Kommentar
09:17 Uhr, 21.07.2016

Der Sommer 2016 - An den Finanzmärkten wird er nicht heiß

Der Brexit geht lange, sehr lange in die Sommerpause
Während die neue Premierministerin May den Briten kein Austrittsergebnis mit deutlichen Wohlstandseinbußen präsentieren kann, darf die EU den Briten keinen Deal anbieten, der ihren Austritt noch belohnt und zu Nachahmeffekten führen könnte. Also spielen beide Seiten auf Zeit, die auch alle politischen Wunden heilt: Bis der britische Austrittsantrag eingegangen ist und die rechtlichen Herausforderungen in puncto Zugang zum EU-Binnen- und Finanzmarkt bewältigt sind, hat der Brexit so viel an medialer Präsenz verloren, dass sein politisches Schadenspotenzial für die EU vernachlässigbar ist. Und am Ende wird ein Rechtsrahmen stehen - das Motto in der EU lautet „Was nicht passt, wird passend gemacht“ - der auch zukünftig eine sehr enge Wirtschafts-Zweckehe zulässt.

Nach dem Brexit-Votum werden zwar erste Konjunkturbedenken laut: Der IWF sieht Verbraucher- und Investorenvertrauen durch die politische Unsicherheit belastet und stutzt seine Wachstumsprognose für die Weltwirtschaft. Mit 3,1 (zuvor 3,2) in diesem und 3,4 Prozent (zuvor: 3,5) im nächsten Jahr hält sich die Skepsis jedoch in engen Grenzen. Doch selbst wenn theoretisch größere konjunkturelle Verwerfungen auftreten sollten, wird durch die EZB hüben und die Bank of England drüben finanzwirtschaftlichen Kollateralschäden praktisch massiv entgegengewirkt.

Ein britischer Aktienleitindex FTSE 100 aktuell auf Jahreshoch bei geläuterter Volatilität zeugt von großer Entspanntheit der Anleger.

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Substanz spricht für deutsche Aktien
Einerseits ist politische Verunsicherung - die realwirtschaftlich streut - ein Handicap für industrie- und exportlastige deutsche Aktien. Andererseits können genau diese Titel längerfristig als Alternative von einem mit Unsicherheit behafteten britischen Finanzplatz profitieren. Aussichtsreich sind vor allem Titel aus MDAX und SDAX, die im Ausland bewundernd „German Mittelstand“ genannt werden. Sie profitieren von ihrem breiten Industrie-Know How und zahlreichen Patenten im Rahmen der fortschreitenden Digitalisierung der Weltwirtschaft, der sogenannten „Industriellen Revolution 4.0“. Da die Selbstentwicklung der hierfür erforderlichen Schlüsseltechnologien in anderen Ländern zu aufwendig ist bzw. zu viel Zeit in Anspruch nimmt, kommt deutschen Industrieperlen Übernahmephantasie zugute.

GRAFIK DER WOCHE
Wertentwicklung von MDAX bzw. SDAX im Vergleich zum DAX und Umlaufrendite deutscher Staatsanleihen

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US-Aktien als sicherer Hafen
Die USA bleiben von politischen Krisen weitgehend verschont. Sie haben den Status eines sicheren Hafens. Daneben profitiert Amerika von einem marktwirtschaftlichen, wettbewerbsfreundlichen Nährboden für Investitionen, der in anderen Industrieregionen wie Japan oder Europa fehlt und daher selbst deren üppigste geldpolitische Düngung konjunkturell weitgehend wirkungslos macht. Unterstützend für US-Aktien wirkt zudem das Ende der Zinswende als bisheriges Damokles-Schwert. Die Fed weiß, dass weltwirtschaftlich und zur Verhinderung von Folgeschäden aus der Brexit-Krise bzw. aus der Normalisierung der Wachstumsraten in den Schwellenländern keine weiteren Zinsrestriktionen möglich sind. An den Derivatemärkten zeigen sich die spekulativen Finanzanleger mit dem Ausbau ihrer Netto-Long-Positionen bereits deutlich risikofreudig. Diese positive Einschätzung unterstreicht der S&P 500 mit einem historischen Höchststand.

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Wenn alle ihre Währungen schwächen, wird keine wirklich schwach
Zur exportseitigen Wettbewerbsverbesserung der Eurozone hat die EZB ihr Aufkaufprogramm auch auf Unternehmensanleihen ausgeweitet und könnte zur Eindämmung der Bankenkrise bald Bankanleihen oder sogar notleidende Kredite aufkaufen. Denn das verringert die Attraktivität von hiesigen Zinspapieren gegenüber denen anderer Anlageregionen. Diesem Unterfangen werden andere exportstarke Länder jedoch nicht tatenlos zusehen. Im Rahmen eines internationalen Währungsabwertungswettlaufs setzen sie mit erhöhten Anleiheaufkaufprogrammen und Niedrigzinspolitik ebenso auf Exportbegünstigung. Mittlerweile haben selbst die USA die Vorteile des Exports erkannt. Sie haben kein Interesse, den Dollar über eine weitere Leitzinswende zu stärken. Da nachhaltig keiner gewinnt, wenn alle ihre Währung zu schwächen versuchen, ist keine dramatische Abwertung des Euros zu erwarten, solange eine nachhaltig schwere politische Krise in der EU ausbleibt.

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Aktiensparpläne - Banal, aber auch genial
Vor dem Hintergrund latent vorhandener Krisenfaktoren dürften Kursschwankungen an den Aktienmärkten - wenn auch nicht dramatisch - wieder zunehmen. Mit z.B. Discount- und Bonuszertifikaten bzw. Aktienanleihen lassen sich Teilabsicherungen gegen zwischenzeitliche Börsenverluste günstig darstellen. Allerdings schreit das Auf und Ab an den Aktienmärkten förmlich nach Aktiensparplänen, am besten auf Indices, um das Einzelwertrisiko zu mildern sowie regelmäßig, um das Risiko größerer einmaliger Anlagen zu umgehen. Dann kommen die Anleger in den Genuss der Kraft der zwei Herzen. Erstens, bei steigenden Kursen erhält man zwar weniger Aktienanteile, dafür nimmt man jedoch die Kurssteigerungen mit. Und wenn zweitens die Aktienkurse zwischenzeitlich fallen, erhält man bei gleichbleibendem Sparplan mehr Aktienanteile. Bei wieder steigenden Kursen macht sich dann das kaufmännische Motto „Im Einkauf liegt der Gewinn“ positiv bemerkbar. Aktiensparpläne sind eine Altersvorsorge für alle.

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Aktuelle Marktlage und Anlegerstimmung - Krisen als Fata Morganas
Die ZEW Konjunkturerwartungen fallen mit minus 6,8 nach zuvor 26 dramatisch auf den niedrigsten Stand seit November 2012. Normalerweise wäre das ein die Finanzmärkte schockierendes Konjunkturereignis. Doch sollten diese Indexzahlen nicht als Signal für eine bald deutlich schwächere Konjunktur überbewertet werden. Denn zunächst tendieren die vom ZEW befragten Finanzanalysten regelmäßig dazu, die Folgen von Ereignissen finanzwirtschaftlicher Natur - siehe italienische Bankenkrise - bzw. politischen Ursprungs - Brexit - auf die Realwirtschaft zu überschätzen. So weichen die Analysten in puncto ZEW Konjunkturerwartungen im Gegensatz zu den ifo Geschäftserwartungen - bei denen Unternehmen aus dem konjunktursensitiven Verarbeitenden Gewerbe direkt befragt werden - deutlich negativ ab. So ist für die ifo Geschäftserwartungen im Monat Juli lediglich ein leichter Rückgang nach fünf Anstiegen in Folge zu erwarten. Ohnehin hat aber auch der fundamentale Hintergrund in unserer „modernen“ Finanzwelt an Aktienkurs beeinflussender Bedeutung verloren. Besonders robuste Konjunkturdaten könnten sich sogar als kontraproduktiv erweisen, da sie die Notwendigkeit der geldpolitischen Vollalimentierung reduzierten und die Liquiditätshausse Auftrieb kosten würde.

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Damit verbunden sind die abgeweideten Renditewiesen im Bereich Zinsvermögen, die sich mit teilweise sogar negativen Renditen nicht als Parkgelegenheit für Anlagegelder anbieten.

Charttechnik DAX und Euro Stoxx 50 - Die Hürden werden höher
Wird charttechnisch im DAX die erste Unterstützung bei 9.984 Punkten unterschritten, dürfte die Auffangzone zwischen 9.819 und 9.753 angesteuert werden. Die Unterschreitung der knapp darunter liegenden, noch nicht geschlossenen Kurslücke zwischen 9.690 und 9.656 würden die Chance auf eine Fortsetzung der DAX-Rallye deutlich verschlechtern. Sollte der DAX auf dem Weg nach oben die Hürde bei 10.123 Punkten dynamisch überwinden, werden die nächsten Widerstände bei 10.340 und 10.485 in Angriff genommen. Darüber liegt die nächste Hürde am seit April 2015 bestehenden Abwärtstrend bei 10.560 Punkten.

Im Euro Stoxx 50 liegt die erste nennenswerte Unterstützung bei 2.904 Punkten. Darunter wartet bei 2.850 die nächste Auffanglinie, der eine weitere bei rund 2.800 folgt. Auf dem Weg nach oben liegt eine Mauer aus Widerständen bei zunächst 2.990 und darüber 3.025 Punkten, gefolgt von weiteren Barrieren zwischen 3.062 und 3.137 sowie 3.156.

Der Wochenausblick für die KW 30 - Zahm, Zahmer, Fed
In Japan wird die Bank of Japan ihre Liquiditätsoffensive als Absatzgarantie für Staatsanleihen und zur Finanzierung von auch infrastrukturellen Konjunkturpaketen verstärken.

In den USA zeichnen ein stabiles Konsumentenvertrauen der University of Michigan und stabilisierte BIP-Zahlen für das zurückliegende II. Quartal bei erneut rückläufigen Auftragseingängen für langlebige Güter und einem wieder schwächeren Einkaufsmanagerindex für das Verarbeitende Gewerbe der Region Chicago ein gemischtes Bild der US-Wirtschaft, dass insgesamt nicht geeignet ist, Zinserhöhungsangst aufkommen zu lassen.

Die Eurozone sieht sich gemäß blutleerer BIP-Zahlen für das II. Quartal bei erneut schwachen Inflationsschätzungen für Juli anhaltendem Deflationsdruck ausgesetzt.

In Deutschland bleibt mit Spannung abzuwarten, ob sich das Brexit-Votum in den ifo Geschäftsklimadaten widerspiegelt. Die deutsche Binnenwirtschaft zeigt sich laut GfK Konsumklimaindex und Einzelhandelsumsätzen weiter stabil.

HALVERS WOCHE
Haben politische Börsen immer nur kurze Beine?
Die Börsen zeigen derzeit eine unglaublich dicke Hornhaut gegenüber allen Arten von Krisen. Auch, dass das politisch, militärisch und nicht zuletzt wirtschaftlich große Britannien die heilige EU-Familie verlassen will, wird nicht als Freveltat betrachtet. Zugegeben, Großbritannien hatte innerhalb der Verwandtschaft immer die Rolle der bösen Schwiegermutter: Weihnachten und Ostern war sie zwar immer da, doch jeder freute sich, wenn die Feiertage wieder vorbei waren.

Brexit als Non-Event?
Trotzdem, der Verlust der „Schwiegermutter“ wäre für die familiäre Stabilität schade. Es fehlte eine wichtige Zuchtmeisterin, die verhindert, dass der romanische Familienstrang die Rest-EU Richtung Schulden-Union ausrichtet. Aber wo sind jetzt die apokalyptischen Reiterstaffeln, die die Finanzmärkte doch mindestens genauso niedermachen müssten wie an den Chaos-Tagen um Griechenland? Sie scheinen gar nicht erst aufs Pferd zu kommen. Wie kommt das denn?

Einerseits liegt das an der EU-Politik, die so tut, als könne sie auch noch das größte politische Problem aussitzen. Die Zeit heile alle Wunden. Und wenn dann irgendwann das Austrittsgesuch der britischen Regierung bei der EU-Kommission in Brüssel eingeht - so die Hoffnung der EU-Politik - wird das Thema Brexit keine größere Bedeutung mehr haben als die Frage, ob die Bayern die Dortmunder oder umgekehrt schlagen. Treten sie überhaupt aus? Insgeheim will Berlin, dass die stabilen und marktwirtschaftlich orientierten britischen Alliierten trotz Brexit-Referendum bei der Stange bleiben. Selbst wenn sie de jure austreten sollten, will man es irgendwie schaffen, dass sie de facto nicht ausgetreten sind. Das klingt ähnlich wie bei einer Autowerbung: “Nichts ist unmöglich, Europa!“

Andererseits verfolgt die Geldpolitik auf der Insel und dem Kontinent konsequent das Motto „Wer Sorgen hat, hat auch Likör“. Kein auch politisches Problem kann doch wirklich so groß sein, dass es nicht in Liquidität ersäuft werden könnte. Also haben politische Börsen kurze Beine, oder?

Geldpolitik - Es geht nicht ohne sie, es geht nicht mit ihr
In der Tat kann die Geldpolitik viel, sie kann sogar die an sich epochale italienische Bankenkrise mit einem Schnipp verschwinden lassen wie Zauberer David Copperfield Eisenbahnwagons. Dazu muss sie zwar ihr Mandat mit stillschweigender Duldung der Politik - die gespielte Kritik der vielen Empörungsbeauftragten sollte niemand wirklich ernst nehmen - ein wenig ausdehnen. Nein, das ist zu brav formuliert. Die EZB allein bestimmt, wo das Mandat endet. Und es endet dort, wo selbst das Raumschiff Enterprise noch nicht hingekommen: Am Ende des Weltalls.

Aber kann eine EZB die politischen Beine auch längerfristig kurz halten? Mittlerweile ist auch der Grenznutzen von Negativzinsen negativ. Die Kreditvergabe und die Konjunktur in Europa zeigen keine geldpolitische Wirkung. Die Waffen unserer Notenbank sind so stumpf, dass sie kaum Butter schneiden könnten. Natürlich liegt das hauptsächlich an unfähigen Politikern, die aus Angst vor ihrer Abwahl und ihrem Karriereende nichts für die nationalen Wirtschaftsstandorte tun. So bleibt hohe Arbeitslosigkeit ein schmerzlicher Charakterzug in der Eurozone. Und wer praktisch arbeitslos ist, wird sich theoretisch für eine Europäische Idee nicht wirklich erwärmen. Überhaupt, an jeder Ecke regen sich die Sparer auf, dass sie keine Zinsen mehr bekommen und damit ihre Altersvorsorge eine tickende sozialpolitische Zeitbombe ist.

Wenn Europa aber seine Bürger nicht „satt“ macht, macht es leider hungrig auf politische Veränderung in Richtung Extreme. Das würde den Aktienmärkten längerfristig politisch nicht gut tun.

Quo vadis, Türkei?
Neben Großbritannien hat die EU aber noch ein Beziehungsproblem zu einem Land, das gar nicht der EU angehört. Die Türkei ist als Nato-Land in geographisch bedeutender Lage und bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise von geostrategischem Gewicht. Die türkische Regierung hat diese Rolle bereits bis dato tatkräftig für eigene Interessen ausgenutzt.

Der damit ohnehin bestehende Beziehungsstress hat sich durch den fehlgeschlagenen Putsch noch verschärft. Die türkische Staatsführung nimmt dieses grundsätzlich inakzeptable Ereignis zum Vorwand - als Gottes Geschenk - die demokratische Ordnung in der Türkei in große Unordnung zu bringen. Auf den militärischen folgt der zivile Putsch. Allein schon das Wort „Säuberung“ erinnert mich an die dunkelsten Zeiten in Europa. Wie viel Rechtsstaat steckt noch in einem Land, das ein Fünftel der Richter und Staatsanwälte und Tausende Staatsbedienstet absetzt, verhaftet bzw. „frühpensioniert“? Und das alles wenige Tage, wenn nicht Stunden nach dem Putschversuch. Wurde da etwa schon frühzeitig vorgefiltert? Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Die politische Türkei muss wissen, was sie tut. Wirtschaftspolitisch wird das Land die Knute der Investoren und Touristen zu spüren bekommen, die angesichts der prekären politischen Verfassung auf andere Regionen und Länder ausweichen. Politische und demokratische Stabilität ist nun einmal die erste Bring- und nicht Holschuld eines Staates für wirtschaftliche Prosperität. Man muss kein Freund von Rating-Agenturen sein, aber wird diese Bedingung nicht erfüllt, sind Herabstufungen gerechtfertigt.

Bewährungsprobe für die Wertegemeinschaft EU
Entscheidend ist jetzt aber, was die EU macht, die auf den Grundsätzen der humanistischen Aufklärung fußt. Europa darf bei den Freiheitsrechten nicht kuschen, nur um den Flüchtlings-Deal mit der Türkei nicht zu gefährden. Die EU muss ihre Prinzipien des Rechtsstaates verteidigen wie eine Löwin ihre Jungen, auch die mächtigste Frau der Welt. Bei der Zusammenarbeit mit Ländern können in Fragen von Menschenrechten Fünfe niemals grade sein. Sie sind unverhandelbar, unkaputtbar. Hier haben alle EU-Politiker gefälligst laut den Mund aufzumachen. Dagegen müssen die Fischer-Chöre ein heiserer Amateurgesangsverein sein.

Wenn irgendjemand in der Türkei meint, zur Erlangung von Visa-Erleichterungen damit zu drohen, man könne den Zuzug von Flüchtlingen in die EU dosieren wie die aus dem Hahn strömende Wassermenge, muss man ihm klar zeigen, wo die roten Linien sind. Auf einen groben Klotz gehört eben auch ein grober Keil. Anzudrohen, dass die Türkei bei möglicher Wiedereinführung der Todesstrafe kein EU-Mitgliedsland werden kann, läuft dabei übrigens ins Leere. Denn an einem Beitritt besteht hüben wie drüben kein Interesse mehr. Dieser Zug ist politisch längst abgefahren.

Die EU hat jetzt eine riesige politische Chance
Die EU könnte jetzt diese verfahrene außenpolitische Situation nutzen, um innenpolitisch zu Lösungen zu kommen. Ich bin nicht naiv und weiß, dass das nicht einfach ist. Aber wenn nicht jetzt, wann bitte dann will die EU aus ihrer eurosklerotischen Lethargie entkommen? Will sie das Schicksal des Römischen Reiches erleiden, das wegen spätrömischer Dekadenz schließlich eingegangen ist wie eine vertrocknete Primel?

Die EU hat es doch gar nicht nötig, zu duckmäusern. Aus dem Erpressungsversuch kann sich der größte Wirtschaftsraum der Welt durchaus befreien: Die EU-Außengrenze muss gemeinsam gesichert werden und zügig geklärt werden, welcher Flüchtling bleiben kann und wer nicht. Und dann geht es um die gerechte Verteilung, bei der die großen EU-Geldgeber ihren „monetären“ Einfluss als Argument durchaus geltend machen können. Sich am großen EU-Buffet laben und nichts zu seiner Zubereitung beitragen, geht nicht.

Schon kleine gemeinsame Erfolge würden so manchem im Südosten Europas die Augen öffnen, dass viele Machtpotenzialträume in Wirklichkeit eher Schäume sind. Man würde schnell merken, dass man es sich nicht mit allen verscherzen kann. Jeder braucht Freunde. Und Europa ist ein großer wirtschaftlicher Freund. Sollten die Handelsbeziehungen einbrechen und die Türkei in schwieriges Fahrwasser geraten, könnte auch die Zustimmung des Volkes zur politischen Leitfigur leiden.

Die EU darf es nicht wie die drei Affen machen
Die Alternative ist für die EU fatal. Sollte sie nichts sehen, nichts hören und nichts sagen, nicht die politische Auseinandersetzung mit der Türkei suchen, könnte sich der Eindruck bei EU-Bürgern einstellen, dass die Wertegemeinschaft abseits von feinen Sonntagsreden keine Hochkonjunktur hat. Wirtschafts- und sozialpolitisch ist die Skepsis gegenüber Europa schon groß genug. Ein Werteverfall wäre jetzt die „Krönung“. Die EU darf nie so etwas wie ein Apfel werden, der durch das Polit-Marketing nach außen zwar schön glänzt, nach innen aber moralisch wurmstichig ist.

Ansonsten wird die EU irgendwann einen hohen politischen Preis zahlen müssen. Vor jeder Parlamentswahl in einem EU-Land müsste man Angst vor extremistischen Wahlergebnissen haben. Und auf einmal haben politische Börsen keine kurzen Beine mehr. Sie wären so lang wie die von Giraffen. Und dagegen kann dann selbst die Geldpolitik keine orthopädischen Kürzungen mehr vornehmen.

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