asset Management. ING IM Europe hat Niederlassungen in 14 europäischen Ländern mit annähernd Euro 160 Milliarden Assets (Q2 2007) under Management.

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Über den Experten

Thomas Gansneder
Thomas Gansneder
Redakteur

Thomas Gansneder ist langjähriger Redakteur der BörseGo AG. Der gelernte Bankkaufmann hat sich während seiner Tätigkeit als Anlageberater umfangreiche Kenntnisse über die Finanzmärkte angeeignet. Thomas Gansneder ist seit 1994 an der Börse aktiv und seit 2002 als Finanz-Journalist tätig. In seiner Berichterstattung konzentriert er sich insbesondere auf die europäischen Aktienmärkte. Besonderes Augenmerk legt er seit der Lehman-Pleite im Jahr 2008 auf die Entwicklungen in der Euro-, Finanz- und Schuldenkrise. Thomas Gansneder ist ein Verfechter antizyklischer und langfristiger Anlagestrategien. Er empfiehlt insbesondere Einsteigern, sich strikt an eine festgelegte Anlagestrategie zu halten und nur nach klar definierten Mustern zu investieren. Typische Fehler in der Aktienanlage, die oft mit Entscheidungen aus dem Bauch heraus einhergehen, sollen damit vermieden werden.

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