Kommentar
12:27 Uhr, 26.06.2015

Die Rückkehr zur geldpolitischen Normalität ist leider nur eine Illusion für unverbesserliche Bundesbank-Romantiker

Die Wachstumsverlangsamung Chinas macht sich seit Jahresbeginn in einem markanten Einbruch deutscher Exporte nach China bemerkbar. Allerdings hat sich die deutsche Exportwirtschaft zumindest teilweise aus ihrer Abhängigkeit von China befreit. Denn zogen verlangsamte Exporte in der Vergangenheit immer auch eine Verlangsamung der Auftragseingänge in der deutschen Industrie nach sich, so scheint dieser Zusammenhang aktuell an Bedeutung zu verlieren. Für Ersatzbefriedigung sorgt u.a. die Nachfrage nach deutschem Industrie Know How aus Indien, den USA und wieder Europa.

GRAFIK DER WOCHE

Deutsche Exporte nach China und Auftragseingänge in der deutschen Industrie, in Prozent zum Vorjahr

Deutsche Aktien - Renditeschwäche heißt Aktienstärke

Dennoch kann sich auch Deutschland der durchwachsenen weltkonjunkturellen Stimmung nicht komplett entziehen. Die zuletzt merkliche Euro-Aufwertung kommt als zumindest mentales Handicap für den exportlastigen deutschen Mittelstand hinzu. Tatsächlich haben die ifo Geschäftserwartungen mit ihrem dritten Rückgang in Folge einen Trend nach unten ausgebildet. Wenn aber schon Deutschland als stärkste Wirtschaftsnation der Eurozone leichte Schwächen zeigt, spricht nichts, aber überhaupt nichts dafür, dass die EZB ihr staatsanleihedrückendes Liquiditätsprogramm einschränkt oder vorzeitig beendet. Im Gegenteil, zur nachhaltigen konjunkturellen und exportseitigen Unterstützung der Eurozone ist eher mit einer Verlängerung des geplanten Anleiheaufkaufprogramms, auch über das geplante Ende im September 2016 hinaus, zu rechnen.

Und so spricht das Liquiditätsargument der EZB weiter für den DAX. Den Aktienmarkt gefährdende, höhere Renditen bei Zinsanlagen sind nicht zu befürchten.

Die Zinswende ist nur ein Phantomschmerz!

Insgesamt vertragen eine verhaltene Weltkonjunktur und ein global schwaches Preisumfeld keine zins- und liquiditätspolitischen Restriktionen.

Allerdings wurden damit auch Blasen an den Aktien-, Immobilien- und insbesondere den Rentenmärkten geschaffen. Vor allem die Anleiheblase ist mittlerweile die größte Anlageblase aller Zeiten. Wenn sie platzt, sind für das Weltfinanzsystem und die Weltwirtschaft irreparable Schäden nicht zu vermeiden.

Daher werden die Notenbanken als schnelle Finanzmarkt-Eingreiftruppe alle „spitzen Gegenstände“ in Reichweite der Anleiheblase entfernen. Und aus der US-Leitzinswende wird nur ein Leitzinswend-chen. Draghi & Co. haben Geister gerufen, die sie nun nicht mehr loswerden: Die Notenbanker sind ohnmächtig dazu gezwungen, an den Rentenmärkten allmächtig zu sein.

Bubble Economy China

Anlageblasen machen selbst vor China nicht Halt. Neben Immobilien finden sich diese ebenso bei Aktien: Angetrieben von einer beispiellosen Liquiditätshausse - die chinesische Wertpapierkreditblase vervierfachte sich gegenüber Vorjahr - hat sich der Shanghai Shenzen CSI 300 Index binnen Jahresfrist mehr als verdoppelt. Kommt es zu einer Wiederholung des Schicksals am Neuen Markt in China? Immerhin lassen sich klare Parallelen zeitversetzt nicht leugnen.

Aber auch im Land der Mitte gilt „Es kann nicht sein, was nicht sein darf.“ Peking fürchtet, dass ein Aktiencrash über die damit verbundene Liquiditätspräferenz auch die Immobilienblase bersten ließe. Dieser Vermögensverlust der chinesischen Bevölkerung würde zu schweren wirtschafts- und sozialpolitischen Unruhen führen. So hält auch China seine Anlageblasen gezwungenermaßen unter Überdruck. Der Leitzins wurde bereits dreimal in sechs Monaten gesenkt. Damit soll auch die Währung geschwächt werden, um den Export zu stärken.

Aktuelle Marktlage: Kurzfristig Griechenland, langfristig geldpolitische Konjunkturstützung

Trotz geopolitischer und konjunktureller Risiken zeigten sich risikoreiche Anlageklassen im 1. Halbjahr immer noch relativ robust, auch wenn sich die Aktienhausse im II. Quartal nicht fortsetzte. In Euro gerechnet avanciert der japanische Aktienmarkt geldpolitisch bedingt und dank der vermehrten Aktienkäufe durch japanische Pensionsfonds zum Top-Performer. Deutsche Aktien führen innerhalb der westlichen Industrieländer die Performance-Liste an. Grundsätzlich profitieren Titel aus der Eurozone von der Aussicht auf eine - wenn auch nur Pyrrhus-Sieg ähnliche - Lösung im griechischen Schuldenstreit, der grundsätzlichen Euro-Abschwächung, der konsequenten Beibehaltung einer konjunkturstimulierenden Geldpolitik der EZB und der Unattraktivität von Zinsanlagen. Doch aufgrund der zuletzt etwas aufgewerteten Gemeinschaftswährung halten sich US-Aktien für Euro-Anleger stabil. Hiervon können ebenso Edelmetalle profitieren. Trotz der Überversorgung am Weltmarkt hält sich Rohöl der Sorte Brent für Euro-Investoren robust.

Zunächst wird die Entwicklung an den Finanzmärkten vom Liveticker in punkto griechischem Schuldendrama bestimmt.

Charttechnik DAX und Euro Stoxx 50: Kritische Lage hat sich entschärft

Aus charttechnischer Sicht verläuft im DAX auf dem Weg nach oben der erste Widerstand bei 11.300 Punkten. Darüber bestehen weitere Hürden zwischen 11.500 und 11.600 Punkten und an der oberen Begrenzung des Abwärtstrendkanals bei derzeit 11.623 Punkten. Weitere Barrieren folgen schließlich bei rund 11.900 und 12.080 Punkten.

Im Falle einer Fortsetzung der Korrektur findet der Index dagegen im Bereich der jüngsten Tiefs um 10.800 Punkte Unterstützung. Darunter geben die untere Begrenzung des Abwärtstrendkanals bei derzeit 10.739 und die Marke bei 10.523 Punkten Halt. Weitere Unterstützungen bestehen zwischen 10.050 und 9.927 Punkten.

Im Euro Stoxx 50 gilt es auf dem Weg nach oben, den kritischen Widerstand im Bereich um die 3.610 Punkte zu überwinden. Darüber wartet dann die nächste Hürde bei 3.782 Punkten.

Auf der Unterseite verläuft dagegen die nächste nennenswerte Unterstützung in der Zone zwischen 3.450 und 3.417 Punkten. Wird diese durchbrochen, gibt die Marke bei derzeit 3.367 Punkten Halt.

Und was passiert in der KW 27?

Der Fokus der Finanzmärkte liegt auf dem kommenden griechischen Wochenende, wo „letztmalig“ eine Lösung gefunden werden kann. Zu einem Grexit wird es zumindest vorläufig nicht kommen.

In China deutet der offizielle Einkaufsmanagerindex für das Verarbeitende Gewerbe auf eine konjunkturelle Stabilisierung hin. In den USA findet die voranschreitende US-Konjunkturerholung Ausdruck in einem erneut freundlicheren ISM Index für das Verarbeitende Gewerbe, ansteigenden Auftragseingängen in der US-Industrie und robusten US-Arbeitsmarktdaten. Der US-Immobiliensektor zeigt sich gemäß US-Bauinvestitionen jedoch weiterhin in vergleichsweise verhaltener Verfassung.

In der Eurozone signalisieren die von der EU-Kommission veröffentlichten Economic Sentiment Indikatoren eine stabile Konjunkturverfassung. Die Inflation stabilisiert sich gemäß Vorabschätzungen im Juni mit 0,2 Prozent weiter nur knapp über der Deflationsgrenze und gibt der EZB weiter Unterstützung für die Beibehaltung ihrer Geldpolitik.

In Deutschland weisen stabile Arbeitsmarktdaten und Einzelhandelsumsätze auf eine stabile deutsche Binnenkonjunktur als wichtige gesamtwirtschaftliche Stütze hin.

HALVERS WOCHE

Der Endkampf um Griechenland - And the winner is: Alexis Tsipras?

Ein Freund der Monarchie bin ich schon deshalb geworden, weil der Besuch der Queen das Thema Griechenland zumindest kurzfristig ein bisschen zur Seite rückte. Grundsätzlich ist das Schmierentheater um Hellas kaum noch auszuhalten. Jetzt geht es am Samstag in die nächste Billigvorstellung. Seit fünf Monaten wird in Brüssel über griechische Reformen hin und her, vor und wieder zurück diskutiert. Allein die dabei anfallenden Flugkosten der Finanzminister, Regierungschefs, EU-Verantwortlichen und ihrer jeweiligen Entourage könnten ganzen Heerscharen von Griechen auskömmliche Renten bescheren.

Wenn der blanke Kreditnehmer Gegenleistungen verlangt

Ein finales Angebot der Gläubiger liegt jetzt auf dem Tisch. Offen sind aber wohl noch die „Gegenleistungen“, die Athen für seine Reformvorschläge erhalten will. Zunächst würde der Regierung Tsipras ein Rausschmiss des IWF gefallen, der sich doch tatsächlich als unverschämter Oberlehrer aufspielt und reformstur bleibt. Und ein Schuldenschnitt würde Tsipras auch sehr entzücken: Schulden machen, die später gestrichen werden, um über dann niedrigere Schuldenstände, d.h. bessere Bonität neue Kredite zu erhalten. So etwas nennt man einen Zirkelbezug. Und wie schön wäre es doch, wenn der Europäische Rettungsschirm griechische Staatsanleihen ankauft. Denn damit ist die Bedingung erfüllt, dass die EZB im Rahmen ihres Anleiheaufkaufprogramms auch griechische Staatspapiere aufkaufen darf. So würde es Athen über mehr und günstiges Kreditgeld gelingen, ansonsten unerschwingliche, griechische Wohltaten durch die geldpolitische Hintertür zu finanzieren. Jetzt verstehen wir auch das permanente Grinsen des griechischen Regierungschefs.

Ohne wirkliche Reformen steckt Griechenland in der Dauer-Rettungsschleife

Grundsätzlich springen all die angekündigten Reformen ohnehin viel zu kurz. Es geht doch nicht um höhere Steuereinnahmen bzw. niedrige Staatsausgaben. Es geht um eine wettbewerbsfähige griechische Volkswirtschaft, die über freiwillige Unternehmensinvestitionen, Beschäftigungsaufbau, Konsum und schließlich Steuerzahlungen erst die Schuldenbedienung aus eigener Kraft ermöglicht. Griechenland braucht keine kosmetische Behandlung in Form neuer Hilfsgelder, sondern eine wirtschaftliche Kernsanierung an Haupt und Gliedern. Eine ordentliche Steuergesetzgebung und gnadenlose Steuereintreibung, ein effizientes Verwaltungswesen und eine knallharte Bekämpfung der Fakelaki-Korruption sind alternativlos, damit Griechenland aus seiner Wettbewerbsunfähigkeit entkommt. Doch diese Dinge werden gar nicht verfolgt. Neue Hilfsgelder der Gläubiger fallen bei Beibehaltung der fatalen griechischen Wirtschaftsbedingungen auf unfruchtbaren Boden. Da könnte man auch versuchen, Tomaten in der Sahara anzubauen.

Kollektiver Wahnsinn heißt nicht allgemeine geistige Gesundheit

Wie gehen die Gläubiger mit dieser Gemengelage an griechischen Risiken um? So wie immer: EU-politische Gnade wird vor finanzpolitischem Recht ergehen. Dass Griechenland in der Eurozone bleibt, signalisiert nicht zuletzt die EZB, die die Banken künstlich am Leben hält. Mit mittlerweile knapp 90 Mrd. Euro betreibt sie Insolvenzverschleppung griechischer Kreditinstitute. Als ihr Durchlauferhitzer sorgt sie nicht zuletzt dafür, dass griechische Bankkunden problemlos ihre Euros aus den Geldausgabeautomaten abheben können. Müsste die EZB einen Grexit befürchten, könnte sie derartige Notkredite wohl kaum tätigen. Natürlich gibt es keine Schuldenstreichung, aber die bestehenden Schulden werden bis zum Sankt Nimmerleinstag gestundet und umgeschuldet. Das ist die „moderne“ Art eines Schuldenschnitts: Was Du heute kannst besorgen, verschiebe besser auf übermorgen, wenn Du nicht mehr politisch verantwortlich bist.

Europa hat das kleine südosteuropäische gallische Dorf massiv unterschätzt

Per heute spricht viel dafür, dass Tsipras weiter grinsen wird. Seine Spekulation auf einen großen Last Minute-Triumph dürfte aufgehen. Mit seiner „klugen“ Verhandlungstaktik, die Griechenland in die Rolle des armen Opfers brachte, musste er zwar einige Kröten schlucken, aber die Gegenleistungen sind auch nicht aus Pappe. Insgesamt, mit so einem faulen Kompromiss kann sich Tsipras auch in seiner eigenen Partei sehen lassen. Einstweilen mag damit die griechische Kuh zwar vom Eis sein, doch hat dieses gute Tier leider die schlechte Angewohnheit, immer wieder auf das Eis zurückzulaufen. D.h. spätestens Ende des Jahres gibt es die Wiedervorlage der Griechenlandkrise. Denn die Hilfsgelder verschwinden im griechischen Groschengrab schneller als man schauen kann.

Immer noch wäre Zeit da, umzudenken. Griechenland in der Eurozone ist wie eine umfangreiche Mathematikaufgabe, bei der sich ein anfänglicher Fehler - das Reinlügen in die Währungsunion - bis zum Schluss durchzieht und nicht mehr korrigiert werden kann. Man sollte den Griechen in ihrem eigenen Interesse den Austritt aus der Eurozone mit der - nur unter dieser Bedingung - Gegenleistung eines großen kompletten Schuldenschnitts gewähren. Mit dieser großzügigen Unterstützung - die in einer Übergangszeit durch die Sicherstellung der Krankenversicherung und Energieversorgung Griechenlands ergänzt werden könnte - müsste das Land lernen, auf eigenen Beinen zu stehen. Dabei würde eine Exportbeschleunigung durch die Drachme gewisse Wettbewerbsunfähigkeiten heilen. Man sollte Griechenland nicht weiter den Fisch liefern, sondern dem Land eine Angel schenken, damit es selbst fischen kann. Dumm sind die Griechen ganz sicher nicht. Das Reform-Gen werden sie dann schon entwickeln. Im Übrigen bleibe ich fest bei meiner Meinung, dass bei einem Grexit der griechische Virus nicht auf andere Euro-Länder übergeht. Denn wofür haben wir die EZB mit der Abkürzung Einer Zahlt Bestimmt? Das hat zwar mit Stabilität auch nichts mehr zu tun.

Das stabilitätspolitische Rückgrat der Eurozone ist eine weichgekochte Spaghetti

Aber eigentlich müsste ich wissen, dass erstens Griechenland keine marktwirtschaftliche Kernsanierung macht, wenn es schon mit der Kosmetik Probleme hat. Und zweitens findet finanzpolitische Vernunft selbst bei Politikern der Gläubigerinstitutionen selten Gehör. Zum Schluss wird der Bundestag in einer Nacht und Nebel-Aktion wieder alles durchpeitschen.

Die Finanzmärkte werden zwar den Verbleib Griechenlands in der Euro-Familie im Rahmen einer Non-Grexit-Rallye zunächst begrüßen. Doch damit ist der Umbau der einst stolzen Europäischen Stabilitäts- zur Europäischen Schuldenunion von geldpolitischen Gnaden eingeleitet. Denn es geht nicht nur um die griechische Spitze des Eisbergs: Unter der Wasserlinie warten andere Kandidaten, die dann schon aus Gründen der Gleichbehandlung Stabilitätskriterien nicht mehr ernst nehmen werden. Nach unserer Stabilitätsseele wird unsere Wirtschaftsseele schweren Schaden nehmen.

Sollte jedoch - wider Erwarten - bei den Institutionen die finanzpolitische Vernunft obsiegen, würde ich mich erstmals in meinem beruflichen Leben über eine Fehleinschätzung freuen.

VOLKSWIRTSCHAFTLICHE PROGNOSEN AUF EINEN BLICK

KAPITALMARKT AUF EINEN BLICK

Robert Halver, Leiter Kapitalmarktanalyse der Baader Bank AG

Rechtliche Hinweise/Disclaimer und Grundsätze zum Umgang mit Interessenskonflikten der Baader Bank AG:

http://www.baaderbank.de/disclaimer-und-umgang-mit-interessenskonflikten/

2 Kommentare

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  • rei61
    rei61

    Den Satz "Die Notenbanker sind ohnmächtig dazu gezwungen, an den Rentenmärkten allmächtig zu sein" sollte man sich auf der Zunge zergehen lassen - genial.

    17:57 Uhr, 26.06. 2015
  • hotte38
    hotte38

    Danke, Herr Halver

    auch ich bin der Meinung, dass unsere Politiker mit der Situation völlig überfordert sind und leider

    straflos davon kommen werden. Was macht es schon, wenn sie abgewählt werden? Sie werden

    sich mit üppigen Pensionen in einen unverdienten Ruhestand zurückziehen.

    14:30 Uhr, 26.06. 2015