Kommentar
11:00 Uhr, 25.01.2007

Europa: Alle Wege führen zu Large Caps

In den Augen vieler Marktbeobachter zeichnet sich das aktuelle Marktumfeld durch eine Reihe von Verzerrungen aus. Mit Blick auf die aktuelle Konjunkturentwicklung erscheinen die Rentenmärkte überbewertet, und investiert wird weiterhin bevorzugt in alternative Anlageklassen, obwohl Blue-Chip-Aktien derzeit äußerst günstig bewertet sind. Diese Analyse untersucht die Ursachen und erklärt, warum wir in den nächsten 12 Monaten mit einem Favoritenwechsel zugunsten der hochkapitalisierten Aktien rechnen.

Angesichts des fortgesetzten Anstiegs der Anleihekurse und Immobilienpreise erscheinen der Rückgang der Bewertungen und Anstieg der Dividendenrenditen der sehr großen börsennotierten Unternehmen in den vergangenen drei Jahren überraschend. Im langfristigen Durchschnitt weisen diese Aktien ein KGV von 15 vor. Aktuell liegt dieser Wert in Europa jedoch unter 12. Daraus lässt sich eine Investmentrendite von etwa 8,5% für diese Blue Chips ableiten. Unter Hinzunahme der durchschnittlichen Dividendenrendite von fast 3% ergibt sich somit eine realistische Gesamtrendite von mindestens 10% – ein sehr attraktiver Wert verglichen mit den an den Renten- und Immobilienmärkten verfügbaren Erträgen. Warum also zeigen die Marktteilnehmer den Large-Cap- Aktien weiter die kalte Schulter?

Auf die Erwartungen kommt es an

Keynes schrieb, dass der Preis einer Anlage von den Renditeerwartungen der Investoren abhängt. Nach dem Platzen der Aktienmarktblase der späten neunziger Jahre hielten viele desillusionierte Investoren Aktien für eine zu volatile Anlageklasse. Diese Angst oder zumindest Abneigung gegenüber Aktien löste eine großangelegte Umschichtung von Vermögenswerten in andere Anlageklassen aus, ein Trend, der durch demographische Entwicklungen, gesetzliche Veränderungen und Finanzinnovationen noch verstärkt wurde.

Risikoaversion sorgt für inverse Zinskurve in Europa

An erster Stelle steht ein aktuell zu beobachtender demographischer Trend: Die kurz vor dem Ruhestand stehenden Baby-Boomer, die einen hohen Anteil des privaten Vermögens halten, haben einerseits die Auswirkungen der New- Economy-Blase zu spüren bekommen und legen andererseits ohnehin mehr Wert auf risikoärmere Ertragsquellen als auf potenzielles Kapitalwachstum. Daher haben sie ihr Vermögen von Aktien in andere Anlageklassen, vor allem Anleihen, umgeschichtet.

Begleitet wurde diese Entwicklung von gesetzgeberischen Bemühungen, eine ausreichende Abdeckung der Verbindlichkeiten von Pensionsfonds durch ihre Vermögenswerte sicherzustellen. Da für sehr langlaufende Anleihen kein Risikozuschlag mehr gezahlt wird, haben diese Fonds erneut Aktien verkauft, um Anleihen zu kaufen. Der Schwerpunkt der Verkaufstätigkeiten lag dabei in den sehr liquiden höherkapitalisierten Marktsegmenten. Dadurch haben Europa und Großbritannien inzwischen eine inverse Zinskurve, und auch in den USA dürfte diese Entwicklung nicht mehr lange auf sich warten lassen. Traditionell wird eine inverse Zinskurve als Vorbote eines konjunkturellen Abschwungs interpretiert. In diesem Fall hat sich diese Deutung jedoch bislang als falsch erwiesen, da der Hauptauslöser die Nachfrage nach langlaufenden Staatsanleihen ist.

Hohes Leverage hat sich bezahlt gemacht

Die Vernachlässigung der Blue-Chip-Aktien ist ebenfalls auf die zunehmende Beliebtheit von Finanzinnovationen und Private Equity zurückzuführen. In den vergangenen Jahren sind die Unternehmensrenditen gestiegen, die Fremdfinanzierungskosten hingegen kontinuierlich gesunken. Die Lücke zwischen der Unternehmensrendite und den Finanzierungskosten hat sich ausgeweitet, und je weiter sie ist, desto höhere Wertsteigerungen kann ein Unternehmen durch eine Erhöhung der Fremdfinanzierungsquote erzielen. Daher konnten in diesem Segment sehr hohe Erträge erzielt werden, und die Hoffnung auf eine Fortsetzung dieses Trends hat Investoren auf der Suche nach Alternativen zu Aktieninvestments angezogen. Es sollte jedoch nicht vergessen werden, dass diese Performance vor allem auf das Leveraging zurückzuführen ist und nicht etwa auf eine grundsätzliche Überlegenheit von Private Equity gegenüber anderen Anlageklassen.

Aktienaversion sorgt für Überbewertung anderer Anlageklassen

Wenn wir uns dies alles vor Augen halten, wird deutlich, dass die Abneigung gegenüber Aktieninvestments zu einer Überbewertung vieler anderer Anlageklassen geführt hat. In den angelsächsischen Ländern befinden sich die Immobilienbewertungen auf einem Allzeithoch, Kunstobjekte sind so teuer wie nie zuvor (mit einem Vermögen von 100 Millionen £ ist Damien Hirst mittlerweile der jüngste derart vermögende Künstler aller Zeiten). Aus diesem sowie anderen Gründen können auch die Bewertungen von Staats- und Unternehmensanleihen aktuell keine Aufschlüsse über die künftige Wirtschaftsentwicklung geben.

Der letzte Faktor in der Erklärung unseres Phänomens ist die Aufwertung der Mid-Cap-Aktien an den wichtigsten Aktienmärkten, sowohl auf absoluter Basis als auch im Vergleich zu den höher kapitalisierten Aktien. Vor drei Jahren lag das KGV der Mid-Cap-Aktien im Durchschnitt noch bei 12. Aktuell liegt es bei 15 und damit etwas über dem langfristigen Durchschnitt. Wenn unsere Annahme richtig ist, dass Aktien aufgrund ihrer abnehmenden Beliebtheit günstiger als andere Anlageklassen geworden sind, warum sollte diese Entwicklung dann nicht auch die Mid-Caps betreffen? Die Antwort scheint in den steigenden Zuflüssen zu Hedgefonds und Private Equity zu liegen, die sich jeweils auf diese Marktbereiche spezialisiert haben. Viele Investoren meinen, dass es hier nur eine geringe Korrelation mit traditionellen Aktieninvestments gibt. Das halten wir jedoch für eine gänzlich falsche Annahme. In ihrem Bemühen um eine schnelle Anlage ihrer hohen Cash- Bestände bezahlen Private-Equity-Manager mittlerweile höhere durchschnittliche Multiple für börsennotierte Aktien als der Aktienmarkt selbst. Ihr EV/EBITDA von 8,3 liegt deutlich über dem Marktdurchschnitt von 7,5. Derweil führen mittlerweile alle börsennotierten Unternehmen ähnliche betriebliche Optimierungen durch, wie sie von Private-Equity-Investoren forciert werden. Dadurch können Private-Equity-Investoren nur dann auf eine bessere Performance als der Aktienmarkt insgesamt hoffen, wenn die Aktienkurse steigen und sie ihre Beteiligungen mit einem Aufschlag gegenüber ihrem Kaufpreis wieder veräußern können.

Alle Wege führen zu Blue-Chip-Aktien

Auch wenn die technischen Daten auf Verzerrungen am Rentenmarkt hindeuten mögen, werden diese letztlich wieder korrigiert, wenn die Umschichtung von Vermögenswerten in primär risikoarme und ertragsorientierte Investments abgeschlossen ist. Obwohl Hedgefonds und Private Equity im Vergleich zu Aktien allgemein als sicherer Hafen betrachtet werden, stehen ihre Investmentrenditen tatsächlich in direkter Abhängigkeit vom Aktienmarkt. Außerdem waren sie Mitauslöser und Profiteure der Höherbewertung von Mid-Cap-Aktien. Um ihre historischen Renditen aufrecht erhalten zu können, werden sie sich daher auf neue Aktienmarktsegmente konzentrieren müssen. Letztlich führen also alle Wege zu Blue- Chip-Aktien. Sie sind günstiger als jede andere Anlageklasse, weisen eine vernünftige Dividendenrendite vor und dürften im Rahmen der mittzyklischen Verlangsamung vom zunehmenden Interesse der Investoren an höheren Renditen und höherer Stabilität im Vergleich zu den niedriger kapitalisierten Marktsegmenten profitieren.

Quelle: INVESCO

INVESCO zählt als Teil der AMVESCAP Gruppe zu den führenden Asset Managern weltweit – mit über 380 Mrd. US-Dollar (per 30. September 2005) verwaltetem Vermögen. Über 5.900 Mitarbeiter, darunter rund 500 Investmentspezialisten, sind in 20 Ländern im Einsatz.

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Über den Experten

Thomas Gansneder
Thomas Gansneder
Redakteur

Thomas Gansneder ist langjähriger Redakteur der BörseGo AG. Der gelernte Bankkaufmann hat sich während seiner Tätigkeit als Anlageberater umfangreiche Kenntnisse über die Finanzmärkte angeeignet. Thomas Gansneder ist seit 1994 an der Börse aktiv und seit 2002 als Finanz-Journalist tätig. In seiner Berichterstattung konzentriert er sich insbesondere auf die europäischen Aktienmärkte. Besonderes Augenmerk legt er seit der Lehman-Pleite im Jahr 2008 auf die Entwicklungen in der Euro-, Finanz- und Schuldenkrise. Thomas Gansneder ist ein Verfechter antizyklischer und langfristiger Anlagestrategien. Er empfiehlt insbesondere Einsteigern, sich strikt an eine festgelegte Anlagestrategie zu halten und nur nach klar definierten Mustern zu investieren. Typische Fehler in der Aktienanlage, die oft mit Entscheidungen aus dem Bauch heraus einhergehen, sollen damit vermieden werden.

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