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17:56 Uhr, 04.07.2002

Wall Street Veteranen: Kein Bullmarket ohne Selloff

Niemand hätte das gedacht. 27 Monate sind es mittlerweile. Der Bär ist los. Mehr als je zuvor. An der Wall Street hat der Großteil der Experten nicht mit einem Bärenmarkt diesen Ausmaßes gerechnet. Wall Street Veteranen hatten den Bärenmarkt von 1973 und 1974 im Gedächnis. Vom Winde verweht scheinen sie, die Zeiten der Kursverdoppelungen und -verdreifachungen innerhalb weniger Tage und Wochen. Anleger, die damals inmitten der Euphorie die Börse zu ihrem Beruf machten, sehen sich nun mit einer ganz anderen Realität konfrontiert.

"Ich denke nicht einmal, dass wir in der Nähe" einer Wende sind, so Paul Desmond, Präsident von Lowry´s Research Reports in Palm Beach, Florida.

Der Aktienmarkt fällt, bis auf wenige Zwischenerholungen, seit April 2000 wie ein Stein. Besonders in den letzten sechs Wochen hat sich die Situation entscheidend verschärft. Aber Desmond, der sich lange Zeit mit der Erforschung von Bullenmärkten beschäftigte, wartet noch auf den endgültigen Knall. Dieser, so meint er, würde die Bären zurück in ihren Bau drängen und ebne den Weg für einen neuen Bullenmarkt.

"Wir sehen wieder einen erhöhten Grad an Besorgnis auf Seiten der Investoren," meint er erkannt zu haben. "Wir haben mit Maklern gesprochen und sie haben uns mitgeteilt, dass sich einige Kunden meldeten und die Schließung des Aktienkontos verlangten. Das ist der Beginn, aber wir haben die Panik noch nicht erreicht, die es normal gibt."

Laut Lowry´s Research fehle der aktuellen Abwärtsbewegung also das deutliche Ende. Seit 1993 gab es, zum Beispiel in den Bärenmärkten von 1973-74 und 1980-81, Panikverkäufe. Panikverkäufe, an denen 90 Prozent des Volumens auf der Sell Side lag. Auf diesen Schreckenstag folgte eine Trading Session, wo das Reversal griff. Investoren, so Lowry´s Research, würden dann denken, dass die Verkäufe übertrieben waren. Die sprichwörtlichen Kanonen haben bisher noch nicht wirklich gedonnert.

Und obwohl der Markt potentiell das dritte Jahr in Folge im roten Bereich schließen könnte, sind Investoren zwar besorgt, aber es hält sich in Grenzen.

"Ich rege mich darüber nicht so sehr auf," sagte Steven Finnegan, ein 29 jähriger Immobilienhändler aus Atlanta. "Das irritiert mich nur."

Finnegan stellt seine Aktien im Portfolio nicht glatt. Auch wenn die für 250.000 Dollar gekauften Aktien mit 50 Prozent in der Kreide stehen. Er sitzt stattdessen mit den anderen Anlegern auf der Zuschauertribüne und wartet auf Kurse, zu denen er wieder kaufen kann.

"Ich verwende zur Zeit nicht sehr viel Anstrengungen, mein Portfolio zu überprüfen," bekennt Finnegan.

Die Anzeichen mehren sich aber, dass Investoren zunehmend entnervt, wenn nicht panikartig werden. Die Marktindices haben neue Tiefs markiert. Der Nasdaq fällt auf einen Stand, der seit Mai 1997 nicht mehr gesehen wurde und unterbot damit auch das Tief bei 1,423.19 Stellen, dass nach dem 11. September berührt wurde. Der Dow Jones ist erneut unter 9,000 Punkten.

"Ein Finanzberater sagte mit, dass vier seiner Kunden es einfach nicht mehr tolerieren konnten, weiterhin Geduld zu üben und einfach abzuwarten. Sie sagten: "Schaffen Sie mich hier raus," sagt Kathleen Gurney, CEO von Financialpsychology, einem Markt Research Haus aus Kalifornien.

"Ich habe das noch nie so schlimm erlebt," fügt sie hinzu.

Wenn man aber die Historie betrachtet, muss es noch eine Menge mehr dieser Investoren geben, die sich so entscheiden. Sie müssen vor dem Markt kapitulieren.

"Der Markt muss durch eine Periode laufen, wo die Leute sagen: "Mir ist die Qualität der Aktien egal, ich will nur weg vom Aktienmarkt," erläutert Desmond. "Es ist eine total irrationale Entscheidung, Aktien grundlos zu verkaufen."

Immer, wenn der Markt einen Sell Off hatte, wie im April 2001, folgten ihm Rallyes. Diese waren aber laut Desmond nicht stark genug, um den Beginn eines Bullenmarktes zu signalisieren. Und das ist auch der Grund, sagt sie, warum der Markt bis ins nächste Jahr hinein fallen wird.

"Es ist schwer zu sagen, wie schlimm es noch werden kann," sagt Peter DiTeresa, leitender Fondsanalyst bei Morningstar, einem in Chicago ansässigen Research und Investor Services Unternehmen.

"Es ist sehr oft der Fall, dass die Dinge am Ende eines Bärenmarktes wirklich übel werden, bevor sich eine Besserung abzeichnet," fügt er hinzu.

"Der Markt muss auf fruchtbaren Boden fallen," meint ein Händler lapidar.

Doch selbst wenn der Bärenmarkt ein Ende findet, wird sich nicht alles gleich wieder verdoppeln oder verdreifachen. Finnegan, der Aktien vor März 2000 kaufte, gibt zu: "Ich wurde von der Gier verführt."

"Ich dachte, ich könnte 40 oder 50 Prozent mit Techaktien machen und verkaufte die Blue Chips, die 20 Prozent versprachen. In Wirklichkeit hätte ich mich mit 8 Prozent zufriedengeben sollen."

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