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Kommentar
14:05 Uhr, 29.12.2020

"Das Kursmuster macht den Aktienbullen Mut!"

HSBC-Chartexperte Jörg Scherer gehört zu den bekanntesten technischen Analysten in Deutschland. Wo im kommenden Jahr Chancen und Risiken für Anleger und Trader lauern, erläutert Scherer in diesem Interview.

Das Jahr 2020 war in jeder Beziehung ein außergewöhnliches Jahr – nicht nur, aber auch an der Börse. Nach einem historischen Crash kam es zu einer schnellen Erholung an den Aktienmärkten. In den USA und inzwischen auch bei den deutschen Indizes wurden neue Rekordstände erreicht. Wie beurteilen Sie die Aussichten für den DAX im kommenden Jahr aus charttechnischer Perspektive?

Scherer: Corona-Krise, Lockdown, negativer Ölpreis, erstmalige Insolvenz eines DAX-Konzerns oder generell Marktbewegungen in Rekordgeschwindigkeit, um nur einige Stichworte zu nennen: 2020 war in der Tat ein ganz besonderes Jahr. Im DAX wurde innerhalb von nur vier Wochen eine Jahresschwankungsbreite von ganzen 5.500 Punkten ausgebildet. Charttechnisch schlägt sich der ganz besondere Aktienjahrgang 2020 beim DAX in einem sogenannten „Außenstab“ nieder. Auf ein höheres Hoch (13.795 Punkte) im Februar folgte im März ein tieferes Tief (8.256 Punkte) als im Vorjahr. Im Rahmen der Technischen Analyse kommt solchen „outside candles“ eine besondere Bedeutung zu. Seit 1988 gab es bei den deutschen Standardwerten insgesamt drei „outside years“ – 1995, 2011 und 2018. Die Folgejahre waren jeweils sehr freundliche Aktienjahre mit Zuwächsen deutlich über 20 Prozent. Im Mittel legte der DAX nach einem Außenstab sogar um 27 Prozent zu. Das Kursmuster macht den Aktienbullen also Mut für das neue Jahr. Mit dem nur dreimaligen Auftreten ist die Grundgesamtheit im DAX zwar sehr gering, aber ein Blick auf den Dow Jones seit 1897 bekräftigt die positive Aussage: In den letzten gut 120 Jahren wurden in den USA insgesamt acht Außenstäbe ausgebildet. Mit einer Wahrscheinlichkeit von 75 Prozent brachten die folgenden zwölf Monate jenseits des Atlantiks Kursgewinne. Aber zurück zum DAX: Das Tief vom März bei 8.256 Punkten war letztlich ein nahezu idealtypisches Pullback an die alten Ausbruchsmarken in Form der Hochpunkte von 2007 und 2000 bei 8.152/8.136 Punkten. Anleger sollten diese „worst case“-Haltezone unbedingt im Hinterkopf behalten. Auf der Oberseite stechen dagegen die letzten vier fast deckungsgleichen Jahreshochs zwischen 13.426 und 13.903 Punkten hervor. Aufgrund der fast deckungsgleichen Jahreshochs erwarten wir bei einem neuen Allzeithoch einen nachhaltigen Ausbruch. Die 261,8 %-Fibonacci-Projektion des Kursrückgangs von Ende 2007 bis März 2009 bietet im Erfolgsfall sogar Raum bis rund 15.534 Punkte. Dieses Anlaufziel harmoniert ganz gut mit der 138,2 %-Projektion des Rückschlags vom Frühjahr 2020 (15.911 Punkte). Bis Jahresmitte könnten also durchaus Kurse im Bereich von rund 15.500 Punkten angesteuert werden. Dennoch sollten Anleger im neuen Jahr nicht zu sorglos agieren. Unter saisonalen Gesichtspunkten ist vor allem das 3. Quartal korrekturanfällig. Ein möglicher Rückschlag fällt zwar vermutlich nicht so dramatisch wie im Februar/März 2020 aus, sondern erinnert vielleicht eher an Q4/2018. Dennoch könnte der Hochsommer einen Wendepunkt markieren. Die „Lackschuh“-Periode seit März 2020 droht dann schnell in „Barfüßigkeit“ umzuschlagen, sodass im 3. Quartal eher „all terrain“-taugliches Schuhwerk gefragt sein sollte.

Die US-Indizes eilen bereits seit Monaten wieder von Rekordhoch zu Rekordhoch. Wie schätzen Sie die Aussichten für die wichtigsten Indizes an der Wall Street ein?

Scherer: Ein neues Allzeithoch stellt eines der besten Signale der Technischen Analyse dar. Konstruktiv werten wir darüber hinaus, dass das alte Jahr wohl in Schlagdistanz zum Rekordlevel beendet wird. Beide Phänomene liefern wichtige Steilvorlagen für Anschlussgewinne in 2021. Charttechnisch kommen zwei weitere Katalysatoren hinzu. Da ist zum einen die Auflösung der seit September bestehenden (aufwärts-)trendbestätigenden Flagge. Zum anderen bildet der gesamte Rückschlag des Jahres 2020 letztlich ein „V-förmiges“ Kursmuster. Interessant ist zudem das Fibonacci-Cluster bei rund 30.000 Punkten im Dow Jones. Hier fällt die 261,8 %-Projektion der Rally von 1974 bis 2000 (29.840 Punkte) mit dem entsprechenden Pendant des Hausseimpulses von 1932 bis 2000 (30.697 Punkte) zusammen. Ein Sprung über die angeführten Fibonacci-Hürden – gleichbedeutend mit einer nachhaltigen Notiz oberhalb der runden Kursmarke von 30.000 Punkten – dient sogar nochmals als potenzieller Katalysator. Im Erfolgsfall definiert die Trendlinie, welche die Hochs von 1929 sowie 1999/2000 verbindet, das nächste Anlaufziel (2021 bei 33.392 Punkten). Die Möglichkeit eines Schlusskurses nahe des Jahreshochs – und damit auf Allzeithoch – bietet sich auch beim S&P 500. Da zudem der zugrunde liegende Haussetrend absolut intakt ist, stellt dessen Fortsetzung im neuen Jahr (zunächst) unser Basisszenario dar. Auf der Unterseite sollten Investoren allerdings die Marke von 3.200 Punkten, die in in vier der letzten fünf Quartale eine Rolle gespielt hat, als „Katastrophen-Stopp“ für das neue Jahr im Hinterkopf behalten. Aufgrund des bereits seit 2009 bestehenden Basisaufwärtstrends einerseits sowie immer schnelleren Marktbewegungen andererseits gewinnt ein gleichermaßen striktes wie stringentes Risikomanagement eindeutig an Bedeutung.

Die Aktien der großen US-Technologiekonzerne waren bereits vor der Corona-Krise die unangefochtenen Outperformer. Wie stehen die Chancen, dass es dabei auch im kommenden Jahr bleibt?

Scherer: Die Outperformance der Technologietitel hat sich zu Jahresbeginn 2020 nochmals deutlich beschleunigt. Charttechnisch schlägt sich diese Entwicklung in einem extrem dynamischen Ausbruch im Ratio-Chart zwischen dem Nasdaq100 und dem S&P 500 aus einem seit der Finanzmarktkrise bestehenden Aufwärtstrendkanal nieder. In der Konsequenz ist die Outperformance von „big tech“ zwar absolut intakt, aber auch so heißgelaufen wie niemals zuvor. Sowohl der RSI als auch der MACD erreichen absolute Rekordhöhen. Manchmal sind langfristige Prognosen einfacher als der kurzfristige Ausblick auf das neue Jahr. Die letzten 15 Jahre waren zweifelsohne das Zeitalter der Technologietitel. In der folgenden Dekade dürfte es aber schwerfallen, den Lauf der letzten 15 Jahre zu wiederholen. Obwohl sich kurzfristig keine Trendwendesignale identifizieren lassen, dokumentiert der Ratio-Chart den Eintritt in eine Übertreibungsphase. Letzten Endes sorgt das Verhältnis Nasdaq100® zu S&P 500® damit für ein weiteres Plädoyer im neuen Jahr nicht zu sorglos, sondern vielmehr mit einem strikten Stoppmanagement zu agieren.

Zur Bekämpfung der Corona-Krise greifen die Notenbanken zu einem seit der Finanzkrise mehr als bekannten Mittel, dem billigen Geld. Zudem sind auch die Inflationserwartungen in den vergangenen Monaten gestiegen. Beides sollte eigentlich den Goldpreis beflügeln, doch seit August gab es beim gelben Edelmetall kein neues Hoch mehr. Wie stehen die Chancen auf weiter steigende Notierungen Gold im kommenden Jahr?

Scherer: Das Jahr 2020 war auch auf der Edelmetall- und Rohstoffseite alles andere als ein Selbstläufer. Mit unserer Überschrift: „Der Beginn einer neuen Rally“ im letztjährigen Jahresausblick konnten wir dank des neuen Allzeithochs bei 2.072 USD einen Prognosetreffer landen. Allerdings hat der Märzrückschlag die Nerven von Edelmetallinvestoren nochmals auf eine harte Probe gestellt. Aus der abgeschlossenen langfristigen Bodenbildung hat der Goldpreis 2020 weiter Kapital schlagen können. Lohn der Mühen war Anfang August ein neues Allzeithoch bei 2.072 USD. Ein kleines Haar in der Suppe gibt es allerdings: Diesen Rekordstand konnte das Edelmetall nicht ganz über die Ziellinie retten. Vielmehr musste der Goldpreis das alte Allzeithoch vom September 2011 bei 1.920 USD wieder preisgeben. Dennoch steht mit hoher Wahrscheinlichkeit der höchste Jahresschlusskurs der Geschichte zu Buche. In Schlagdistanz zum alten Rekordhoch sowie vor dem Hintergrund des grundsätzlich trendfolgenden Charakters der Technischen Analyse können technisch motivierte Anleger also nicht wirklich „bearish“ in das neue Jahr gehen. Wenn Anleger die Kursentwicklung von Ende 2012 bis Mitte 2020 als „rounding bottom“ interpretieren, dann ergibt sich – abgeleitet aus der Höhe der Formation – sogar ein langfristiges Anschlusspotenzial bis rund 2.500 USD. Die Schlüsselrolle kommt dabei der Nackenlinie des „rounding bottom“ bei 1.800 USD zu. Das Rebreak dieser Marke und damit das Konterkarieren der unteren Umkehr gilt es zukünftig unbedingt zu verhindern.

Ist die charttechnische Ausgangssituation bei Silber ähnlich wie bei Gold, oder gibt es größere Unterschiede zwischen den Edelmetallen?

Scherer: Bei Silber gelang die Bodenbildung, welche beim Goldpreis bereits 2019 glückte, erst im Verlauf der letzten zwölf Monate. Dank des Spurts über das 2016er-Hoch bei 21,11 USD liegt beim Silberpreis nun ebenfalls eine mehrjährige Bodenbildung vor. Da die Ausbildung der unteren Umkehr mehr als sechs Jahre in Anspruch nahm, sollten die positiven Implikationen der Trendwende Investoren (hoffentlich) auch länger als sechs Monate begleiten. Die zeitliche Dimension macht also Mut! Für eine nachhaltige Wende spricht noch ein anderer Aspekt: Die Jahreskerze 2020 stellt einen massiven Außenstab dar! Mit einem Jahrestief bei 11,62 USD und einem Jahreshoch bei 29,84 USD umschließt die aktuelle Kerze alle Pendants seit 2014. Diese massive „outside candle“ unterstreicht den Charakter eines charttechnischen „game changers“ und belegt die Nachhaltigkeit der Trendwende von 2020. Das Verlaufshoch von Anfang August bei knapp 30 USD markiert im Erfolgsfall das nächste Etappenziel. Perspektivisch winkt sogar ein Anlauf auf die Hochpunkte von 2012 bei 35,36 USD bzw. 37,46 USD. Allerdings gilt es, ein Rebreak der Nackenzone der unteren Umkehr bei 21,11 USD (2016er-Hoch) unbedingt zu verhindern. Bei rund 21 USD liegt u.a. deshalb ein sinnvoller Stop-Loss im neuen Jahr.

Der Ölpreis der Sorte WTI ist im Zuge des Corona-Crashs kurzzeitig in den negativen Bereich gefallen. Auf welche Überraschungen müssen sich Trader bei Öl im kommenden Jahr wohl einstellen?

Scherer: Keine Frage, auch für die US-Sorte WTI hielt das Jahr 2020 einige Herausforderungen bereit. In allererster Linie ist hier natürlich der negative Ölpreis von -40 USD im Rahmen der Marktverwerfungen von Februar/März/April anzuführen. Anleger mussten also lernen, dass nicht nur Renditen, sondern auch Rohstoffnotierungen in negatives Terrain abtauchen können. Die „selling climax“ vom Frühjahr lässt zusammen mit der dynamischen Erholung vom Mai einen ganz besonderen „morning star“ entstehen. Dieses Candlestickumkehrmuster steht exemplarisch für die seither vollzogene Trendwende. Nach einer Verschnaufpause und einem Pullback in Richtung der Tiefs von 2008/09 bei gut 32 USD hat der Ölpreis im November wieder Fahrt aufgenommen. Per Saldo entsteht eine weitere konstruktive Candlestickformation in Form eines „bullish engulfing“. Der November-Kerzenkörper umschließt dabei sogar die Pendants der vier vorangegangenen Monate. Aktuell spricht einiges für die Fortsetzung der Erholung seit dem Frühjahr. Die 200-Wochen-Linie (akt. bei 53,13 USD) markiert dabei ein erstes, sinnvolles Anlaufziel. Eine erste Unterstützung auf der Unterseite stellen die horizontalen Ausbruchsmarken bei 42 USD dar. Von sehr viel größerer Bedeutung ist allerdings unseres Erachtens das Tief der besonderen November-Kerze bei 33,64 USD. Ein Rebreak dieses Levels würde wieder aufkommenden Stress am Ölmarkt signalisieren und ist deshalb als KatastrophenStopp für 2021 besonders gut geeignet.

Der Euro hat sich im vergangenen Jahr auffällig stark gegenüber dem Dollar entwickelt, während die US-Währung auch gegenüber anderen Währungen schwächelte. Können die Euro-Bullen auf weitere Kursgewinne im neuen Jahr hoffen?

Scherer: Wir setzen uns schon seit längerer Zeit intensiv mit einer Trendwende beim Währungspaar EUR/USD auseinander. Aus Sicht der europäischen Einheitswährung ist ein nachhaltiger Trendbruch eines der ganz großen Ziele des neuen Jahres! Im Jahreschart steht nach zwei roten Kerzen erstmals wieder eine weiße Jahreskerze zu Buche. Das „reversal“ der letzten zwölf Monate nährt trotz eines um Haaresbreite verpassten „bullish engulfing“ die Hoffnung auf Ausprägung eines höheren Tiefs. Nach den beiden Tiefs der Jahre 2016/17 bei gut 1,03 USD signalisiert das höhere Low von 2020 (1,0635 USD) den abebbenden Verkaufsdruck sowie den laufenden Gezeitenwandel. Im Zusammenspiel mit dem Basisabwärtstrend seit 2008 entsteht bei 1,20 USD ein idealtypischer Kreuzwiderstand. Bei einem nachhaltigen Befreiungsschlag über dieser Marke kann die Kursentwicklung seit 2008 als trendbestätigende Flagge interpretiert werden! Damit würde das Szenario einer EUR-Bodenbildung deutlich an Konturen gewinnen. Ein Sprung über das Vorquartalshoch bzw. ein Schlusskurs auf Jahreshoch – verbunden mit einer nachhaltigen Rückeroberung des langfristigen Durchschnitts – würden die Ambitionen der EUR-Bullen zusätzlich unterstreichen. Lohn der Mühen wäre im Erfolgsfall ein Anlauf auf das Mehrjahreshoch von Anfang 2018 bei 1,2555 USD. Jenseits dieser Marke wäre sogar eine langfristige EUR-Bodenbildung Realität.

Vielen Dank für das Gespräch! (Die Fragen stellte Oliver Baron.)

Den kompletten Jahresausblick von Jörg Scherer mit Aussagen zu zahlreichen weiteren Basiswerten können Sie in der aktuellen Ausgabe des HSBC-Kundenmagazins "MarktBeobachtung" hier kostenlos nachlesen.

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Jörg Scherer, Leiter Technische Analyse bei HSBC Deutschland

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