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16:03 Uhr, 15.01.2008

Von einer Boomregion zur gefährdeten Zone

Die baltischen Staaten galten lange Zeit als die Wunderknaben in Europa. Und das zu Recht: Denn das, was die Länder Estland, Lettland und Litauen seit der Wiedererlangung der Unabhängigkeit im Jahr 1990 auf die Beine gestellt haben, ist wirklich aller Ehren wert. Die Volkswirtschaften vor Ort boomen seit Jahren und uns hat das Wirtschaftswunder im Frühjahr 2003 sogar zur Verfassung einer mehrseitigen Baltikum-Sonderstudie veranlasst. Wer damals dem Aufruf zu einem Investment an den baltischen Börsen gefolgt ist, der hat das sicherlich nicht bereut. Denn wie gut es an den dortigen Börsen lange Zeit gelaufen ist, zeigt der untenstehende Chart des OMX Baltic Index.

Auch heute noch fallen die Wachstumsraten eindrucksvoll aus. So ist das Bruttoinlandsprodukt in Litauen im dritten Quartal um 10,8 Prozent gestiegen und in Lettland sogar um 11,1 Prozent. In Europa waren das die beiden Spitzenwerte. Auch in Estland wuchs die Wirtschaft mit einer ansehnlichen Rate von 6,4 Prozent. Allerdings war das die schwächste Zuwachsrate in den vergangenen vier Jahren, was bereits auf erste Bremsspuren schließen lässt. Echte Sorgen bereiten aber andere Daten. Zu nennen sind da in erster Linie die stark steigenden Inflationsraten und die viel zu hohen Leistungsbilanzdefizite. So ist die Inflation in Litauen im November auf 7,8 Prozent gestiegen, in Estland auf 9,1 Prozent und in Lettland sogar auf 13,7 Prozent. Was die Leistungsbilanzdefizite angeht, werden diese für das Jahr 2007 von den Analysten bei Nordea für Litauen auf 12,9 Prozent gemessen am Bruttoinlandsprodukt veranschlagt, für Estland auf 15,0 Prozent und für Lettland auf stolze 27,1 Prozent.

Leistungsbilanzdefizite, Fremdwährungsschulden und Inflation bereiten Sorgen

Bei Besorgnis erregenden Relationen wie diesen wundern die zuletzt aufgekommenen Spekulationen über Währungsabwertungen in der Region nicht. Erst Recht nicht, wenn man den Leistungsbilanzdefiziten und den ausländischen Direktinvestitionen noch die in ausländischen Währungen bestehenden kurzfristigen Schulden gegenüberstellt. Unter diesem Aspekt bezeichnen die Analysten von BCA Research in einer Studie Estland und Lettland als am gefährdesten was Kapitalabflüsse anbelangt. Da die Schulden in Auslandswährung in Lettland immerhin 70 Prozent am gesamten Schuldenstand ausmachen und in Estland sogar 80 Prozent, kann es einem im Fall einer Abwertungsrunde Angst und Bange um die betroffenen Kreditnehmer werden.

Vermutlich werden die baltischen Staaten aber alles tun, um eine Abwertung ihrer Währungen zu verhindern. Aber selbst wenn das gelingt, schadlos wird man vermutlich nicht aus der Sache herauskommen. Am wahrscheinlichsten ist derzeit eine Deflationsspirale, in der die Vermögenspreise deutlich nach unten korrigieren werden. Korrekturbedarf besteht dabei vor allem auch am Immobilienmarkt. Dort sind die Preise in den vergangenen fünf Jahren in Lettland, Estland und Litauen im Schnitt um 37 Prozent, 35 Prozent und 25 Prozent p.a. gestiegen. Steigen die Leitzinsen weiter, dürfte es hier zu Anpassungen nach unten kommen. Am Aktienmarkt hat dieser Korrekturprozess wie der Chart zeigt bereits eingesetzt. Anders als in den guten Vorjahren weist der OMX Baltic Index dadurch seit Jahresanfang ein Minus von fast zehn Prozent auf.

Zeitpunkt zum Einstieg noch nicht gekommen

Will man dieser Entwicklung aus Anlegersicht etwas Positives abgewinnen, dann ist es das, dass durch die Kursverluste und die gleichzeitig weiter deutlich gestiegenen Unternehmensgewinne die zuvor teilweise hohen Bewertungen wieder in vernünftige Bahnen zurückgefallen sind. Dadurch lassen sich auf dem Kurszettel jetzt vereinzelt auch wieder Aktien mit einem einstelligen KGV und einem Kurs-Buchwert-Verhältnis von unter eins finden. Eine Einladung zum breiten Kauf baltischer Aktien stellt das aus unserer Sicht zum jetzigen Zeitpunkt aber noch nicht dar. Denn solange sich die Marktteilnehmer über die Gefahren einer Abwertung und einer Konjunkturschwäche sorgen, dürften die baltischen Börsen eher gemieden werden. Erst wenn sich tatsächlich zeigen sollte, dass die von den Verantwortlichen vor Ort so oft beschworene sanfte Landung der Volkswirtschaften tatsächlich gelingt oder wenn nach einer Kontraktion das Schlimmste ausgestanden sein sollte, ist die Zeit für einen Neueinstieg gekommen. Dann kann es sogar wieder richtig spannend werden, dann langfristig sind wir weiter von der Region überzeugt. Doch bis es so weit ist, werden die Bewertungen vermutlich noch etwas günstiger werden.

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Über den Experten

Jochen Stanzl
Jochen Stanzl
Chefmarktanalyst CMC Markets

Jochen Stanzl begann seine Karriere in der Finanzdienstleistungsbranche als Mitbegründer der BörseGo AG (jetzt stock3 AG), wo er 18 Jahre lang mit den Marken GodmodeTrader sowie Guidants arbeitete und Marktkommentare und Finanzanalysen erstellte.

Er kam im Jahr 2015 nach Frankfurt zu CMC Markets Deutschland, um seine langjährige Erfahrung einzubringen, mit deren Hilfe er die Finanzmärkte analysiert und aufschlussreiche Stellungnahmen für Medien wie auch für Kunden verfasst. Er ist zu Gast bei TV-Sendern wie Welt, Tagesschau oder n-tv, wird zitiert von Reuters, Handelsblatt oder DPA und sendet seine Einschätzungen über Livestreams auf CMC TV.

Jochen Stanzl verfolgt einen kombinierten Ansatz, der technische und fundamentale Analysen einbezieht. Dabei steht das 123-Muster, Kerzencharts und das Preisverhalten an wichtigen, neuralgischen Punkten im Vordergrund. Jochen Stanzl ist Certified Financial Technician” (CFTe) beim Internationalen Verband der technischen Analysten IFTA.

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