Kommentar
12:45 Uhr, 13.09.2005

Deutschland befindet sich in der Reform

Nachdem Deutschland über Großteile des vergangenen Jahrzehnts hinweg die Rolle des kranken Patienten Europas gespielt hat, scheint es für das Land nun wieder bergauf zu gehen. Die in diesem Monat stattfindende Wahl könnte eine reformwillige Koalition zwischen der rechts vom Zentrum angesiedelten CDU, die unter dem Vorsitz von Angela Merkel steht, und der liberalen FDP einläuten.

Diese Regierung würde wahrscheinlich sowohl die Reformen umsetzen, für die es dem derzeitigen Kanzler Gerhard Schröder nicht gelungen war, sich die Unterstützung seiner SPD zu sichern, und auch eine Reihe weiterer radikaler Reformen einführen, die auf eine Steigerung von Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit sowie eine Senkung seiner hohen Arbeitslosenquote abzielen.

Sollten Anleger angesichts dieser Wiederbelebungsaussichten ihre in der Vergangenheit oft negative Meinung über Europas größte Volkswirtschaft revidieren und ein regeres Interesse für Deutschlands Aktienmärkte entwickeln?

Deutschland ist die einzige der drei Kern-Volkswirtschaften der Eurozone, die sich ihres Reformbedarfs bewusst geworden ist. Kanzler Schröder, der seit 1998 im Amt ist, hat sich seit kurzem bemüht, das Richtige zu tun – als Beispiel hierfür sei die Arbeitsmarktreform Hartz IV erwähnt.

Im Gegensatz zu Italien hat Deutschland seine Lohninflation erfolgreich unter Kontrolle gehalten – in Deutschland sind die Lohnstückkosten im Fallen begriffen, während sie in Italien steigen. Währenddessen scheint man sich in Frankreich um solche Probleme gar nicht zu kümmern.

Die hartnäckige Blockade von Reformen durch seine eigene Partei hat Schröder jedoch gezwungen, die Wahl vorzuziehen. In den Medien scheint man sich darüber einig zu sein, dass er diese mit Wahrscheinlichkeit verlieren wird.

Wir können davon ausgehen, dass eine neue Regierung mit Angela Merkel als Bundeskanzlerin eine radikale Agenda einführen wird, die auf eine Reduzierung von Tarifverhandlungsrechten, der Arbeitsplatzsicherheit, des Anspruchs auf Sozial- und Krankenkassenleistungen und der direkten Besteuerung abzielt und Unternehmen die Einstellung von Mitarbeitern erleichtern wird – ein entscheidender Schritt für ein Land mit beinahe 5 Millionen Arbeitslosen, was einer Quote von 10% der erwerbsfähigen Bevölkerung entspricht.

Niedrigere Steuern und Lohnnebenkosten dürften sich kurzfristig positiv auf Gewinnspannen auswirken. Vermehrte Einstellungen dürften darüber hinaus innerhalb von drei bis vier Jahren langsam zum Verbrauchermarkt durchsickern. Die inländische Nachfrage wird sich letztendlich verbessern, sobald das Vertrauen der Bevölkerung in die Sicherheit des Arbeitsmarktes steigt.

Wie sollten Anleger auf diese positiven Zukunftsaussichten reagieren? Obwohl wir als Anlagestrategen unsere Anlageentscheidungen nicht ausschließlich auf der Grundlage volkswirtschaftlicher Ansichten oder Trends treffen, hat unsere Reaktion darin bestanden, dass wir unsere Gewichtung deutscher Aktien über die vergangenen Monate hinweg Schritt für Schritt erhöht haben.

Der Markt sieht billig aus, und wir werten die Aussicht auf Reformen definitiv als positives Zeichen. Durch die derzeitige Senkung der Unternehmenssteuern und Betriebskosten sollten Unternehmen in der kommenden Zeit einen guten Gewinnzuwachs erzielen können.

Die Aktie von MTU Aero Engines ist derzeit einer unserer Favoriten. Das Unternehmen erfreut sich einer großen Nachfrage aus der Luftfahrtbranche, sein nachbörslicher Umsatz steigt, und es beschäftigt eine große Zahl deutscher Arbeitskräfte.

Im Vorfeld der Wahl ist es jedoch wichtig anzumerken, dass Frau Merkel keine Maggie ist, und dass Deutschland nicht vor einer radikalen, über Nacht stattfindenden Kehrtwende steht, wie sie in den 1980ern im Vereinigten Königreich passiert ist. Es ist eher wahrscheinlich, dass sich hier die Änderungen schrittweise abzeichnen werden.

Obwohl es sicherlich stimmt, dass sich jede Änderung am Rande auf die Aktienkurse auswirken kann, sollten Anleger einen kühlen Kopf bewahren – ein Sieg der CDU am 18. September sollte nicht als unmittelbares Signal dafür interpretiert werden, z.B. ein insolventes deutsches Maschinenbauunternehmen mit einer problembehafteten Strategie aufzukaufen.

Die Grundlagen sind immer noch wichtig – die Zahlen müssen stimmen. Wir kaufen Anteile an Unternehmen, nicht Ländern.

Quelle: Schroders - Andy Lynch

Die Schroders-Gruppe ist eine führende internationale Vermögensverwaltungsgesellschaft, die 1804 gegründet wurde. Schroders verwaltet Anlagen für Pensionsfonds, Regierungsbehörden, Wohltätigkeitsorganisationen, Körperschaften, Familienunternehmen und vermögende Privatpersonen weltweit und ist ein führender Verwalter von Investmentfonds. Schroders bietet Anlagen in allen wichtigen Vermögenskategorien in entwickelten Ländern und Schwellenländern an: Aktien, Schuldtitel, Geldmarktinstrumente, Beteiligungen und Immobilien. Das weltweit verwaltete Vermögen betrug zum 31. März 2005 rund 158,2 Mrd. Euro.

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Über den Experten

Thomas Gansneder
Thomas Gansneder
Redakteur

Thomas Gansneder ist langjähriger Redakteur der BörseGo AG. Der gelernte Bankkaufmann hat sich während seiner Tätigkeit als Anlageberater umfangreiche Kenntnisse über die Finanzmärkte angeeignet. Thomas Gansneder ist seit 1994 an der Börse aktiv und seit 2002 als Finanz-Journalist tätig. In seiner Berichterstattung konzentriert er sich insbesondere auf die europäischen Aktienmärkte. Besonderes Augenmerk legt er seit der Lehman-Pleite im Jahr 2008 auf die Entwicklungen in der Euro-, Finanz- und Schuldenkrise. Thomas Gansneder ist ein Verfechter antizyklischer und langfristiger Anlagestrategien. Er empfiehlt insbesondere Einsteigern, sich strikt an eine festgelegte Anlagestrategie zu halten und nur nach klar definierten Mustern zu investieren. Typische Fehler in der Aktienanlage, die oft mit Entscheidungen aus dem Bauch heraus einhergehen, sollen damit vermieden werden.

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