Anleihen schlagen Aktien
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Die Anleihenrenditen sind stärker gestiegen als die Aktienrenditen. Bisweilen ist der Abstand jetzt so groß wie seit über 20 Jahren nicht mehr. Nach drei Verlustjahren in Folge halte ich Anleihengewinne daher wieder für wahrscheinlicher, und auch mit einem klassischen Balanced-Portfolio könnte man wieder mehr verdienen. Der Ausblick bleibt zwar verhalten, doch sollte man den Zinseszinseffekt nicht unterschätzen.
Renditelücke: Um die Jahrtausendwende fiel die US-Zehnjahresrendite unter die Gewinnrendite amerikanischer Aktien. Die Gewinnrendite ist der Kehrwert des Kurs-Gewinn-Verhältnisses. Würden alle Gewinne als Dividenden an die Aktionäre ausgeschüttet, würden sie also genau diese Rendite erzielen. In der Praxis erhalten die Aktionäre aber nur einen Teil der Gewinne als Dividenden. Der Rest wird thesauriert – etwa um künftiges Wachstum zu finanzieren – oder fließt ihnen von Zeit zu Zeit durch Aktienrückkäufe zu. Dennoch ist die sogenannte Gewinnrenditelücke eine klassische Kennziffer für die relative Bewertung von Anleihen gegenüber Aktien. Gerade erst ist in den USA die Zehnjahresrendite über die Gewinnrendite von Aktien gestiegen. Manche Beobachter meinen daher, dass Anleihen gegenüber Aktien sehr viel attraktiver geworden sind.
Man kann aber auch die Dividendenrendite mit den Anleihenrenditen vergleichen. In den meisten großen Volkswirtschaften ist sie nach der internationalen Finanzkrise über die Anleihenrenditen gestiegen, die wegen der Käufe der Notenbanken massiv gefallen sind. In den USA und Europa liegt die realisierte Dividendenrendite jetzt unter der Rendite von Staatsanleihen, deren Coupons nahezu sicher sind. Aber niemand kann garantieren, dass ein Unternehmen immer Dividenden zahlt.
Umkehr: Wenn die Anleihenkäufe der Notenbanken, das sogenannte Quantitative Easing, Aktien gegenüber Anleihen attraktiver machen sollten, hat das funktioniert. Aber das kehrt sich jetzt um: Die Anleihenrenditen steigen. Heute liegt die Gewinnrendite des kapitalisierungsgewichteten S&P 500 leicht unter der US-Zehnjahresrendite, und die des gleichgewichteten Index nur knapp einen Prozentpunkt darüber. Auf dem Höhepunkt der Coronakrise hatten Aktien 6 bis 7 Prozentpunkte und in den 20 Jahre vor der Pandemie zwischen 2 und 5 Prozentpunkten Vorsprung.
Wo investieren? Die Dividendenrendite amerikanischer Aktien beträgt etwa 1,6 Prozent, die fünfjährige Staatsanleihenrendite 4,9 Prozent und die Rendite eines repräsentativen Unternehmensanleihenindex fast 6,5 Prozent. Im Schnitt müssten die Dividenden jedes Jahr um mindestens 3,3 Prozent wachsen, damit Aktien es mit Anleihen aufnehmen können – und wenn wegen der naturgemäß höhere Aktienvolatilität eine Risikoprämie verlangt wird, sogar stärker. Natürlich könnten bei einem guten Konjunkturausblick die Aktienkurse steigen, aber auch das ist nicht garantiert. Konsens ist, dass die S&P-500-Gewinne nächstes Jahr um etwa 10% zulegen. Dann wäre am Aktienmarkt alles in Ordnung. Da aber der Konjunkturausblick nach wie vor recht verhalten ist, spricht sicher manches für eine konservativere Asset-Allokation.
Risikoprämien ändern sich: Auch in Großbritannien ist die Dividendenrendite unter die Benchmark-Staatsanleihenrendite gefallen, das erste Mal seit 2010. In Europa und Japan ist der Abstand zwar noch leicht positiv, aber wegen steigender Anleihenrenditen zurückgegangen. Die Risikoprämien von Anleihen seien jetzt höher, heißt es, weil man nicht wisse, welcher Zins in Zukunft zu den Inflationszielen der Notenbanken passen würde. Die Risikoprämien von Aktien scheinen hingegen gefallen zu sein. Man darf aber nicht vergessen, dass Aktien im Vergangenheitsdurchschnitt etwa dreimal so volatil waren wie Staatsanleihen.
Ertragserwartungen: Wer sagt, dass Aktien gegenüber Anleihen viel zu teuer geworden sind, macht es sich vielleicht zu einfach – auch wenn man nach drei Verlustjahren in Folge schon gute Argumente für Anleihen braucht. Allerdings haben sich die risikoadjustierten Ertragserwartungen durch den starken Anstieg der Anleihenrenditen verändert. Zwei Punkte sind wichtig: Erstens spricht wegen der hohen Renditen viel dafür, dass man mit Anleihen verdient. Wenn der US-Markt seit 1973 der Maßstab ist, kann man bei der derzeitigen Zehnjahresrendite von 4,9 Prozent mit einem Einjahresertrag von knapp zehnt Prozent und einem Zweijahresertrag von 17 Prozent rechnen. Natürlich sind die Vergangenheitsergebnisse keine Garantie für die Zukunft, doch waren Renditen wie heute oft ein guter Einstiegszeitpunkt. Bei einem Anlagehorizont von mindestens einem Jahr lag man stets im Plus.
Der zweite Punkt ist, dass Anleger wegen der höheren Ertragserwartungen für Anleihen ein typisches Balanced-Portfolio aus beiden Assetklassen heute vielleicht anders einschätzen. Vor dem Quantitative Easing hat man mit Anleihen meist verdient. Verlustphasen waren kurz und milde, ganz anders als in der beispiellosen Anleihenbaisse seit 2021. Meist hat man mit Anleihen verdient, wenn Aktien im Minus lagen, etwa in der Rezession. Bei einer stabilen Konjunktur lagen Anleihen und Aktien gleichermaßen im Plus; die Coupons von Anleihen glichen mögliche Kursverluste durch steigende Renditen mehr als aus und Aktien profitierten vom Wirtschaftswachstum. Vor der internationalen Finanzkrise waren zehn Prozent Jahresertrag für ein klassisches 60/40-Portfolio (60 Prozent Aktien, 40 Prozent Anleihen) völlig normal. In den letzten fünf Jahren verdiente man aber nur null bis sechs Prozent, je nachdem, ob man im euro-, sterling- oder US-dollardenominierte Titel investiert hatte. Stets waren die Erträge aber niedriger als zu der Zeit, als die Anleihenrenditen letztmals so hoch waren wie jetzt.
Vergiss die Risiken nicht: Ich weiß nicht, ob die Märkte jetzt an einem Wendepunkt stehen. Vieles belastet die Marktstimmung. Die Leitzinsen sind hoch, und frühestens Mitte nächsten Jahres wird mit Senkungen gerechnet. Geldmarktanlagen sind noch immer eine ernsthafte Konkurrenz. Doch wer am Geldmarkt investiert, muss mit einem Wiederanlagerisiko leben, vor allem wenn die Notenbanken mit Zinssenkungen beginnen. Die anderen Risiken liegen auf der Hand: eine mögliche Rezession in wichtigen Ländern mit Auswirkungen auf Unternehmensgewinne und Kreditqualität, eine Eskalation des Kriegs im Nahen Osten, der andauernde Krieg in der Ukraine und das schwierige Verhältnis zwischen den USA und China, vor allem wenn Donald Trump Präsidentschaftskandidat bleibt.
Nachlassende Risikobereitschaft: Die plötzliche Veränderung der Risikoprämien hat Anleihen gegenüber Aktien wieder attraktiver gemacht. Über ein bis drei Jahre, dem für die meisten Anleger relevanten Zeitraum, dürfte man trotz mancher Schwankungen mit Anleihen verdienen. Solange die Inflation aber deutlich über dem 2%-Ziel liegt, bleibt die Geldpolitik unsicher. Anleger könnten daher weitere Zinserhöhungen befürchten. Mein Eindruck ist auch, dass immer mehr Broker vor Bonitätsproblemen in den USA, schwachem Konsum in Großbritannien und einer generellen Konjunkturschwäche im Euroraum mahnen. Noch immer ist in den USA im nächsten Monat ein Government Shutdown denkbar, der nicht ohne Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum bliebe. Konjunkturprognosen wären dann ebenfalls schwieriger, weil dann keine Wirtschaftszahlen publiziert würden. All das spricht für eine nachlassende Risikobereitschaft.
Hauptthema Inflation – auch 2024 noch? Das größte Problem bleibt aber die Inflation. Konsens ist, dass sie 2024 weiter fällt. Aber wir wissen nicht, wie sich die Inflationsdynamik geändert hat und wie die strukturellen Schocks der letzten Jahre die Preispolitik der Unternehmen verändern. Die Löhne der britischen Staatsangestellten sind dieses Jahr stark gestiegen. Wird das so weitergehen? Unternehmen haben die hohe Inflation für Preiserhöhungen genutzt; die Rohstoffmärkte könnten auf Lieferstörungen und den Klimawandel reagieren. Hoffentlich wirken die letzten 20 Jahre mit ihrer niedrigen Inflation noch nach, sodass wir einen erneuten Inflationsanstieg vermeiden können. Dann könnte ein 60/40-Portfolio wegen seiner nominalen und realen Erträge interessant sein.
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