Kommentar
08:45 Uhr, 27.06.2016

Die Folgen des Brexit

  • Die britischen Wähler haben sich mit knapper Mehrheit für einen Austritt aus der Europäischen Union entschieden.
  • Das Ergebnis ist zunächst ein schwerer Schock für die Märkte. Langfristig könnte es das Wirtschaftswachstum dämpfen und zu weiteren politischen Risiken führen.
  • Der Brexit erhöht den Druck auf riskante Vermögenswerte, den Ölpreis und das britische Pfund.
  • Es könnte zu weiteren quantitativen Lockerungen kommen.

Referendumsergebnis löst Schock an den Märkten aus

Jetzt steht es fest: Der Brexit kommt. Dass eine Mehrheit der britischen Wähler die EU verlassen will, hat eine Schockwelle an den Finanzmärkten ausgelöst. Die Anleger müssen jetzt die Unsicherheit verdauen, die durch das Referendum entsteht, und die Auswirkungen auf die Märkte sind mannigfaltig und unklar.

„Wir wissen, dass es sich um eine politische Krise handelt, die nicht unbedingt zu einer weltweiten Rezession oder einer Liquiditätskrise im Finanzsystem führen wird“, so Valentijn van Nieuwenhuijzen, Head of Multi Asset bei NN Investment Partners.

51,9 % der Briten stimmten für einen Austritt aus der EU und 48,1 % dagegen. Damit äußerten sie den Wunsch, mehr Kontrolle über die Wirtschaft und die Grenzen ihres Landes zurückzugewinnen. Die Wahlbeteiligung lag bei über 72 %. Kurz nach der Bekanntgabe des Ergebnisses kündigte Premierminister David Cameron seinen Rücktritt an und schuf damit noch mehr politische Unsicherheit in Großbritannien.

Rund um den Globus haben die Finanzmarktbehörden geäußert, dass ein Brexit eine weitere Erschütterung für eine ohnehin anfällige Weltwirtschaft darstellen werde. Die langfristigen und die politischen Folgen können beträchtlich sein und werden voraussichtlich negativen Einfluss auf das Wirtschaftswachstum haben. Van Nieuwenhuijzen schätzt, dass das BIP-Wachstum dadurch in diesem Jahr in Großbritannien um 1 % und im Euroraum um 0,3 – 0,5 % gedämpft wird.

Die britische Entscheidung wird beträchtliche politische Konsequenzen für die EU und für Großbritannien selbst haben. In Schottland und vielleicht sogar Nordirland könnten in nächster Zeit wieder Unabhängigkeitsbestrebungen aufflammen und zu weiteren politischen Turbulenzen führen.

„Vor allem für Großbritannien bestehen enorme politische und wirtschaftliche Unsicherheiten“, erläutert Van Nieuwenhuijzen. „Dort ist wohl mit einer Rezession zu rechnen. Allerdings wird es von den politischen Maßnahmen abhängen, wie schwerwiegend sie sein wird.“

Große Überraschung für die Märkte

Die Aktienmärkte reagierten mit beträchtlichen Kursverlusten, denn die Anleger suchten Schutz in sicheren Häfen. Dadurch gerieten die Renditen an wichtigen Staatsanleihe-Märkten weiter unter Druck.

Das Ergebnis des britischen Referendums hat die Finanzmärkte überrascht. In den Wochen vor der Abstimmung waren die Anleger sehr vorsichtig gewesen; in den letzten Tagen hatten jedoch viele mit einem günstigeren Ergebnis gerechnet. Hedgefonds positionierten sich entsprechend, und die Aktienkurse legten deutlich zu.

Dieses Bild änderte sich am Tag nach der Abstimmung grundlegend: Die Aktienmärkte verloren deutlich, der Ölpreis sank und das britische Pfund brach auf den tiefsten Stand seit 1985 ein. Wie lange die Marktturbulenzen anhalten, lässt sich – so Van Nieuwenhuijzen, derzeit noch nicht sagen. „Vieles wird von der Reaktion der Zentralbanken abhängen“, erklärte er. „Dieses Ergebnis könnte zu weiteren quantitativen Lockerungen führen.“

Die Aktienmärkte brachen in einer ersten Reaktion auf das Ergebnis um bis zu 10 % ein, wobei die asiatischen Märkte als erste in Mitleidenschaft gezogen wurden. Der japanische Yen schnellte in die Höhe, weil die Anleger nach einem sicheren Hafen suchten, und der Nikkei-Aktienindex verlor knapp 8 %.

Finanzwerte schnitten wegen der Auswirkungen auf die Zinsmargen im frühen Handel am schlechtesten ab. An der Londoner Börse waren die Verluste relativ begrenzt, da der Kursrückgang des Pfund Sterling als gute Nachricht für die britischen Exporteure angesehen wurde.

Austrittsentscheidung führt zu einer Phase der Unsicherheit

Großbritannien ist der erste Mitgliedstaat, der sich zum Austritt aus der Europäischen Union entschließt. Damit beginnen jahrelange Verhandlungen über Handels-, Geschäfts- und politische Beziehungen zur Europäischen Union mit ihren 28 Mitgliedstaaten – ein Aufbruch in unbekannte und schwierige Gewässer.

Die britischen Wähler haben die Büchse der Pandora geöffnet. Das Verfahren zur Aufhebung von Großbritanniens Mitgliedschaft ist nicht vollständig klar, und laut Van Nieuwenhuijzen werden die politischen Risiken nach dem ersten Schock für die Finanzmärkte zunehmen.

„Die Anleger müssen erkennen, dass der Widerstand gegen die Globalisierung bestehen bleiben und möglicherweise nach einem Brexit noch zunehmen wird“, erklärte er. „Dies ist für die Finanzmärkte eine anhaltende Unsicherheitsquelle. Die politischen Risiken werden in einer Reihe wichtiger europäischer Länder zunehmen, und auch in den USA stehen ungewöhnliche Wahlen an.“

Interesse an riskanten Vermögenswerten dürfte einige Zeit lang gedämpft bleiben

Wären die Briten in der EU verblieben, hätten die Anleger wieder mehr Kapital in die Märkte gesteckt. In diesem Falle wäre das Geld wohl eher in riskante Vermögenswerte als in Staatsanleihen mit einer Rendite nahe Null geflossen. Bei einem Brexit dürften die Märkte volatil bleiben. Zugleich suchen wir nach Chancen, die sich im Falle einer extremen Panik unter den Anlegern ergeben könnten.

Allgemeiner gesprochen wird es positiven mittelfristigen Trends nach dem Referendum sehr schwer fallen, sich an den Finanzmärkten zu etablieren. Solche Trends werden z.B. von einer Verbesserung der globalen Wachstumsdynamik und akkomodativen Zentralbanken in den entwickelten Märkten getragen. Ein entgegenkommender Kurs bedeutet nicht unbedingt, dass die US-Notenbank Federal Reserve ihren Leitzins in diesem Jahr nicht weiter anhebt – ein Zinsschritt im Dezember ist nach wie vor möglich. Aber die Fed wird Abwärtsrisiken genau im Blick haben und ihnen eventuell sogar mehr Aufmerksamkeit schenken als bisher.

Neben einem Zinsschritt der Fed können sich auch andere Risiken auf die Märkte auswirken. Der Ausblick für die Unternehmensgewinne ist angesichts des geringen Produktivitätswachstums und der anhaltenden Unsicherheit über das Wachstum der Weltwirtschaft problematisch. Und wie oben bereits erläutert, können politische Risiken potenziell zu Marktturbulenzen führen. Dies dürfte sich nach Großbritanniens Entscheidung für einen Austritt aus der EU noch verstärken.

Der Widerstand gegen die Globalisierung bleibt bestehen

Eine Revolte der Wähler ist nicht nur in Großbritannien, sondern auch in anderen europäischen Ländern möglich. Marine Le Pen in Frankreich und Geert Wilders in den Niederlanden haben bereits Referenden über eine EU-Mitgliedschaft gefordert. Dies könnte zu weiteren Schocks an den Märkten führen. Weitere Unruhen hätten einen strukturellen Anstieg der Risikoprämien zur Folge. Dies könnte sich auch auf die Realwirtschaft auswirken: Die Finanzierungsbedingungen könnten restriktiver werden, was wiederum die Wachstumsdynamik dämpfen würde.

Das zentrale Thema ist also ein Aufstand an der Wahlurne, der sich bereits seit einigen Jahren abzeichnet. Bisher konnten die „Revolutionäre“ nicht genug Einfluss gewinnen, um die bestehenden Institutionen zu verändern. Insofern stellt die Entscheidung für Großbritanniens Austritt einen Präzedenzfall dar. Die Schlüsselfrage für die Märkte lautet nun nach Van Nieuwenhuijzens Auffassung, ob sie politische Risiken nicht ernst genug genommen haben.

„Wir müssen darauf hinweisen, dass wir nicht wissen, wie stark diese Mechanismen sein werden. Wir wissen, dass es sich wahrscheinlich nicht um einen Schock in ähnlicher Größenordnung wie den Zusammenbruch von Lehman Brothers oder die Eurokrise handeln wird; wahrscheinlich werden keine unmittelbaren Gefahren für das globale Finanzsystem entstehen. Das bedeutet aber nicht, dass die Auswirkungen – vor allem in der Realwirtschaft – auf lange Sicht weniger ernsthaft sind“, erläuterte er.

„Bei NN Investment Partners nehmen wir weiterhin eine Long-Position in riskanten Vermögenswerten ein und untergewichten Rohstoffe und Staatsanleihen. Wir haben europäische und Schwellenländeraktien unter- und US-Aktien übergewichtet. Bei europäischen Vermögenswerten dürften die Risikoprämien für Aktien steigen, so dass die Bewertungen sinken. Besonderes Augenmerk sollte den Peripherieländer-Spreads, den Credit-/High-Yield-Spreads und am Aktienmarkt den europäischen Banken gelten, um abschätzen zu können, wie die Ansteckungseffekte in Europa ausfallen. In den ersten Handelsstunden haben sich die Spreads in all diesen Segmenten deutlich erhöht.“

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