Kommentar
12:00 Uhr, 01.12.2008

Themen und Thesen der nächsten 12 – 24 Monate

Die Ereignisse an den globalen Finanzmärkten überschlagen sich. Die gegenwärtig von den Märkten eingepreisten Szenarios lassen sich selbst mit der rapiden Verschlechterung der wirtschaftlichen Rahmendaten kaum erklären. In einem derartigen Umfeld verhalten sich die Finanzmärkte nicht mehr effizient und es zeichnen sich Bewertungsverzerrungen ab, die Investoren mit längerfristiger Orientierung (12 bis 24 Monate) und der Fähigkeit, kurzfristige Volatilitäten zu verkraften, interessante Anlagechancen bieten. Dieses Whitepaper dient zur Orientierung bei der Einschätzung der Anlagechancen, die sich in den vergangenen Monaten an den Märkten abgezeichnet haben.

Die weitere weltwirtschaftliche Entwicklung in den kommenden 12 bis 24 Monaten dürfte vor allem von sechs Themen beherrscht werden: stärkere Regulierung, Fortsetzung des Schuldenabbaus, geringerer Wettbewerb, stärkere Konzentration auf Bilanzstärke, Bedeutung der Emerging Markets und nicht zuletzt höhere Volatilität. Für den Investor bedeutet jedes Thema sowohl Risiken als auch Chancen.

1. Regulierung / staatliche Eingriffe

Eine der wichtigsten Konsequenzen der gegenwärtigen Finanzkrise wird die verstärkte aufsichtsrechtliche Regulierung des Finanzsektors sein. Das könnte sich u. a. in strengeren Anforderungen an die Eigenkapitalunterlegung und einem stärkeren Fokus auf Risikomanagement niederschlagen. In der Praxis wurden diese Verschärfungen bereits durch die Disziplin des Marktes durchgesetzt. In der Folge sahen sich die Banken gezwungen, neben den Mechanismen nach Basel II und anderen Eigenkapitalvorschriften zusätzliche Puffer einzubauen. Zudem werden die Compliance-Regeln im Hinblick auf Leistungsanreize und Entgelte zweifelsohne verschärft. Damit soll der Orientierung an kurzfristigen Gewinnen entgegengewirkt und eine stärkere Deckungsgleichheit der Interessen von Finanzdienstleistern mit denen ihrer Kunden erreicht werden. Nach unserem Dafürhalten werden diese Änderungen zu einer Abwärtskorrektur der langfristigen Profitabilität von Finanzinstituten führen und dabei zugleich das Risikoprofil dieser Institute senken. Letztendlich wird der Verbraucher über höhere Margen bei Finanzdienstleistungen einen Teil der Zeche zahlen.

Im Extrem könnte dies sogar die Rückkehr des Protektionismus bedeuten. Die Einführung von Handelsbarrieren wie Tarifen oder Beschränkungen ausländischer Investments würde eine weitere Gefahr für die Weltwirtschaft darstellen. In Anbetracht der weitgehend deckungsgleichen Ausrichtung der globalen wirtschaftspolitischen Maßnahmen, der Existenz des Euro und der EU sowie der Lehren aus den 1930er Jahren halten wir ein solches Szenario für ausgesprochen unwahrscheinlich. Auch wenn Politiker in diesem Bereich mitunter vollmundige Ankündigungen machen, sind keine echten Konsequenzen zu erwarten.

Auch über steuerliche Anreize werden Regierungen stärkeren Einfluss auf die Wirtschaftswelt ausüben. Dies gilt insbesondere in Ländern, die hier noch viel Spielraum haben. Insofern können wir mit höheren Infrastrukturausgaben in Schwellenländern sowie Steuersenkungen zur Ankurbelung der Binnennachfrage rechnen. Auch was alternative Energieerzeugung und Gesundheitsreformen betrifft, könnten Regierungen stärker aktiv werden.

2. Schuldenabbauprozess

Kern der gegenwärtigen Finanzkrise ist der weltweite Abbau von Fremdverschuldung. Im historischen Vergleich ist dieser Prozess bisher außerordentlich schnell verlaufen. Dafür sprechen auch die Kursstürze auf ein ausgesprochen tiefes Niveau. Normalerweise dauert es vier Jahre, bis die Kurse nach einer Kreditkrise wieder Trendniveau erreichen. Das extreme Ausmaß der Fremdverschuldung bei Banken und Hedgefonds, die Abhängigkeit von „Market-to-market“-Bewertungen sowie die begrenzten Refinanzierungsmöglichkeiten haben zu einer schnelleren Auflösung von Positionen ohne Rücksicht auf die fundamentale Werthaltigkeit geführt. Gleichzeitig besteht immer noch ein Überhang von zwei Millionen Objekten am US-Häusermarkt. Außer in Deutschland sind Immobilien fast überall überbewertet. Zwar wird bereits mit Hochdruck an einer Linderung des Kapitalmangels bei Banken gearbeitet; wie schnell sich dies in einer großzügigen Kreditpolitik niederschlagen wird, ist indes noch ungewiss. Nach unserer Einschätzung werden sich die Banken bei der Kreditvergabe vorerst weiter zurückhalten. Die Bedingungen am Kreditmarkt deuten darauf hin, dass das Kreditwachstum in den USA sich ins Negative verkehren wird. Die Banken werden sich zunächst auf die Sanierung ihrer Bilanzen und die Tilgung ihrer staatlichen Darlehen konzentrieren und weniger auf die Versorgung der Volkswirtschaft mit Krediten. In jedem Fall wird sich die Kreditaufnahme im Vergleich zu den vergangenen zehn Jahren erheblich verteuern. Längerfristig wird eine steilere Renditestrukturkurve zusammen mit höheren Margen die Profitabilität des traditionellen Bankmodells steigern. Neben dem Schuldenabbau im Finanzsektor müssen aber auch die US-Verbraucher wieder das Sparen lernen und ihre Ausgabenfreude in den Griff bekommen. Das wird zwar die Sparquoten erheblich steigern, aber gleichzeitig den Konsum schwer belasten. (Bei früheren Bankkrisen stiegen die Sparquoten im Laufe der Zeit um bis zu 10 %.) Überdies wird die Kreditkrise insbesondere die Investitionstätigkeit kleiner und mittlerer Unternehmen hemmen, die in der Regel stärker von externen Finanzquellen abhängen. Zu den am stärksten betroffenen Wirtschaftsbereichen zählen auch der Wohnimmobiliensektor sowie der gehobene Konsumgüterbereich.

3. Weniger Wettbewerb

Wie nach dem Platzen der IT-Blase werden auch diesmal wieder eine Reihe von Groß-Unternehmen mit tragfähigen Geschäftsmodellen als Sieger aus der Krise hervorgehen. Die Diskrepanz zwischen leistungsfähigen Playern, die noch stärker werden, und schwachen Akteuren, die aus dem Markt gedrängt werden, wird sich vertiefen. In der Finanzbranche ist der Konsolidierungsprozess bereits in vollem Gang. Größere und stärkere Banken übernehmen ihre schwächeren Wettbewerber, denen es an Kapital und Liquidität mangelt, und können sich dabei der Unterstützung ihrer jeweiligen Regierungen sicher sein. Auch in anderen Branchen werden rückläufige Nachfrage und begrenzter Zugang zu Darlehen kleinere, schwache oder fremdverschuldete Unternehmen bzw. Unternehmen mit ausgeprägtem operativem Hebel besonders belasten. Einige dieser Abstiegskandidaten werden Insolvenz anmelden, andere von größeren Konkurrenten übernommen. Seit jeher sind größere Unternehmen besser für Abschwungsphasen gewappnet. Diejenigen Marktteilnehmer, die die Krise überleben, werden letztendlich vom geringeren Wettbewerb profitieren. Large Caps mit weltweiter Präsenz, starken Geschäftsmodellen und geringer Fremdverschuldung sind hier am besten positioniert. Dazu zählen beispielsweise die Erdölkonzerne, Telekommunikationsanbieter und Versorger. Ihre Fähigkeit, hohe Dividenden auszuschütten, hat eine wichtige Signalwirkung für den Markt und gilt als Ausdruck ihrer Stärke.

4. Konzentration auf Bilanzen

Bilanzqualität und betriebliche Flexibilität werden in den Mittelpunkt des Anlegerinteresses rücken. Davon profitieren vor allem Unternehmen, die

* hohe Free-Cashflows erzeugen, die für die Dividendenpolitik und den Refinanzierungszyklus wichtig sind;
* flexibel genug sind, um ihre Investitionstätigkeit zurückzustellen, ohne dabei ihre Profitabilität zu gefährden;
* nur in geringem Maße konjunkturabhängig sind bzw. einen niedrigen operativen Hebel aufweisen und daher die wohl mindestens ein Jahr andauernde Rezession relativ unbeschadet überstehen können;
* als Branchenführer über Preismacht verfügen.

Wir bevorzugen Unternehmen, die steigende Cashflows mit hoher Präsenz und hohen Dividendenausschüttungen kombinieren. In Anbetracht der oben genannten Faktoren (Konjunkturabhängigkeit und Bilanzstärke) ziehen wir Large Caps Nebenwerten vor. Von gesunden Bilanzen, kräftigen Cashflows und weniger Konkurrenz werden Erdölkonzerne sowie (amerikanische) Pharmakonzerne profitieren. Das trifft auch auf die Sektoren Telekommunikation und Versorger zu. Zyklische Konsumgüter sowie Branchen, die stark vom Capex-Zyklus abhängen, sollten dagegen vermieden werden. Hier muss man damit rechnen, dass sie ihre Investitionstätigkeit angesichts konjunktureller Abkühlung und eingeschränkter Kreditvergabe reduzieren werden.

Der Qualitätsfokus gilt nicht nur für Einzelunternehmen bzw. Sektoren, sondern auch für Länder. In dieser Hinsicht sollte vor allem Ländern mit Leistungsbilanzüberschüssen aus einer Vielzahl von Quellen (nicht allein aus Rohstoff- oder Energieexporten), finanzpolitischer Flexibilität (Steuersenkungen, höhere Infrastrukturausgaben), zinspolitischer Flexibilität, geringer Verschuldung und starker Inlandsnachfrage der Vorzug gegeben werden. Wir müssen daher zwischen Ländern unterscheiden, die ihre Zinsen senken können, und jenen, denen hier infolge von Marktdruck die Hände gebunden sind. Glaubwürdigkeit ist der springende Punkt. China ist ein gutes Beispiel für ein Land, das all diese Kriterien erfüllt.

5. Emerging Markets

Die gegenwärtige Rezession in den Industrieländern könnte sich durchaus weniger stark auf die Schwellenländer auswirken, als dies bei früheren Krisen der Fall war. Dank einer tragfähigen Binnenwirtschaft und höherer finanzpolitischer Flexibilität sind die Schwellenländer jetzt weniger exportabhängig. Die meisten Schwellenländer haben flexible Wechselkurse, verfügen über auskömmliche Devisenreserven und sind jetzt eher in der Lage, Erschütterungen zu verkraften. Zudem weisen die meisten Schwellenländervolkswirtschaften einen geringeren Verschuldungsgrad auf als die Industrieländer. Das gilt sowohl auf Staatsebene als auch auf Ebene der Unternehmen und Privathaushalte. Ferner ist die finanzielle Durchdringung allgemein relativ niedrig. Andererseits reagiert diese Region stärker auf Konjunkturschwankungen. Das ist zum Teil durch ihre Abhängigkeit von Grundstoffausfuhren bedingt. Hier ist das Risiko für Lateinamerika größer als für Asien. Die Länder Asiens sind insgesamt Energieimporteure, weisen Leistungsbilanzüberschüsse, steuer- und geldpolitische Flexibilität, einen geringen Schuldenstand im Verhältnis zum BIP sowie eine kräftige Inlandsnachfrage auf. Insofern illustrieren sie nachdrücklich unsere Ausführungen zur Divergenz zwischen schwächeren und stärkeren Ländern. Der Fokus auf starke Staatsbilanzen könnte sich für einige asiatische Länder wie China und Indien als vorteilhaft erweisen (nicht jedoch für Japan). Länder, die es zu vermeiden gilt, sind die aufstrebenden Märkte in Europa (möglicherweise mit Ausnahme von Russland). Russland mangelt es allerdings im Hinblick auf seine Außenpolitik und Corporate Governance an Glaubwürdigkeit. Zudem hängt das Land weiterhin von seinen Energieerträgen ab.

Bedenkt man, dass der Anpassungsprozess des globalen Wachstumszyklus gerade erst begonnen hat, ist es durchaus sinnvoll, sich zu einem späteren Zeitpunkt erneut an den Emerging Markets zu engagieren. Nach unserem Dafürhalten werden die Schwellenländer aus der gegenwärtigen Wirtschafts- und Finanzkrise strategisch gestärkt hervorgehen. Das ist vor allem auf ihr weiterhin hohes Wachstumspotenzial und die zunehmende Bedeutung ihrer Kapitalmärkte für internationale Investoren zurückzuführen.

6. Höhere Volatilität

Die derzeitige Krise hat bei zahlreichen Anlageformen zu extremer Volatilität geführt. Derartige Schwankungen wurden seit den 1930er Jahren nicht mehr beobachtet. Auch wenn die Volatilität etwas nachlassen wird, muss dennoch mit einer Phase erhöhter Schwankungsintensität gerechnet werden. Das liegt vor allem an den Belastungen im makroökonomischen Umfeld: Hier sind eine Reihe von Insolvenzen zu erwarten, die verschiedene Adressen und Sektoren – vor allem konjunkturabhängige – betreffen. Aufgrund der hohen Volatilität kommt einer gründlichen Betrachtung von Investmentgelegenheiten auf risikoadjustierter Basis besondere Bedeutung zu. Bei Mischportfolios gilt es, der Diversifizierung der verschiedenen Anlageformen besonderes Augenmerk zu schenken. Wir ziehen Asset-Klassen vor, die weniger stark miteinander korrelieren. Das sind beispielsweise Barmittel, Durations- und Absolute-Return-Strategien.

ING Investment Management ist der globale Asset Manager der ING-Gruppe. Mit annähernd Euro 367 Milliarden Euro Assets under Management, vertreten in 38 Ländern gehört die ING Investment Management (ING IM) weltweit zu den Top 30 im Asset Management. ING IM Europe hat Niederlassungen in 17 europäischen Ländern mit ca. 135 Milliarden Euro Assets under Management. ING Investment Management bietet Investmentlösungen für den ING Unternehmensverbund, für ING Versicherungsunternehmen, institutionelle Kunden und Vertriebspartner. Die breite Palette von Investment-Strategien in Kombination mit den Distributionskanälen der ING-Gruppe zu Privatanlegern und institutionellen Anlegern, ermöglicht es ING Investment Management, allen seinen Kunden, sowohl in Europa als auch auf globaler Ebene, integrierte Lösungen im Finanzdienstleistungsbereich anzubieten. Stand Q3 2008.

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