Wahrheit tut weh
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Wahrheiten brauchen manchmal etwas länger, bis man sie akzeptiert. Das kennen viele, die früh in den Spiegel schauen, oft zu tief ins Glas oder auf den Kontoauszug des letzten Monats. Es ist wirklich nicht leicht, den Dingen ins Auge zu sehen, die andere längst bemerkt haben. Wer will schon wissen, dass man Pickel hat oder ein zu dickes Hinterteil, vielleicht auch zuwenig Geld oder zuviel Dummheit. Auch die Wahrheit mit dem Alter... Sie kennen das vielleicht. Das Offensichtliche zugeben zu können, ist nicht nur eine Stärke, sondern verlangt auch ein Prozess. Manchmal dauert beides etwas länger. Gratulation an dieser Stelle an Ben Bernanke. Als oberster US-Währungshüter hütet er zwar weniger seine Währung, sondern sich mehr davor, das Wort „Rezession“ über die Lippen zu lassen. Er sprach in dieser Woche auch eher von einem „Rezessiönchen“, also die Sicherheit, dass das Licht am Ende des Tunnels nicht der entgegenkommende Schnellzug ist. So etwas gibt es ja in Amerika eigentlich nicht gibt, weil es das nicht geben darf. Aber jetzt hat die Börse einen Hauch mehr an Klarheit, und ebenso die 303 Millionen der US-Bürger. Vielen von ihnen wurde gerade ihre Kreditkarte gesperrt, der Job gekündigt und das überteuerte Häuschen zwangsversteigert. Auch die Zahl der Privatinsolvenzen stieg im ersten Quartal um 27 Prozent. 228.335 US-Bürgern ging damit in den ersten drei Monaten des Jahres die Luft zum Shoppen aus. Die Zahl der Autoverkäufe wetteifert gerade mit der Zahl der Neubauverkäufe um den Sieg im schnelleren Abstieg. Auch der Wert des US-Dollars hält bei diesem Wettlauf wacker mit. Und die restlichen Wirtschaftsdaten zeigen an, was Ben Bernanke jetzt noch vorsichtig „Rezession“ nennt. Klarheit hat aber auch immer etwas Klärendes. Erst wenn das Kind im Brunnen ertrunken ist, hat man wenigstens eine eindeutige Diagnose.
Der Weg zur Erkenntnis ist meist ein steiniger. Ich weiß nicht, in welcher Welt so mancher Finanzakademiker lebt. In den oberen Etagen mag der Blick nach unten recht verschwommen sein. Abgedunkelte Autoscheiben bewahren etliche „Entscheider“ vor garstigen Blicken. Alles, was man braucht ist eine gute Presseabteilung und Unmengen von Daten. Wer die ganze Zeit über diesen Zahlen hockt oder auch hocken lässt, musste bislang zur Erkenntnis kommen, dass im Land der unbegrenzten Bilanzierungsmöglichkeiten die Welt in bester Ordnung ist. Selbst der US-Finanzminister glaubte Ende Januar nicht an eine Rezession und sprach noch Mitte März von einer guten Verfassung des US-Finanzsektors. Glauben heißt eben nicht wissen. Zur Not biegt man eben die eine oder andere Zahl etwas zurecht. Hier ein paar preiswertere Computer und etwas billiges Spielzeug aus China hinzugerechnet, da etwas Benzin und ein paar Nahrungsmittel weggelassen, fertig ist die wunschgemäße Teuerung. Apropos Nahrungsmittel: 2005 gab es 10,8 Mio. Hungernde in den USA. Seit 2006 sind es offiziell Menschen mit „sehr geringer Nahrungssicherheit“. Aus Abriss wird Rückbau, aus Stagnation Nullwachstum und aus Schulden ein Belastungsplus. Ha ha ha !
Die Realität hat inzwischen die Märkte eingeholt. Die Banken sind heute schon vorsichtiger. Die Kreditvergabe wird stocken und damit ihre Einnahmen. Die Finanzkrise bahnt sich ihren Weg in die Realwirtschaft. Es fällt schwer zu glauben, dass die Finanzwelt in Ordnung sei, wenn sie am Tropf der Notenbanken hängen und die monetären Pumpen Überstunden schieben. Ein Normalzustand ist das nicht. Vielleicht wird es aber in wenigen Wochen schon normal sein, das Wort Rezession im Munde zu führen. Auch daran wird man sich wohl gewöhnen, wie an so viele Dinge, die einfach nur hässlich sind.
Bis vor wenigen Tagen habe ich mich auch nicht getraut, das Wort
R e z e s s i o n in die Tastatur zu hauen, aus Sorge, der Computer fliegt mir spontan auseinander. Ich dachte immer an „robustes Negativwachstum“, an eine „leicht eingetrübte Wachstumsdelle“ oder an „Dingsda“. Man kann ja heutzutage nicht mehr sicher sein, wer den PC schon alles angezapft hat, heimlich natürlich und alles zu meiner eigenen Sicherheit.
Jetzt, da wir alle ahnen befürchten und wissen, dass die US-Wirtschaft vor einem Abgrund steht, und schon bald einen Schritt weiter sein könnte, gibt es die ersten, die das D-Wort aussprechen – Depression.
D e p r e s s i o n ? Jetzt muss ich mich aber beeilen! Mein PC zerstört sich in wenigen Sekunden.
© Frank Meyer
TV-Moderator auf n-tv, www.frank-meyer.tv
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