Über die Schönheit wiederkehrender Strukturen
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Ein besonders faszinierender Aspekt der Chartanalyse ist für mich die Selbstähnlichkeit, die sich in Chartstrukturen immer wiederfindet. Dieser Begriff, Selbstähnlichkeit, wird in der Mathematik und Physik zur Beschreibung fraktaler Strukturen angewendet, bei denen sich auf unterschiedlichen Längen- und/oder Zeitskalen wiederkehrende, sehr ähnliche aber niemals identische Formen ausbilden. Chartstrukturen sind ein Beispiel dafür. Es gibt sehr viele weitere solche Beispiele in der belebten und unbelebten Natur.
Die Charttechnik macht sich diese wiederkehrenden Muster zunutze, um Prognosen für zukünftige Kursverläufe zu treffen. Unter anderem stellt die Selbstähnlichkeit einen Grundpfeiler der Elliott-Wellen-Analyse dar: Bei diesem Analyseverfahren wird die gesamte Chartstruktur im Wesentlichen aus einer Zusammensetzung weniger fundamentaler Bausteine interpretiert. Das zentrale Chartfragment besteht dabei aus fünf Wellen in Trendrichtung, gefolgt von drei Wellen in entgegengesetzter Richtung. Genaueres dazu kann Ihnen mein Kollege Andre Tiedje berichten, der erst kürzlich ein sehr empfehlenswertes Buch zu diesem Thema veröffentlicht hat.
Die Beobachtung solcher selbstähnlicher Strukturen ist unbestritten, selbst unter den erbittertsten Gegnern der Chartanalyse. Wieso entstehen aber diese mehr oder weniger komplizierten Strukturen wieder und wieder? Sie scheinen im Chart überall aufzutreten, unabhängig davon, ob man einen Zeitraum weniger Stunden im Minutenchart betrachtet oder eine mehrjährige Entwicklung im langfristigen Chart, in dem sich Chartmuster über mehrere Tradergenerationen ausgebildet haben. Bei dieser Frage gehen die Meinungen auseinander. Die Theorie der Elliott-Wellen sieht das massenpsychologische Verhalten als Ursache und Triebfeder dieser Strukturen. Für die Charttechnik-Skeptiker hingegen entstehen diese Strukturen nur durch einen Effekt, der als selbsterfüllende Prophezeiung bekannt ist: Sobald sich "zufällig" eine Struktur ausbildet, die gemeinhin als bullisch interpretiert wird, wird gekauft und damit die "Prophezeiung" bestätigt. Beide Ansichten sind ideologisch geprägt und unbeweisbar. Aus pragmatischer Sicht ist es nicht nötig einen Grund zu finden: Solange die Strukturen verlässlich wiederkehren, erlauben sie Vorhersagen mit guter Wahrscheinlichkeit. So ähnlich wie dunkle Wolken ein Gewitter ankündigen und flockige Cumulus-Wolken ein Zeichen für weiterhin schönes Wetter sind, ohne dass es nötig (oder möglich) ist, die genaue Ursache für deren Entstehung zu kennen.
Eine beeindruckende (Selbst-)Ähnlichkeit findet sich derzeit auch im langfristigen Chart des Dow-Jones Index: Betrachtet man den Verlauf der vergangenen fünf Jahre etwa, so erkennt man eine frappierende Ähnlichkeit mit der Entwicklung zwischen 1924 und 1937. Die entsprechenden Chartsegmente lassen sich fast deckungsgleich überlagern, wenn man die Zeit- und Preisachsen anpasst.
Falls auch der weitere Verlauf ähnlich sein sollte, dann dürften wir im Mai den höchsten Wert für die nächsten Jahre gesehen haben. Der Index sollte demnach in den nächsten Jahren im Bereich des Tiefs von 2010 pendeln, also bei etwa 9800 Punkten. Natürlich ist dies keine zuverlässige Prognose, sondern eher eine Kuriosität. Die Strukturen sind wie gesagt selbstähnlich, aber niemals identisch (so wie die Cumuluswolken übrigens auch). Falls man aber annimmt, dass wiederkehrende markante Chartverläufe eine bestimmte Kursentwicklung zur Folge haben, dann kann der Vergleich mit 1937 zumindest die bullischen Marktteilnehmer etwas nachdenklich stimmen.
Wie auch immer Sie positioniert sind: Ich wünsche Ihnen viel Spaß und viel Erfolg beim Traden!
Dr. Riccardo Hertel
Charttechnischer Analyst und Trader bei GodmodeTrader.de
Offenlegung gemäß §34b WpHG wegen möglicher Interessenkonflikte: Der Autor ist in den besprochenen Wertpapieren bzw. Basiswerten derzeit nicht investiert.
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