Die Angst vor einem weiteren „Brexit-Moment“
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Das bedeutendste politische Ereignis steht kurz bevor: Die US-Präsidentschaftswahl. Laut letzten Umfragen ist der bislang als wahrscheinlich eingeschätzte Wahlsieg Hillary Clintons zweifelhaft. Während aus finanzwirtschaftlicher Sicht Clinton für Kontinuität steht, wäre der zumindest im Wahlkampf betonte Protektionismus von Trump schwere Kost für deutsche Exportaktien. Bei der US-Zinspolitik geht es nicht mehr um die bereits eingepreiste Zinserhöhung im Dezember, sondern um die anschließende zinspolitische Entwicklung der Fed. Weltkonjunkturell spricht für weitere Leitzinserhöhungen in den USA wenig. Unsicherheit ergibt sich aus dem Urteil des Londoner Gerichtshofs, wonach das britische Parlament beim Austritt Großbritanniens aus der EU mitzubestimmen hat.
Die konjunkturelle Normalisierung Chinas schreitet voran. Immerhin signalisieren sowohl der offizielle Einkaufsmanagerindex für das Verarbeitende Gewerbe als auch das private, vom Finanznachrichtenanbieter Caixin veröffentlichte Pendant mit den jeweils höchsten Indexwerten seit Juli 2014, dass Peking das soft landing der Wirtschaft mit geldpolitisch finanzierten, staatlichen Konjunkturmaßnahmen gelingt.
Chinas Beitrag für die Welt-, aber auch europäische Wirtschaft ist zwar nicht mehr wie früher „aphrodisierend“, aber stabilisierend. Setzt man die vom ifo Institut ermittelte Geschäftslage und -erwartungen des Verarbeitenden Gewerbes der Eurozone für das IV. Quartal 2016 zueinander in Beziehung, arbeitet sich die Industrie aus dem Abschwung heraus. Insbesondere der Erwartungsindex hat sich verbessert. Allerdings ist das tatsächliche Wachstum der Eurozone im III. Quartal von 1,6 Prozent nicht ausreichend, um die strukturellen Wirtschaftsprobleme wie die hohe Arbeitslosigkeit zu beenden.
Wie stabil ist die US-amerikanische Konjunktur?
In den USA zeigt sich die Konjunkturstimmung gemäß ISM Index für das Verarbeitende Gewerbe im Oktober mit 51,9 nach 51,5 zuletzt etwas freundlicher. Grund für übergroßen Konjunkturoptimismus besteht allerdings nicht. Denn erneut hat die Neuauftragskomponente als maßgeblicher Frühindikator nachgegeben.
Insgesamt befindet sich die US-Industriestimmung seit einem Jahr in einer volatilen Seitwärtsbewegung. Zwischenzeitliche Stimmungsaufhellungen mündeten nicht in tatsächlichen Konjunkturverbesserungen. Beispiel hierfür sind die seit zwei Jahren schrumpfenden Auftragseingänge in der US-Industrie. Für die „datenabhängige“ Fed sind nachhaltige zinserhöhungsrelevante Daten eigentlich Mangelware.
Auch die von der University of Michigan ermittelten US-Verbrauchererwartungen haben im Trend nachgegeben. Die Beobachtung alltäglicher Entwicklungen bestätigt diese Einschätzung: Der Restaurant Performance Index, der die Neigung der Amerikaner misst, auswärts essen zu gehen, ist seit April 2015 rückläufig. Selbst die Fed hebt in ihrem Monetary Policy Statement hervor, dass die Ausgaben privater Haushalte weniger stark wachsen.
Außerdem spricht die Lage am US-Immobilienmarkt nicht für Zinserhöhungen. Die Erholung seit 2008 ist gemäß Baubeginnen und -genehmigungen ins Stocken geraten. Dies dokumentieren ebenfalls die Häuserpreise, die - laut S&P/Case-Shiller U.S. National Home Price Index der 20 größten US-Städte - bereits seit Jahren stagnieren.
Übrigens, auch die im Vergleich zum Verarbeitenden Gewerbe bislang so robuste Stimmung im US-Dienstleistungsgewerbe hat sich zuletzt zurückgebildet. Sicherlich muss man diese Eintrübung nicht dramatisieren. Dennoch zeigt sie die konjunkturelle Verletzlichkeit als sicher eingestufter Wirtschaftshäfen.
Selbst der leichte Anstieg der US-Inflationserwartungen liefert keine ausreichenden Argumente für Zinserhöhungen. Zwar geht die Fed davon aus, dass die Inflationsrate mittelfristig auf zwei Prozent steigt. Ihre historische Fehlertoleranz bei der Inflationsschätzung ist allerdings hoch. Ohnehin ist fraglich, ob die momentan preissteigernden Basiseffekte überhaupt nachhaltige Wirkung erzielen können. Bereits wieder rückläufige Ölpreise verdeutlichen das hartnäckige Überangebot auf dem Ölmarkt. Mehr als zu einem Lippenbekenntnis in puncto Ölförderbegrenzungen kann sich die Opec nicht durchringen. Im Übrigen verhindert die Alternativfördermethode Fracking langfristig ansteigende Ölpreise. Energieseitiger Preissteigerungsdruck ist insofern kaum zu erwarten.
Glaubwürdigkeit geht der Fed über alles
Fundamentale Gründe für eine Zinserhöhung der US-Notenbank sind also weiterhin rar gesät. Trotzdem dürfte die Fed auf ihrer letzten Sitzung am 14. Dezember eine zweite Zinserhöhung vornehmen. Kommt es zu dieser Zinserhöhung, will die Fed verhindern, dass die letztjährige, in diesem Zinszyklus bislang einzige Leitzinserhöhung als geldpolitische Irrung wahrgenommen wird, die man besser nicht durchgeführt hätte. Dieser Zinsschritt ist also dem Beweis der Handlungsfähigkeit der Fed geschuldet. Für die weitere Befindlichkeit der Anleihe- und Aktienmärkte - die Zinserhöhung im Dezember ist bereits eingepreist - ist die zinspolitische Vision der Fed entscheidend. Die Betonung einer auch zukünftigen Behutsamkeit von Zinserhöhungen - die auch die Beendigung der Zinswende einschließt - wäre das Wunschszenario der Finanzmärkte.
Brexit - Eintritt in den Austritt, Exit vom Austritt, Fehltritt?
Laut Urteil des Londoner High Court darf die britische Regierung ohne Zustimmung des Parlaments nicht das Ausscheiden Großbritanniens aus der EU nach Artikel 50 des Vertrages von Lissabon beantragen. Die parlamentarische Demokratie hat in Großbritannien eine historisch hohe Bedeutung. Unter der Voraussetzung, dass das höchste britische Gericht diese Entscheidung nicht widerruft, stellt sich die Frage der (wirtschafts-)politischen Konsequenzen. Grundsätzlich ist jedoch noch nicht absehbar, welches Ausmaß das parlamentarische Mitspracherecht hat.
Ist es vollumfänglich und würde das Parlament das Brexit-Votum vom 23. Juni 2016 kippen, wäre der Austritt aus der EU abgewendet. Die Freude, dass die EU-Gemeinschaft unangetastet bleibt und insofern die Eurosklerose eingedämmt wird, würde sich in positiven Reaktionen an den Aktienmärkten zeigen. Mit dem wünschenswerten Verbleib Großbritanniens in der EU würde nicht zuletzt ein neben Deutschland weiterer Stabilitätspartner den ansonsten vorgezeichneten Weg in die Schuldenunion behindern. Auch die Aktienbörse in London dürfte profitieren, da die unmittelbaren wirtschaftlichen Kollateralschäden eines Brexit abgewendet wären.
Allerdings käme es dann in Großbritannien zu einer politischen Krise. Immerhin hat die Stimme des Volkes - wenn auch knapp - den Brexit befürwortet. Der Rücktritt der Regierung unter Theresa May und Neuwahlen wären die Folge.
Aus heutiger Sicht wahrscheinlicher ist es jedoch, dass die Parlamentarier sich nicht gegen den ursprünglichen Wählerwillen stellen. Welchen Sinn macht eine Volksabstimmung, wenn ihr Ergebnis nicht akzeptiert wird? Ohnehin, je mehr Zeit vergeht, umso mehr ist der Brexit mental in den Köpfen vertreten.
Aber den Prozess des Brexit wird das Parlament kontrollieren und für Transparenz sorgen. Das spricht dafür, dass aus dem von der Regierung propagierten harten ein weicher Brexit wird. Mit ein bisschen Scheidung ist aber nichts gewonnen. Was für einen Sinn macht ein parlamentarisch kontrollierter Brexit, dessen konkrete Ausgestaltung darauf abzielt, die britische Wirtschaft dennoch so eng wie möglich mit der EU zu verbinden, möglichst viele eigene Souveränitätsrechte wie Einschränkungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit zu erlangen und auch noch den EU-Beitrag möglichst massiv zu senken? Diese sogenannte Rosinenpickerei wäre eine Einladung an andere EU-Länder ebenso diese „weiche Scheidung mit permanentem Besuchsrecht“ anzustreben. Das kann die Rest-EU nicht zulassen. Scheiden muss wehtun, sonst kann man auch zusammenbleiben.
Ein soft Brexit wäre weder Fisch noch Fleisch. Das weiß auch die britische Regierungschefin, die sich als EU-Befürworterin vor Referendum zur Austrittsprotagonistin nach Referendum - „Brexit means Brexit“ - gewandelt hat. Sie hat sich auf die harte Ausstiegsvariante festgelegt. Ihr Motto ist: Wenn schon, denn schon. In der Tat macht alles andere keinen wirtschaftlichen Sinn. Frau May will einen Komplettschnitt von der EU, da nur dieser ihr die Möglichkeiten gibt, radikale Maßnahmen zur Reindustrialisierung des Landes vorzunehmen: Erst mit massiven Senkungen von Steuern, Arbeitskosten und -rechten oder Umweltschutzauflagen könnte Großbritannien in nachhaltige Standortkonkurrenz z.B. zu Deutschland treten.
Mit parlamentarischen Mitspracherechten wird sich der britische Austrittsantrag zeitlich nach hinten verschieben. Zu argumentieren, beide Seiten hätten dann mehr Zeit, um sich auf das Novum des Austritts eines Landes aus der EU vorzubereiten, ist zu kurz gedacht. Der verzögerte Vollzug des Austritts wird sich in einer ebenso verlängerten Unsicherheit an den Finanzmärkten niederschlagen. Klare Verhältnisse wären besser. Lieber ein Ende mit Schrecken als Schrecken ohne Ende.
Aktuelle Marktlage und Anlegerstimmung - Die Jahresend-Rallye hängt vor allem an der US-Wahl
Die früher noch sehr aktienrelevante Berichtsaison entwickelt sich mehr und mehr zum Non-Event. Welche Bedeutung können Gewinnausweise noch haben, wenn im Vorfeld der Ergebnisveröffentlichung die Analysten vielfach durch Unternehmen veranlasst werden, ihre Gewinnschätzungen zu reduzieren, die dann bei Veröffentlichung tatsächlich besser ausfallen. Die fundamentale Aussagekraft von Unternehmensergebnissen ist damit eingeschränkt.
Unterdessen lähmt die US-Wahl die Aktienmärkte. Am 8. November wird es in den USA wider Erwarten noch einmal spannend. Clintons zuletzt von den Finanzmärkten eingepreister Wahlsieg wird mittlerweile in Zweifel gezogen. Am Devisenmarkt wird diese Trendänderung durch einen sich wieder abwertenden mexikanischen Peso gegenüber dem US-Dollar dokumentiert.
GRAFIK DER WOCHE
Wahlumfragen pro Trump und Wechselkurs Mexikanischer Peso/US-Dollar
Die Gefahr der von Trump propagierten, protektionistischen Abschottung Amerikas mit Einschränkung des freien Welthandels würde zwar in der Regierungspraxis ab 2017 auch aufgrund der Lobbyarbeit der multinationalen US-Konzerne deutlich weniger markant ausgeprägt sein. Doch mit einer Wahl Trumps ist die Chance auf eine Jahresend-Rallye bei exportstarken deutschen Aktien vertan. Die Psychologie spricht dagegen.
Charttechnik DAX und S&P 500 - Ende der Richtungslosigkeit?
Charttechnisch liegen im DAX auf dem Weg nach oben die ersten Widerstände bei 10.383 und 10.492 Punkten. Werden diese überwunden, trifft der deutsche Leitindex auf weitere Barrieren bei 10.535 und 10.609. Darüber liegt eine Widerstandszone zwischen 10.802 und 10.820. Auf der Unterseite liegt eine Unterstützung zunächst bei 10.250 Punkten. Wird diese unterschritten, liegen die nächsten Haltelinien bei 10.128 und 10.038.
Im S&P 500 liegt der nächste Widerstand bei 2.135 und darüber bei 2.185 Punkten. Werden diese durchbrochen, trifft der Index bei 2.194 auf die nächste Barriere. Auf der Unterseite liegt die erste Unterstützung bei 2.079 Punkten. Darunter eröffnet sich Abwärtspotenzial bis zur Haltelinie bei 1.972.
Der Wochenausblick für die KW 45 - Die „Spröde“ oder das „Biest“?
Die größte Aufmerksamkeit der Anleger gilt der US-Präsidentschaftswahl.
Darüber hinaus unterstreichen ein erneuter Rückgang des von der US-Notenbank veröffentlichten Labor Market Conditions Index sowie das schwächelnde Konsumentenvertrauen gemäß University of Michigan das vergleichsweise verhaltene Konjunkturbild Amerikas.
In China unterstreichen erneut schwache Zahlen zu Im- und Exporten für Oktober die neue Sachlichkeit des chinesischen Wirtschaftswachstums.
In Deutschland sind die „harten“ Konjunkturdaten „Auftragseingänge Industrie“, „Industrieproduktion“ und „Exporte“ für September beweise für den verhaltenen Zustand der Weltwirtschaft.
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